Читать книгу Li - Isabella Maria Kern - Страница 20

Der Unterschlupf

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Peter hatte auf dem Weg nach Hause eingekauft, um seinen gähnend leeren Kühlschrank etwas aufzufüllen, während Klara im Wagen auf ihn wartete. Zur Sicherheit nahm Klara Nadel und Zwirn und ein paar Sicherheitsnadeln mit, weil sie ahnte, dass Beatrice um einige Kilos weniger auf die Waage brachte als sie selbst. Ein paar Sachen hatte sie allerdings im Kleiderschrank gefunden, die ihr seit mindestens drei Jahren nicht mehr passten, aber weil es einmal Lieblingsstücke waren und Klara hoffte, endlich wieder fünf Kilo abzunehmen, hingen die Sachen noch immer im Schrank und konnten von ihr nicht getragen werden. Klara wusste, dass es für einen guten Zweck war, also nahm sie sie freudig aus dem Kleiderschrank und packte alles zusammen in einen Koffer, den sie Beatrice ebenfalls schenken wollte. Theo und sie hatten zusammen mindestens zehn Koffer. Es spielte keine Rolle, wenn einer fehlte.

Schließlich saßen Beatrice und Klara an einem Tisch und unterhielten sich über Mode. Peter versuchte so gut wie möglich ein Sugo aus Faschiertem, Zwiebeln, Karotten und Tomatensauce herzustellen. Er hatte wieder einmal Lust auf eine warme Mahlzeit. Beatrice bot ihm ihre Hilfe an, die er aber dankend ablehnte. Beatrice war entzückt über die Sachen, die ihr Klara mitbrachte. Da Klara ein von Natur aus aufgeschlossener und neugieriger Mensch war, konnte sie sich blendend mit jedermann unterhalten. Sie wurde immer vertrauter mit Beatrice und fragte sie auch nach Einzelheiten über ihr Leben im Freudenhaus. Sie wollte wissen, wie viele Tage in der Woche die Mädchen zu „arbeiten“ hatten, ob es auch Mädchen gab, die diesen Beruf aus freien Stücken gewählt hatten und ob sie auch so etwas wie „Ausgang“ oder Urlaub hatten. Beatrice antwortete ihr breitwillig auf all diese Fragen und auf einmal wurde ihr schmerzlich bewusst, wie armselig ihr Leben war. Sie hatte so gut wie nie allein auf die Straße dürfen. Entweder war Mario mit dabei oder einer seiner Aufpasser. Mario traute keinem seiner Mädchen.

Beatrice konnte sich nur an ein einziges Mal erinnern, wo sie mit Marina einen Nachmittag lang einkaufen war. Marina war damals noch im „La Nuit“ tätig und sie war Marios Cousine und hatte denselben harten Charakter wie er. Wohl deshalb hatte Mario Vertrauen zu ihr und ließ beide gemeinsam weggehen. Marina zog mit einem von Marios Freunden nach Hamburg. Irgendwo auf der Reeperbahn wurde sie einmal von einer Kollegin gesehen, die berichtete, dass Marina abgemagert und kaputt aussah. Vermutlich war sie auf Drogen und mit dem Leben fertig. Beatrice lief es kalt über den Rücken. Wie armselig!

Sie merkte, wie plötzlich die Erinnerung an Amsterdam in ihr hochkam. Damals, als sie Mario das erste Mal traf. Er hatte ihr versprochen, sie „aus der Gosse“ zu holen. Er hatte ihr Arbeit versprochen und schöne Kleider. Weiters versprach er ihr, nie mehr hungern zu müssen. Er hatte ihr ein schöneres Leben versprochen. Und sie hatte ihm geglaubt. Mit knapp sechzehn Jahren. Klara merkte, dass sie in düstere Gedanken abschweifte und versuchte, sie wieder etwas aufzuheitern.

„Was wäre, wenn wir zwei einmal einen Einkaufsbummel machen würden?“, fragte sie und sah ihr dabei fest in die Augen.

„Ich bin zwar aus dem „La Nuit“ raus, aber jetzt sitze ich im nächsten Gefängnis. Ich habe keine Arbeit, kein Geld, keinen Pass und Mario und seine Freunde sind hinter mir her. Zu allem Überfluss hat die Polizei gesagt, ich soll mich für etwaige Fragen bereithalten. Nun sitze ich hier in der Falle.“ Beatrice biss sich auf die Lippen. Es war dumm von ihr, so etwas zu sagen.

„Wir werden uns etwas einfallen lassen“, erwiderte Klara rasch und sah Beatrice dabei nicht an. Es würde dauern.

Peter hatte in der Zwischenzeit die Spaghetti fertiggekocht und präsentierte stolz das Resultat seiner Kochkünste. Die beiden Frauen nahmen sich jede eine ordentliche Portion. Vor allem Beatrice hatte einen Mordshunger. Abgesehen von dem Stück Salami, das sie morgens mit einem Brot zu sich genommen hatte, hatte sie noch keinen Bissen gegessen. Sie spürte, wie der Magen knurrte und so schlang sie die ersten Spaghetti gierig hinunter. Schon nach ein paar Bissen fühlte sie sich wohler und begann die warme Mahlzeit in vollen Zügen zu genießen. Peter freute sich, dass den beiden Frauen das Essen schmeckte. Er hatte auch noch frischen Parmesan gekauft, den er ihnen in großen Stückchen auf die Pasta rieb. Sogar eine Schüssel mit frischen Salat stand sorgfältig zubereitet auf dem Tisch. Nach dem Essen servierte er Kaffee und einen fertigen Kuchen, den er zu besonderen Gelegenheiten zu kaufen pflegte. Seine Wohnung sah viel netter und wohnlicher aussah, wenn sie mit Menschen gefüllt war und ihm wurde schmerzlich bewusst, wie einsam er war. Klara lächelte ihn an und machte ihm ein Kompliment über seine Kochkunst. Peter lächelte zurück. Mein Gott, wie dumm war er gewesen! Er hatte eine Schwester. Eine ausgesprochen nette Schwester. Er hatte sie oft gemieden und nicht einmal richtig wahrgenommen. Aber warum war das so?

„Frag sie einfach!“, meldete sich eine feine Stimme. Peter biss sich auf die Lippen.

„Warum haben wir kein gutes Verhältnis gehabt? Bis jetzt?“, wandte er sich abrupt an Klara und hörte auf zu essen. Klara kaute weiter und sah ihn verwundert an. Sie überlegte. Nach einer Weile meinte sie:

„Du warst immer mein großer Bruder. Ich hatte als Kind großen Respekt vor dir. Aber du hast mich nie besonders beachtet. Du hast mir auch deine Freundinnen nie vorgestellt, oder nur so nebenbei. Ich dachte immer, dass du kein Interesse an mir hast.“

Sie machte eine kleine Pause. Peter wartete. Nachdem sie einen Schluck Wasser getrunken hatte sprach sie weiter:

„Wenn ich ehrlich sein soll: du hast dich in den letzten Jahren einen Dreck um mich geschert. Nein, du hast dich zu einem sehr unsympathischen, egoistischen Menschen entwickelt. Ehrlich gesagt, hatte ich auch kein Interesse mehr, mich mit dir zu treffen. Du hast nur oberflächliche, arrogante Reden geschwungen. Das war mir einfach zu müßig, mich damit auseinanderzusetzen. Von deinem Ordnungswahn abgesehen. Das war krank. Wie ist es nur so weit gekommen?“ Peter sah seine Schwester ungläubig an.

„Bin ich wirklich so ein schrecklicher Mensch geworden?“ Klara nickte eifrig und sog eine Nudel mit einem lauten Geräusch ein. Beatrice sah schweigend von einem zum anderen.

„Aber weißt du?“, fuhr Peter fort und legte die Gabel beiseite.

„Ich habe mich von dir und deinem Mann auch nicht akzeptiert gefühlt. Ich war verdammt einsam in den letzten Jahren. Seit meine letzte Beziehung zerbrochen ist, lebe ich hier allein. Ich war so enttäuscht, denn ich habe Julia wirklich geliebt. Ich dachte, dass ich nie wieder eine Frau in mein Leben lasse. Ich habe mich in meinem Schneckenhaus verkrochen und meine Krallen ausgefahren, sobald sich mir ein weibliches Wesen näherte. Manchmal habe ich eine mit in meine Wohnung geschleppt. Am nächsten Morgen hatte ich einen Kater und keine Ahnung mehr, wie sie hieß. So etwas ist mehr als peinlich. Nach dem Kaffee habe ich sie dann sofort wieder vor die Tür gesetzt.“ Er sah beschämt auf seinen Kuchenteller. So etwas hätte er früher nie zugegeben. Schon gar nicht vor zwei Frauen.

„Das Einzige, was mir Befriedigung verschaffte, war meine Ordnung. Jetzt ist mir aber klar, dass es nur eine Zwangsneurose ist. Aber seit drei Tagen ist sie weg. Sie ist einfach weg!“

Peter hob beide Hände zum Himmel und lachte. Er sah hinauf auf den Plafond. Li konnte ihn bestimmt lachen sehen. Peter konnte fast nicht aufhören zu lachen. Die beiden Frauen sahen sich verwundert an. Doch dann mussten sie mitlachen. Nachdem sie sich wieder beruhigt hatten, setzte Peter fort, seine Gefühle mitzuteilen:

„Klara, es tut mir leid, dass wir so viele Jahre sinnlos vergeudet haben, ohne wirklich miteinander zu sprechen.“ Er nahm ihre Hand.

„Ich möchte, dass es ab jetzt anders wird. Ich habe dich lieb, kleine Schwester, was ich erst in den letzten Tagen gemerkt habe. Bitte nimm mich wieder als großen Bruder an.“

In seinen Augenwinkeln schimmerte es feucht. Klara war gerührt. Nie hätte sie gedacht, dass ihr arroganter Bruder zu solchen Gefühlen fähig wäre. Sie drückte seine Hand und nickte stumm.

„Ich weiß, dass ich jetzt anders bin. Ich weiß aber nicht genau, was passiert ist. Es ist alles anders. Ich fühle mich anders. Ich habe Angst, ich fühle Freude, dass sich etwas geändert hat, aber ich weiß noch nicht, in welche Richtung es führen wird. Ich möchte etwas verändern in dieser Welt. Ich spüre, dass ich dazu fähig bin. Aber ich bin noch so ahnungslos. Ich weiß nicht, was das für ein Spiel ist. Aber ich habe das Gefühl, ich stecke bereits mittendrin.“ Er sah zu Beatrice, die auf ihren leeren Teller starrte. Er hatte eine wildfremde Frau zu sich in die Wohnung genommen, eine Prostituierte, die mit Nichts dastand und selbst verzweifelt war. Er hatte ihr Hilfe angeboten, obwohl er wusste, dass es ihm an den Kragen gehen würde, falls gewisse Leute davon Wind bekamen. Aber es war ihm egal. Er merkte, dass alles, was jetzt kommen würde, tausendmal besser war als sein Leben, das er bis vor drei Tagen noch geführt hatte.

Li

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