Читать книгу Li - Isabella Maria Kern - Страница 13
Beatrice war sein Besitz
ОглавлениеBeatrice schloss mit zitternden Händen die Haustüre auf. Der goldene Klingelknopf blitzte in der Abendsonne. Ihr Herz klopfte schnell. Sie wusste, dass Mario nicht so dumm wäre, jetzt hier aufzutauchen, aber nichtsdestotrotz war sie vor Angst beinahe panisch. Er würde ihr die Schuld an dem Ganzen geben. Warum konnte sie nur einen Neukunden zu einer unerfahrenen Nutte schicken, die nichts draufhatte? Er würde zornig werden, sie schlagen. Beim Eintreten wurde ihr übel. Sie warf die Jacke zu Boden und rannte zur nächsten Toilette, wo sie sich übergab. Verzweifelt hielt sie die Hände vors Gesicht. Tränen liefen die Finger entlang. Doch sie rappelte sich wieder auf und lief die Treppe hinauf. Wo waren nur die anderen Mädchen? Alles war still.
Die erste Türe mied sie. Dort hatte Li gelegen. Ihr junger Körper war blutüberströmt. Sie hatte sich nicht mehr missbrauchen lassen, von all diesen Kerlen, die gegen Geld körperliche Liebe forderten. Doch Beatrice konnte nie etwas mit dem Wort „Liebe“ anfangen. Zu manchen Mädchen hatte sie ein ganz besonderes Verhältnis. Es war mehr als freundschaftlich. Beatrice würde sagen, sie liebte sie wie Schwestern. Sie waren ihre Familie. Ihr Herz klopfte immer lauter. Waren denn alle weg? Beatrice riss jede Tür auf. Sie kannte die Betten alle nur zu gut. Wie oft hatte sie darin gelegen und gehofft die Zeit möge schneller vergehen. Nur selten hatte es ihr weniger ausgemacht. Aber das war sehr, sehr selten gewesen. Die meisten Kunden waren ekelhaft. Bierbäuche und Alkohol. Das war ihr tägliches Brot. Am Ende des Ganges führte eine weitere Treppe in das oberste Stockwerk. Dort waren die Gemächer ihres Zuhälters. Mario hatte drei Zimmer für sich allein. Eines davon kannte Beatrice nur allzu gut. Dorthin schleppte er die Mädchen, wenn er Lust oder Wut hatte. Wenn er Lust hatte, dann versuchte er mitunter seine Mädchen zu verwöhnen. Gute Laune stand ihm gut. Er konnte sogar nett sein. Aber wehe, er nahm ein Mädchen zu sich, um sich abzureagieren. Verschreckt und voller Abscheu kamen sie dann wieder aus diesem Zimmer, das schwarz ausgemalt war und in dem nur zwei rote, kleine Stehlampen Licht spendeten. Das Bett war mit einem Tigerfell bedeckt. Am Plafond war ein riesiger Spiegel, in dem er sich und seine „Pferdchen“, wie er sie oft liebevoll nannte, beim Sex beobachten konnte. Sex schien sein Leben zu sein. Er fragte nicht, er nahm. Schließlich sorgte er auch für sie und sie waren sein Besitz. Das durfte nie jemand in Frage stellen.
Beatrice näherte sich leise dem verhassten Zimmer, denn sie hörte Stimmen. Langsam öffnete sie die Tür, die nur angelehnt war. Alle sechs Mädchen waren im Begriff alles zu durchsuchen und das an sich zu nehmen, was einen Wert zu haben schien. Beatrice stand nun hinter ihnen. Melanie stieß einen Schrei aus.
„Mann, hast du uns erschreckt, Beatrice!“, rief sie und kam auf Beatrice zu, um sie an sich zu drücken.
„Wie war es bei der Polizei? Wir haben uns schon Sorgen um dich gemacht.“ Beatrice schüttelte sie ab.
„Was macht ihr hier? Die Polizei hat diese Zimmer ausdrücklich gesperrt. Sie suchen nach Hinweisen, wo sich Mario aufhalten könnte. Ihr dürft hier nicht sein.!“, Beatrice war ärgerlich. Sie wollte keine Schwierigkeiten.
„Nun hör schon auf! Mario hat hier sicher noch eine Menge Geld versteckt. Wir nehmen es und verschwinden!“ Beatrice sah sie ängstlich an.
„Wohin wollt ihr denn? Habt ihr einen Plan? Die werden euch finden!“ Melanie lachte hysterisch.
„Nein, Bea. Keiner findet uns. Wir fahren weit weg. Ich suche mir in Deutschland eine neue Stelle. Die brauchen doch sicher auch Mädchen, oder?“
Beatrice gab es einen Stich in der Brust. Wollte Melanie nicht aussteigen? Wollte sie weiter diesen miesen Job machen?
„Melanie. Du bist jung, du bist hübsch. Das ist unsere Chance. Wir müssen raus hier, raus aus dem Job. Wir haben das Leben noch vor uns. Bitte!“, flehentlich sah sie Melanie an. Diese schüttelte verständnislos den Kopf.
„Aber warum? Uns ist es doch nicht so schlecht gegangen. Immer neue Klamotten, genug zu essen, Alkohol und Partys. Ich habe nichts anderes gelernt. Wir nehmen die Kohle und verschwinden.“
Beatrice ließ den Kopf hängen. Sie dachte, das wäre ihre Chance. Li wollte weg, sie selbst wollte weg. Doch das Einzige, was sie noch so lange gehalten hatte, war die Sicherheit, die ihr dieses Haus gab. Beatrice dachte nach. Seit über fünfzehn Jahren war das ihr zuhause. Sie kannte sich nicht aus in der Welt „da draußen“, wie sie es immer nannte. Das war auch die Sicherheit, die Mario hatte, weil er wusste, sie würde „da draußen“ nicht so schnell zurechtkommen. Beatrice war sechzehn, als Mario sie in Amsterdam völlig verwahrlost aufgegriffen hatte. Eine Freundin, von der sie nicht wusste, dass sie die Geliebte eines Zuhälters war, nahm sie mit nach Holland. Man gab ihr Drogen und machte sie gefügig. Dann brachten sie Beatrice nach Wien. Damals übergab sie sich nach jedem Besuch eines Freiers. Sie wollte gar nicht mehr an diese Zeit denken. Aber Mario hatte ihr beigebracht, wie sie die lüsterne, sexy Lady spielen musste. Schlussendlich gewöhnte sie sich an ihr Leben. Sie war versorgt und sie bekam, was sie wollte. Abgesehen von der Freiheit. Immer wieder hatte ihr Mario eingetrichtert, dass sie nicht allein überlebensfähig wäre und mit den Jahren glaubte sie ihm auch. Auf der anderen Seite waren ihre Kolleginnen, mit denen sie auch eine tiefe Freundschaft verband, zumindest mit einigen, so etwas wie ihre Familie. Oft hatten sie Spaß zusammen, vor allem, wenn Mario nicht da war. Dann fühlten sie sich freier. Beatrice war für das Bordell verantwortlich, wenn Mario „geschäftlich“ unterwegs war. Und meistens war Mario zufrieden mit ihrer Arbeit.
Doch nun stand sie in seinem Zimmer, gemeinsam mit den Mädchen, die versuchten alles zu plündern, was nicht niet- und nagelfest war. Und sie konnte, und sie wollte sie nicht aufhalten. Die Mädchen nahmen nur Geld und Schmuck. Geschäftspapiere, die eventuell die Polizei interessieren konnten, waren ihnen egal. Beatrice verließ das Zimmer. Sie konnte nicht mehr drinnen bleiben. Langsam ging sie die Treppen wieder hinunter. Sie sperrte sich in ihr Zimmer ein, das neben dem von Li lag. Sie sah sich verzweifelt im Zimmer um. Der dicke Teppichboden hatte selten frische Luft bekommen. Es roch nach Rauch. Sie schob die schweren, dunkelroten Vorhänge zur Seite und riss das Fenster auf. Beatrice versuchte tief und langsam einzuatmen, aber sie konnte sich nicht beruhigen. In ihrer Verzweiflung überlegte sie kurz, ob sie nicht aus dem Fenster springen sollte, doch sie wusste, dass sie sich nur verletzen würde, denn es war einfach nicht hoch genug. Unten fuhren um diese Zeit nur mehr wenige Autos vorbei. Es war schon fast dunkel. Nach ein paar Atemzügen ging sie wieder vom Fenster weg. Sie musste etwas tun! Nur was? Beatrice besaß nicht einmal einen Koffer. Nie hatte sie das Haus für längere Zeit verlassen. Gerade zum Friseur und zum Einkaufen war sie mit Mario hinausgegangen, nach „da draußen“. Sie hatte Angst. Was, wenn Mario recht hatte und sie gar nicht überlebensfähig war in dieser Welt? Sie musste nur dienen und präsent sein. Ihr wurde bewusst, dass sie nicht einmal einen Pass hatte. Wo war sie eigentlich geboren? Selbst an ihre Kindheit konnte sie sich in diesem Moment nur vage erinnern. Sie hatte sich verloren. Sie hatte Li und sich selbst verloren.