Читать книгу Li - Isabella Maria Kern - Страница 22

Arbeitslos

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Draußen vor dem Bürogebäude musste Peter stehenbleiben. Ihm war plötzlich schwindelig. Er hatte sich oben im Büro selbst nicht wiedererkannt. Er hatte sich jahrelang mit Fleiß und Mühe nach oben gearbeitet und war Leiter einer eigenen Abteilung. War es wirklich notwendig gewesen seinen Job aufzugeben, den er sehr liebte? Eine innere Stimme sagte ihm: „Ja“. Oder war es Lis Stimme?

„Wow“, sagte Li laut.

Peter wiegte den Kopf hin und her.

„Ich weiß nicht, ob das so cool war, Li. Ich bin jetzt arbeitslos.“

„Na und? Schlechter Mensch, dein Chef“, meckerte sie.

„Warum?“, wollte Peter wissen.

„Weil ich es fühle. Menschen sind egal. Er hat hartes Herz“, erklärte sie ihm.

„Er hat einen schweren Job“, versuchte ihn Peter zu verteidigen.

„Nein. Job kann man gut oder schlecht nutzen“, Li klang ärgerlich. Peter sagte nichts. Was kannte Li sich schon aus in dieser Branche.

„Ich kenne Unterschied von gut und böse“, sie wirkte plötzlich selbst böse.

„Ist schon gut, Li“, versuchte er sie zu beschwichtigen.

„Man kann in Zeitung Geschichten schreiben, die Menschen helfen oder man kann schlimme Sachen schreiben, an denen sich Leute freuen, weil böse Dinge nicht ihnen selber passieren sondern anderen auf Kopf fallen“, fuhr sie unbehindert fort.

„Aber gute Geschichten interessieren niemanden. Sie wollen Action, Spannung und Mord. Das interessiert die meisten“, war Peter überzeugt.

„Da bist du ganz sicher?“, Li wirkte explosiv. Peter wusste, dass er sie nicht mehr allzu sehr reizen durfte. Deshalb versuchte er noch einmal zu erklären.

„Menschen sind neugierig, Li. Sie sind froh, wenn es ihnen selbst gut geht. Je schlechter es anderen Leuten geht, desto mehr freut es sie, dass sie in einem schönen, warmen Haus sitzen, genug, mehr als genug, zu essen haben und sich Urlaube leisten können, die in Länder führen, wo Menschen auf der Straße wohnen. Nur hier sehen sie wieder, wie gut ihr eigenes Leben ist. Wenn es gute Menschen sind, dann spenden sie an Weihnachten für Licht ins Dunkel oder für Nachbar in Not. Damit meinen sie, ihre Schuld getan zu haben. Li, es ist so. Du wirst es nicht ändern können. Leute ergötzen sich an den Schicksalen anderer. Und noch mehr Freude bereitet es, wenn die Reichen und Schönen Probleme haben, denn ein perfektes Glück UND viel Geld, das ist keinem gegönnt.“ Li sagte nichts.

„Na, siehst du, ich habe recht!“, triumphierte Peter nach einer Weile.

„Nein. Hast du nicht“, sagte sie trotzig.

Peter verdrehte die Augen. Kleines Mädchen!

„Du schreibst gut, Peter, das weiß ich. Du kannst eine gute Geschichte schreiben. Leute werden sie lesen. Je mehr Menschen gute Geschichten schreiben, desto mehr werden Menschen anfangen, anders denken. Schlechte Geschichten müssen weggehen. Gute mehr werden. Einer muss damit anfangen. Das bist DU!“ Peter beschloss, nichts darauf zu sagen. Er merkte wohl, dass etwas Wahres an Lis Gedanken war. Jeden Tag wurden die Menschen mit negativen Nachrichten regelrecht überflutet. Wie oft hatte er wütend den Fernseher ausgeschaltet, weil er sich danach noch depressiver fühlte als zuvor. Es konnte einem Angst und Bange werden, wenn man die Vorfälle auf dieser Welt beobachtete. Es gab Mord und Totschlag, Verwüstungen, Kriege. Es werden Vermögen ausgegeben für Waffen, aber neben Kriegsschauplätzen verhungern Kinder. Und es gibt nicht einmal das nötige Trinkwasser. Irgendetwas lief da schief. Da hatte Li schon recht. Aber konnte man das ändern?

„Natürlich kannst du etwas ändern. Jeder Mensch kann ändern. Nicht viel. Klein bisschen. Aber jedes klein bisschen ist etwas. Bei uns sagt man: „Jedes Stein das du ins Meer wirfst, verändert das Meer.“

Peter sah sich in Gedanken am Strand stehen. Die Sonne ging gerade unter. Es war eine wundervolle Abendstimmung. Er warf einen Stein ins Meer. Ein kleiner Spritzer war alles, was von dem Stein überblieb. Dann war nichts mehr zu sehen.

„Ungläublicher!“, meckerte Li.

„Ungläubiger!“, verbesserte Peter die gereizte Stimme. Er hatte etwas zu laut geredet, denn die Leute in der U-Bahn, die ihm am nächsten standen, drehten sich alle abrupt zu ihm um und sahen ihn an. Aber als er nichts anderes mehr sagte, wurde er uninteressant und jeder beschäftigte sich wieder mit seinen eigenen Gedanken. Zuhause angekommen merkte er, dass er das versprochene Essen vergessen hatte. Beatrice hatte den rosa Jogginganzug seiner Schwester an und die Haare zu einem Knoten zusammengedreht. Ungeschminkt sah sie beinahe jünger aus, fand Peter, als er ihr lächelnd einen guten Morgen wünschte. Es war erst kurz nach zehn.

„Was machst du schon hier? Ich habe dich nicht vor ein Uhr erwartet.“ Beatrice wurde die Peinlichkeit dieser Worte erst bewusst, als sie sie bereits ausgesprochen hatte. Es hörte sich an, als wären sie ein Paar. Beatrice wurde rot. Peter lächelte weiter. Er wusste genau, was sie dachte.

„Ich bin seit heute arbeitslos!“, sagte er so nebenbei.

„Was?“, Beatrice klang besorgt.

„Das hat nichts mit dir zu tun. Du kannst solange bleiben, bis du neue Papiere und Arbeit hast. Ich habe versprochen, dir zu helfen und das werde ich tun.“ Beatrice fühlte sich nicht wohl und zupfte nervös an ihrer Joggingjacke.

„Ich will dir aber auf keinen Fall zur Last fallen. Es ist mir unangenehm, wenn du wegen mir Schwierigkeiten hast.“ Peter schüttelte den Kopf.

„Es ist nicht wegen dir“, versuchte er sie zu beruhigen. Außerdem fühlte er sich gut. Er hatte es noch nicht bereut. Noch nicht!

„Aber ich dachte du liebst deinen Job?“, sagte sie besorgt.

„Nicht mehr“, sagte er grinsend und ließ sich auf die Couch fallen. Eigenartigerweise fühlte er sich tatsächlich erleichtert. Er zuckte etwas zusammen, als sein Telefon läutete. Am Festnetz rief normalerweise um diese Zeit niemand an. Peter erhob sich langsam und ging dran.

„Hallo?“, sagte er zögernd in den Hörer.

„Herr Magister Brauner?“, er vernahm eine weibliche Stimme.

„Am Telefon“, antwortete er lasziv.

„Hier ist die Polizei. Wir hätten noch ein paar Fragen an Sie, bezüglich Freitagabends. Könnten Sie heute Nachmittag bitte vorbeikommen?“ Peter wurde heiß.

„Weshalb? Ich habe doch schon alles gesagt, was sie von mir wissen wollten“, versuchte er, das Unvermeidliche abzuwenden.

„Es ist nötig, Herr Magister. Wir erwarten Sie gegen vierzehn Uhr. Ist das in Ordnung?“, säuselte die freundliche Damenstimme. Peter nickte und sagte: „Ja, um vierzehn Uhr.“ Ohne „Auf Wiedersehen“ zu sagen, knallte er den Hörer hin.

Was wollten denn die schon wieder von ihm? Er hatte nichts zu befürchten, da Li noch am Leben war bevor er ging und er hatte auch nichts zu befürchten, weil er nachgewiesenermaßen mit Li keinen Sex hatte. Das ergaben die Laboruntersuchungen. Peter atmete tief durch.

„Vermutlich werden sie dich fragen, ob du weißt, wo ich bin“, mutmaßte Beatrice. Dasselbe hatte er auch gerade gedacht. Er musste lügen, um sie zu beschützen. Peter seufzte.

„Tut es dir schon leid, dass du mich aufgenommen hast?“, fragte Beatrice unsicher und zog die Augenbrauen besorgt nach oben, während sie ängstlich auf seine Antwort wartete. Peter ging ihre unterwürfige Art plötzlich auf die Nerven.

„Hör endlich auf damit“, sagte er viel zu unfreundlich und zu laut. Beatrice wandte den Kopf ab. Sie wollte nicht, dass er ihre Tränen sah. Sie war es gewohnt, dass man grob mit ihr sprach. Sie war auch in einer Ausnahmesituation. Es ging ihr gar nicht gut. Sie hatte in ihrem Leben schon eine Menge durchgemacht und sie fiel von einer Abhängigkeit in die nächste. Sie hasste sich dafür. Jetzt saß sie hier und war den Launen dieses Fremden ausgeliefert. Am liebsten wäre sie davongelaufen. Wenn sie nur wüsste, wohin!

„Es tut mir leid, Beatrice“, sagte Peter, als er merkte, dass sie still weinte.

„Es muss schlimm für dich sein. Aber ich bin auch in einem Ausnahmezustand. Ich habe so eine Situation noch nie erlebt. Es wird alles wieder gut, ich weiß es. Aber bitte sei auch mit mir geduldig. Mir fällt schon etwas ein.“ Beatrice nickte still. Sie wollte ihm glauben.

Er hatte noch drei Stunden, bis er zur Polizei gehen musste. Wie konnte er nur in diese blöde Situation geraten? Dazu meldete sich Li: „Ganz einfach. Es sollte so sein. Du glaubst an Zufälle? Gibt es nicht.“ Peter sah sich um. Beatrice blickte wortlos zum Fenster hinaus. Er konnte hier unmöglich mit Li sprechen. Beatrice würde ihn für verrückt halten. Also lenkte er die Unterhaltung auf Beatrice um.

„Glaubst du an Zufälle, Beatrice?“, fragte er sie deshalb. Beatrice drehte sich um und sah ihn fragend an. Sie zuckte die Achseln.

„Warum nicht?“, meinte sie und wandte sich wieder der Straße zu. Eigentlich wollte sie lieber blaue Autos zählen als sich mit Peter zu unterhalten. Doch dieser ließ nicht locker.

„Meinst du nicht, dass alles in unserem Leben vorprogrammiert ist. Ich meine: gibt es nicht so etwas wie einen Lebensplan?“

„Ich habe mir noch nie darüber Gedanken gemacht. Warum? Glaubst du das?“ Jetzt zuckte er mit den Achseln.

„Ich habe einmal so etwas gelesen. In diesem Buch stand, dass jeder Mensch eine bestimmte Aufgabe in seinem Leben erfüllen muss. Aber bis er so weit ist, hat er viele Erfahrungen zu machen. Gute und schlechte. Das meiste ist vorprogrammiert. Es gibt keinen Zufall. Es war somit Bestimmung, dass ich am Freitagabend im „La Nuit“ war.“ Er sah sie erwartungsvoll an, doch sie zählte noch immer blaue Autos. Bisher waren dreizehn vorbeigefahren. Sie hatte zu weinen aufgehört und sah Peter fragend an.

„Und warum sollte der Lebensplan so ungerecht sein?“

„Was meinst du mit ungerecht?“ fragte er sie.

„Warum habe ich meine Eltern so bald verloren und endete im Freudenhaus? Meinst du, ich habe es verdient?“ Peter schämte sich ein wenig.

„Nein, du hast es bestimmt nicht verdient. Aber manche haben es schwerer als andere. Vielleicht erntest du für alle deine Mühen am Ende das Bessere?“

„Ach, Blödsinn!“, warf Beatrice ärgerlich ein.

Sie dachte an die vielen blauen Flecken, die sie von Mario und seinen Freunden abgefangen hatte. Das war doch nicht Gerechtigkeit. Was sollte sie noch Schönes in ihrem Leben erfahren. Verbittert verzog sie den Mund.

„Es tut mir leid. Ich habe nicht richtig nachgedacht. Es war dumm von mir“, entschuldigte sich Peter und erhob sich. Er trat zu ihr ans Fenster.

„Was machst du eigentlich? Zählst du Vögel?“

„Nein!“, Beatrice lächelte matt, „ich zähle blaue Autos.“ Peter sah sie verwundert an.

„Wieso blaue Autos?“ Beatrice zögerte: „Mein Papa hatte ein blaues Auto. Ich weiß nicht einmal mehr welche Marke es war. Es war wunderschön, genau wie meine Mutter. Als Kind saß ich oft am Fenster und wartete auf ihn. Ich zählte alle blauen Autos und schrieb dann auf, wie viel blaue Autos vorbeigefahren sind, bevor mein Papa nach Hause kam.“ Beatrice senkte den Blick. Peter befürchtete, dass sie wieder zu weinen anfangen würde. Schnell fragte er weiter.

„Hattest du eine schöne Kindheit?“ Beatrice nickte.

„Was ist dann passiert?“, fragte er vorsichtig.

„Sie waren gemeinsam unterwegs. Eines Tages ist das blaue Auto nicht mehr nach Hause gekommen. Ich weiß noch genau, dass es an diesem Montag achtundneunzig blaue Autos waren, die vorbeigefahren sind. Ich habe genau gewusst, dass etwas Schlimmes passiert ist. Aber ich habe nicht aufhören können zu zählen.“

„Wie alt warst du, Beatrice?“, fragte Peter leise.

„Ich war zehn.“

„Ein Autounfall?“, es war nur mehr ein Flüstern. Beatrice nickte. „Eine Freundin meiner Mutter nahm mich zu ihr. Sie war sehr lieb. Aber eines Tages wachte sie in der Früh nicht mehr auf. Sie hatte Diabetes und starb an Unterzucker. Ich konnte ihr nicht mehr helfen. Sie fiel ins Koma. Da war ich vierzehn. Von da an, versuchte ich mich allein durchzubringen. Aber ich lernte leider die falschen Freunde kennen, wie du siehst. Ich glaubte an ein besseres Leben… Es war ein Irrtum.“ Sie sah ihm tief in die Augen.

„Findest du das gerecht? Ist das der Lebensplan, der für mich reserviert ist? Schöne Scheiße!“, Beatrice rannte an ihm vorbei zur Toilette. Sie musste sich übergeben. Das passierte ihr häufig. Sie hatte das Gefühl, als würde sie diese schrecklichen Gedanken einfach auskotzen. Danach fühlte sie sich leer und befreit. Ein paar Minuten später kam sie von der Toilette zurück. Peter stand noch immer am Fenster. Fünf blaue Autos waren in der Zwischenzeit vorbeigefahren. Die Sonne kam nun ein wenig durch die dichten Wolken hervor. Stellenweise war der Himmel blau. Es hatte zu regnen aufgehört.

„Magst du spazieren gehen?“, fragte Peter.

„Ich habe Angst. Wenn sie mich sehen?“, fragte sie zaghaft.

„Mario?“ Beatrice nickte.

„Mich kennt er nicht. Und du wirst dich verkleiden.“

„Aber Erwin kennt dich. Er hat dich in dieser Nacht gesehen und weiß, dass du vor ihm bei Li warst.“ Peter überlegte. Dann grinste er.

„Ich habe mich vor ein paar Jahren für eine Faschingsfeier verkleidet. Ich habe die Schachtel mit dem Zeug noch irgendwo.“

Peter ging ins Schlafzimmer. Ganz unten im hinteren Teil seines Kleiderschranks fand er eine Schachtel und kam damit triumphierend ins Wohnzimmer zurück. Er öffnete sie vor Beatrice. Darinnen befand sich eine schwarze Perücke, eine Packung mit fünf verschiedenen Bärten, eine Sonnenbrille aus den Siebzigern, eine dunkelblaue Kappe und ein zerbeulter Hut. Peter nahm den Hut heraus und setzte ihn sich lachend auf. Auch Beatrice musste schmunzeln. Sie hatten noch knappe zwei Stunden Zeit. Bis Schönbrunn waren es nur zehn Minuten mit der Straßenbahn. Es würden genug Leute im Park sein und sie würden keinem Menschen auffallen.

Beatrice musste die Perücke aufsetzen. Zuvor versuchte sie sie noch ein wenig mit einer Bürste in Form zu bringen. Danach sah sie nicht einmal mehr so schrecklich aus. Trotzdem setzte sie eine Baseballkappe darüber auf. Die gefiel ihr besser als der verbeulte Hut. Sicherheitshalber verzichtete sie auf ihre Jeans und zog einen Rock von Klara an. Er war ihr ein bisschen zu weit, aber Klara hatte ja Sicherheitsnadeln mitgebracht. Mit denen behob sie die Differenz. Sie zog dazu eine beige Bluse, die ihr ziemlich bieder schien, an. Klara hatte ihr auch eine Winterjacke geschenkt. Obwohl jetzt schon Frühling war, fand Beatrice, dass sie noch immer passte, denn es ging ein strenger, eisiger Wind. Der Sonne fehlte noch die Kraft, und sie verschwand immer wieder hinter dichten Wolken.

Als Peter wieder aus dem Badezimmer kam, musste Beatrice herzhaft lachen. Peter hatte den Musketierbart gewählt, und dazu setzte er den zerbeulten Hut auf. Er sah ziemlich dämlich aus. Doch es war egal. Schnell verließen sie die Wohnung, um noch zu einem ausgiebigen Spaziergang zu kommen. Li blieb stumm.

Li

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