Читать книгу Li - Isabella Maria Kern - Страница 11
Auf der Polizeiwache
ОглавлениеKeiner der Polizisten sah auf, als Peter den Raum betrat. Jeder saß an seinem Schreibtisch. Einer telefonierte, der andere aß seine Jause und studierte einen Bericht und der Dritte unterhielt sich mit einem Zivilisten. Eine Tür öffnete sich und ein weiterer Polizist betrat den Raum. Durch den Spalt sah Peter eine Frau sitzen. Sie kam ihm bekannt vor. Blass, dünn. Beatrice? Die Frau, die ihm die Tür geöffnet hatte? Ihre Haare trug sie offen. In jener Nacht hatte sie sie kunstvoll hochgesteckt. Jetzt trug sie einen Rollkragenpullover. In jener Nacht ein Negligée.
Vielleicht war sie es auch gar nicht.
Ein Polizist kam auf Peter zu.
„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte er freundlich aber distanziert. „Ich, ähm. Ich bin Peter“, war alles, was ihm auf Anhieb über die Lippen kam. Er überreichte dem Polizisten ein Schreiben, das sein Schwager für ihn aufgesetzt hatte. Darin erklärte Theo, dass Peter sein Mandant war und dass die Polizei Peter den Brief der Verstorbenen aushändigen sollten. Der Polizist las den Brief sorgfältig und sah Peter dann abfällig an. Peter wusste, was er dachte: Kinderschänder!
„Ich habe dazu aber Einiges zu sagen“, versuchte Peter sich gleich zu verteidigen.
„Warten Sie hier einen Augenblick. Dann werden Sie schon noch reichlich die Gelegenheit dazu haben.“ Peter war etwas mulmig zumute. Der Polizist, der zuvor aus dem Raum gekommen war, in dem die Frau saß, ging nun wieder hinein. Peter versuchte noch einmal einen Blick auf sie zu werfen. Aber er sah sie nicht, weil der Körper des Polizisten die Sicht ins Innere des Raumes versperrte. Aber nach einer Weile wurde auch Peter in dieses Zimmer geführt. Diese Frau sah ihn beim Eintreten an. Aber Peter war sich nun nicht mehr sicher. Sie schien noch viel dünner zu sein, als er sie in Erinnerung gehabt hatte. Der schwarze Rollkragenpullover machte sie noch blasser. Aber sie schien ihn zu erkennen und nickte ihm fast unmerklich zu. Es war Beatrice. Unfreundlich forderte man Peter auf, Platz zu nehmen. Doch immer wieder bestärkte er sich in seinen Gefühlen, dass er nichts Schlimmes getan hatte. Er musste sich für nichts schämen.
„Woher haben Sie Li gekannt?“ fragte der eine Polizist. Peter konnte diese dumme Frage kaum glauben. Er schluckte seinen Ärger hinunter.
„Ich war in der Nacht von Freitag auf Samstag im Bordell „La Nuit“. Madame Beatrice hat mir die Tür geöffnet und Li vorgestellt. Ich bin mit ihr aufs Zimmer gegangen. Doch es ist nichts passiert. Ich schwöre bei meinem Leben“, berichtete er wahrheitsgetreu. Der dickere der beiden Polizisten lachte dreckig.
„Erzählen Sie das Ihrer Großmutter! Warum waren Sie sonst dort. Um eine Gute-Nacht-Geschichte zu hören?“ Peter war bewusst, dass sich seine Aussage realitätsfremd anhörte, aber er ließ sich nicht gerne verarschen und betonte umso eindringlicher:
„Nein. Ich hatte keinen Geschlechtsverkehr mit Li. Ich habe sie gesehen und mir fiel auf, dass sie sehr traurig und vermutlich nicht volljährig war. Und da ich das erste Mal in meinem Leben in einem Puff war, und ich nicht wusste, was mich erwartete, verging mir auch schnell die Lust. Ich habe versprochen, ihr zu helfen“, sagte er. Jetzt lachte der andere.
„Wolltest ihr wohl noch etwas beibringen, der Kleinen, nicht? War das deine Art von Hilfe?“ Peter lief rot an vor Zorn. Da fiel ihnen Beatrice ins Wort.
„Es ist wahr, was er sagt“, meinte sie.
„Rede nur, wenn du gefragt wirst, Nutte!“ Es war Johann, der so mit ihr redete. Er hatte ihr „mildernde Umstände“ versprochen, wenn sie ein bisschen mit ihm „zusammenarbeitete“, wie er es nannte. Doch nachdem Beatrice eine Lizenz und nichts mit dem Tod ihrer Kollegin zu tun hatte, ließ sie ihn kaltblütig abblitzen, was Johann ihr nicht verzieh. Doch das war Beatrice egal. Da war sie Schlimmeres gewohnt. Peter wurde heiß, bei diesen Worten. Er mochte die beiden Polizisten nicht! Aber der andere schien sich doch für das zu interessieren, was Beatrice zu sagen hatte:
„Woher weißt du das?“ Sein Ton war nicht unfreundlich.
„Li hat es mir erzählt, nachdem er gegangen war. Sie hat gesagt, dass er nicht mit ihr geschlafen, aber trotzdem bezahlt hat. Für Li war ich so etwas wie eine Vertraute. Aber wenn Peter ihr nicht geholfen hätte…“, sie senkte den Kopf, „ich hatte auch schon einen Plan, obwohl es für uns beide sehr gefährlich gewesen wäre.“ Man sah ihr an, dass es nicht leicht für sie war, darüber zu sprechen. Jetzt wandte sie sich an Peter:
„Li hat einen Brief für dich hinterlassen“, sie sah Johann argwöhnisch an, „die Polizei hat ihn.“ Peter wandte sich an den Freundlicheren der beiden.
„Kann ich ihn jetzt sehen?“
„Der Brief wird gerade überprüft. Sie können ihn dann bestimmt haben. Doch das wird bis morgen dauern“, bekam er als Antwort. Peter war sehr aufgewühlt. Er machte sich schon die ganze Zeit Gedanken darüber, was sie wohl geschrieben hatte. Sie würde ihn doch nicht irgendwie belasten? Schließlich kannte er sie ja gar nicht. Instinktiv spürte er, dass er nichts zu befürchten hatte. Er atmete tief durch. Die Polizisten fragten noch nach einigen Details und eine Stunde später waren Beatrice und Peter wieder auf der Straße. Beatrice blieb stehen und zog Peter am Ärmel. Sie wirkte zerbrechlich und sah aus, als würde sie jeden Moment kollabieren. „Warte, bitte. Ich möchte dir noch etwas sagen.“
Peter blieb stehen. Er kam sich irgendwie seltsam vor, wusste er doch, dass er vor einer „Professionellen“ stand. Er musste dauernd daran denken, was sie für einen Beruf ausübte. Irgendwie war sie für ihn keine normale Frau. Er verachtete sie nicht dafür, aber er konnte auch nicht wirklich Respekt für sie empfinden.
„Was?“ fragte er kurz angebunden.
„Li sagte mir, dass du ihr helfen wirst. Und dass sie dich überall hinbegleiten wird. Sie meinte, du bist ihr Freund, und sie hatte noch nie einen Freund. Ich habe nicht ganz verstanden, was sie damit meinte. Ich verstehe auch nicht, warum sie sich umgebracht hat, wo sie doch so sehr daran glaubte, dass du ihr hilfst. Ich verstehe es einfach nicht, sie war so jung, so wunderschön, ich habe sie sehr gemocht…“ Beatrice wischte eine Träne weg.
„In letzter Zeit war es nicht mehr auszuhalten in unserem Haus. Mario war ständig betrunken und hat uns gequält. Mich weniger, er brauchte mich,“ sie spukte auf den Boden, „aber Li hat er ständig geschlagen, denn sie tat nicht immer, was er ihr befohlen hatte. Außerdem spielte sie ihren Kunden nicht die lustvolle Dirne vor, das konnte sie nicht. Einige Freier hatten sich beim Chef über sie beschwert. Dafür musste sie büßen. Aber sie hat immer nur still geweint. Sie hat sich nicht beschwert. Nie.“
Beatrice konnte nicht weitersprechen. Ein dicker Kloß steckte in ihrem Hals. Sie dachte an das kleine Mädchen, und sie konnte sich gut in ihre Lage versetzen. Es war schrecklich. Gott sei Dank war Mario weg. Er war untergetaucht. Aber er konnte auch jederzeit wieder zurückkommen. Peter wusste nicht, was er zu ihr sagen sollte. Eine Weile schwiegen beide. Beatrice betrachtete intensiv ihre Schuhspitzen.
„Und was wird jetzt aus dir?“, fragte er zögerlich und war tatsächlich an der Antwort interessiert. Beatrice schaute ihn an und zuckte die Achseln.
„Keine Ahnung. Ich mache mir eher Sorgen um meine sechs Kolleginnen. Keine hat eine eigene Wohnung oder sonst eine Unterkunft und keine Ausbildung. Das Haus gehört Mario. Er wird sicher wieder bei uns auftauchen. Also müssen wir weg. Mir wird schon etwas einfallen.“ Peter nickte.
„Jetzt müssen wir noch hierbleiben, um der Polizei für Fragen zur Verfügung zu stehen. Dann wird sich schon etwas ergeben.“ Sie wirkte stark und zerbrechlich zugleich. Peter wollte gehen. Er wollte nach Hause.
„Ich wünsche dir alles Gute“, was anderes fiel ihm nicht ein. Beatrice reichte ihm die Hand.
„Ich danke dir“, sagte sie und lächelte ihn an.
„Wofür?“, fragte Peter irritiert.
„Dafür, dass du Respekt vor einer Hure gezeigt hast. Jeder andere hätte Li benutzt und noch mehr gedemütigt. Du hast ihr – wenigstens für ein paar Stunden – Hoffnung gegeben und ihr gezeigt, dass nicht alle Männer, die zu uns kommen, Schweine sind.“
„Es tut mir so leid, dass ich zu spät gekommen bin. Ich hätte ihr so gerne geholfen. Sie war ein Kind.“
Beatrice dreht sich um, wankte ein wenig, und schritt erhobenen Hauptes in Richtung U-Bahn. Peter seufzte noch einmal und ging in die entgegengesetzte Richtung. Seine Gedanken drehten sich im Kreis. Es war so ungerecht! Wie war Li da hineingerutscht? Rasch sah er sich um. Beatrice war noch in Sichtweite. Er rannte ihr nach.
„Warte“, doch sie drehte sich nicht um. Noch lauter rief er: „Beatrice, warte, bitte.“
Sie blieb stehen. Peter hatte sie nach einer Weile eingeholt. Er trat vor sie hin. Beatrice ließ den Kopf gesenkt. Erst als er sie ansprach, hob sie ihn und schaute ihm ins Gesicht. Ihre Augen waren rotgeweint, und noch immer rannen ihre Tränen haltlos über ihr hübsches Gesicht. Verzweifelt versuchte sie, sie wegzuwischen, doch es wollte ihr nicht gelingen. Es waren einfach zu viele. Peter stand etwas hilflos neben ihr und wusste nicht, was er sagen sollte. Dann kramte er ein zerknittertes Taschentuch aus seiner Hosentasche. Er hielt es ihr wortlos hin. Beatrice griff danach und schnäuzte kräftig hinein. Sie schluchzte noch immer. Peter legte ihr eine Hand auf die Schulter. Eine Weile standen sie so da. Leute gingen vorbei und warfen einen verstohlenen Blick auf das Paar, fragten sie sich wohl, warum die Frau so sehr weinte. Peter fing einen strafenden Blick einer alten Frau auf. Vermutlich meinte sie, er wäre schuld an ihrem Elend. Peter wollte nicht mehr länger ein Blickfang für die vorbeieilenden Passanten sein.
„Es gibt ein nettes Lokal hier in der Nähe, darf ich dich auf einen Kaffee einladen? Ich möchte dich etwas fragen“, schlug er deshalb vor. Beatrice sah ihn verwundert an. Sie hörte plötzlich auf zu schluchzen. Ein Anflug eines Lächelns erhellte für einen Augenblick ihr Gesicht. Sie überlegte kurz und war sich sicher, dass sie noch nie in ihrem Leben eine Einladung von einem Mann bekommen hatte, der nichts von ihr wollte. Doch dann sah sie ihn noch einmal misstrauisch an. Oder wollten sie das nicht alle? Nein, dieser hier war anders. Sie nickte. Sie gingen schweigend nebeneinander. Peter fühlte sich etwas hilflos, weil sie noch immer von Zeit zu Zeit schnäuzte. Doch dann hielt er die Stille nicht mehr aus.
„Warum hat Li so gut deutsch sprechen können, wenn sie erst ein paar Wochen hier war?“, wollte er wissen.
„Es wundert mich, dass mich das die Polizei nicht gefragt hat“, sagte sie und lachte etwas abfällig, denn sie musste an Johann denken, der offensichtlich an etwas anderes dachte, als daran, sie zu verhören. In Beatrices Inneren wurde es ganz kalt. Sie spürte, wie etwas erstarrte. Dieses Gefühl kannte sie gut.
„Und?“ Peter war neugierig.
„Mario hat viele Freunde. Ihr habt keine Ahnung, wie dieses Geschäft läuft.“ Wieder lachte sie höhnisch. Peter erschauerte.
„Einige der netten Jungs sind darauf spezialisiert junge Mädchen auf den Markt zu bringen. Asiatinnen und Russinnen sind besonders gefragt. Das Ganze läuft nach einem bestimmten Schema ab.“
Sie waren jetzt beim Lokal angekommen. Beatrice unterbrach ihre Erzählungen und wartete, bis sie an einem Tisch beim Fenster Platz genommen hatten. Geschäftsleute und Studenten waren hier Stammgäste. Man konnte auch gut und günstig essen. Peter kam manchmal hier her, wenn er in der Nähe war. Er fühlte sich wohl hier. Meistens saß er und las in einer der vielen Zeitungen oder Zeitschriften, die sich auf einem großen Tisch in der Mitte des Raumes stapelten. Das war mitunter ein Grund dafür, dass Peter dieses Lokal mochte. Es interessierte ihn sehr, was andere Zeitungen schrieben. Er selbst war zuständig für den Lokalteil von einer der größten Zeitungen der Stadt. Seit etwa fünf Jahren leitete er seine Abteilung und war damals der jüngste Chef in dieser Branche. Doch Peter war nicht zufrieden. Vielleicht lag es aber auch daran, dass es nur wenig Positives zu Schreiben gab. Der Großteil handelte von Raub, Mord- und Totschlag oder Skandalen. Peter schüttelte den Kopf. Darüber wollte er jetzt gar nicht nachdenken. Er fragte sein Gegenüber, was sie gerne trinken möchte und bestellte zwei Cola.
„Möchtest du etwas essen?“, Peter reichte Beatrice die Speisekarte. Zaghaft griff Beatrice danach. Unsicher sah sie ihn an. Peter merkte erst jetzt, wie schüchtern diese Frau eigentlich war. Er musste an ihre erste Begegnung denken. Vor ein paar Tagen hatte sie ihm die Tür geöffnet, in einem Bereich, der für ihn neu und unheimlich war. Sie hatte sich aber wohl gefühlt in ihrem Metier. Es war ihr Revier. Doch jetzt schien es genau umgekehrt zu sein. Peter musste unwillkürlich an Vampire denken, die in der Sonne nicht leben konnten. Er lächelte Beatrice an. Sie war blass und tat ihm irgendwie leid.
„Ich nehme einen Schweinsbraten mit Kraut und Semmelknödel. Und du?“ Beatrice sah ihn erstaunt an, so als hätte sie das Wort Schweinsbraten noch nie gehört.
„Ich esse nichts, danke“, sagte sie hastig.
„Hast du heute überhaupt schon etwas gegessen? Du siehst blass aus. Ich lade dich ein.“ Er wollte sie überreden, mit ihm zu essen. Beschämt sah ihn Beatrice an.
„Weißt du, es ist schwierig für mich, eine Einladung von einem Mann anzunehmen. Das mache ich normal nur im Zusammenhang mit meinem Job.“ Peter konnte ihr nicht gleich folgen. Aber er meinte schon zu wissen, was sie dachte.
„Ich lade dich nur zum Essen ein, weil es allein keinen Spaß macht. Es ist ein Essen, um nicht hungern zu müssen, nichts sonst.“ Sein Blick war offen und ehrlich. Beatrice nickte.
„Einen Salat mit Hühnerstreifen bitte“, sagte sie, ohne ihn anzusehen. Nachdem der Kellner ihre Wünsche aufgenommen hatte, waren sie wieder allein.
„Du wolltest mir erzählen, wie Li nach Österreich gekommen ist und warum sie so gut deutsch sprechen konnte“, erinnerte er an den wahren Grund ihres Beisammenseins. Beatrice schien sich zu konzentrieren, dann begann sie aufs Neue:
„Diese Typen sind darauf spezialisiert, hübsche Mädchen aus armen Familien zu finden und sie und ihre Eltern zu überreden, mit ihnen in den Westen zu kommen, um ein schöneres Leben führen zu können. Sie schwärmen ihnen von Schulen und Ausbildungsplätzen vor. Die Mädchen werden vor ihren Eltern wie kleine Prinzessinnen behandelt. Man spricht von Anwältinnen, Designerinnen, Ärztinnen und lauter solchen Berufen. Um so ein Mädchen anzuheuern, bleiben die Männer oft monatelang bei deren Familien. Sie bekommen jeden Tag Studierstunden. Es wird ihnen deutsch beigebracht und gutes Benehmen. Sie erhalten eine richtige Ausbildung. Westliche Umgangsformen, Benimmregeln, Tanzen und so weiter. Kein Mensch würde vermuten, was sie wirklich im Schilde führen. Es klingt zu schön, um wahr zu sein.“
Sie senkte den Blick. Alles kam in ihr hoch. Eine unbändige Wut erfasste sie.
„Warum weißt du das alles?“, fragte Peter fassungslos.
Beatrice sah auf: „Ich war so eine Art Vertraute von Mario. Er hat es mir erzählt. Doch dann hat er es bereut, dass er es mir erzählt hat und hat mir dafür die Hand gebrochen.“ Das wiederum sagte sie etwas emotionslos, fand Peter.
„Unabsichtlich, sagte er“, fuhr sie fort.
„Li war die Jüngste, die er je brachte. Oft wurden sie dann von unserem Bordell in andere Häuser, an Freunde von Mario, verkauft. Aber dafür, dass sie Mario noch richtig „hingebogen“ hat – wie er es immer nannte – verlangte er noch dreitausend Euro mehr.“
„Und wie viel bekamen die Familien dort? Li erzählte mir, dass sie teuer war.“ Beatrice lachte höhnisch.
„Diese Schweine! Nicht einmal tausend Euro wird für so ein Mädchen bezahlt. Sie begründen es damit, dass sie schon einen Aufwand damit hatten, dass sie den Mädchen deutsch beigebracht hatten und dass die Schulkosten in Österreich hoch sind. Ich weiß nicht, wie sie das so glaubhaft hinbekommen, aber sie schaffen es immer wieder. Die Leute fallen auf all diese Lügen hinein.“ Peter hörte ihr mit offenem Mund zu.
„Und was passiert dann? Ich meine, hat nie ein Mädchen versucht zu fliehen? Oder hat nie eine ihre Familie um Hilfe gebeten?“
„Die, die versucht haben zu fliehen und die dabei erwischt wurden, habe ich nächtelang vor Schmerzen schreien gehört. Ich wollte nie genau wissen, was sie mit ihnen angestellt haben. Auf jeden Fall hatten sie danach keine Lust mehr, es wieder zu versuchen. Sie hatten viel zu viel Angst. Nur einer ist es bis jetzt gelungen wirklich unterzutauchen. Ich habe nie wieder etwas von ihr gehört. Den Familien der Mädchen hat Mario alle zwei Monate ein wenig Geld geschickt, damit sie nicht Verdacht schöpften, und einen Brief von den Mädchen, in dem sie vorgaukelten, Karriere zu machen. Den Brief schrieb er mit dem Computer und zwang sie dann, ihn zu unterschreiben.“
Peter stocherte lustlos in seinem Essen herum, das der Kellner vor ein paar Minuten gebracht hatte. Was waren das für Menschen? Beatrice aß schweigend ihren Salat.
„Warum machen die das?“ fragte Peter plötzlich in einem viel zu lauten Ton. Die Leute ringsherum hoben ihre Köpfe und sahen in ihre Richtung.
„Geld und Macht“, war die knappe Antwort von Beatrice. Sie zuckte dabei hilflos mit den Achseln.
„Aber da muss noch mehr sein. Was ist schon Geld und Macht!“, widersprach Peter verständnislos.
„Die Jungs, die so etwas machen, kommen aus ziemlich miserablen Familien. Gewalt ist an der Tagesordnung. Manchmal habe ich das Gefühl, sie haben kein Herz. Es geht um Machtausübung gegenüber Schwächeren. Um Unterdrückung, Rache, Hassgefühle… ich weiß nicht genau. Ich habe mir oft Gedanken darüber gemacht, glaube mir. Das Schlimmste sind nicht die Freier, die für unsere Dienste fair bezahlen, sondern die Freunde von Mario - sogenannte Geschäftsfreunde - die uns umsonst bekommen. Vor denen habe selbst ich Angst, obwohl ich schon lange in diesem Geschäft bin. Wie wird es da wohl jemanden wie Li gegangen sein?“ Sie schüttelte den Kopf, als könnte sie dadurch ihre Gedanken von sich schleudern. Peter fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. Er schämte sich sogar dafür, ein Mann zu sein. Er wollte sich entschuldigen. Aber für was? Peter nahm einen Schluck Cola. Das erste Mal in seinem Leben hatte er das Bedürfnis, dass er helfen wollte. Noch nie hatte er dieses Gefühl verspürt. Er war eher der Meinung, dass sich jeder selbst helfen sollte. Nichts ging ihn etwas an. „Jeder ist seines Glückes Schmied“, war seine Devise. Aber gab es nicht doch Ungerechtigkeiten, die ausgeglichen gehörten? Gab es nicht doch Schwache, die auf die Hilfe der Mitmenschen angewiesen waren?