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Die Industriebrache

System: 1654-Z65-7559-MM08-2884

Interner Systemname: Tauros

Zeitrechnung: Jahr 23 nach der Ankunft (n.d.A.), 28. Woche

Berichterstatterin: Eyra (nachgetragen)

Langsam gewöhne ich mich daran, dass ich in Ruhe gelassen werde. Thanats Anwesenheit ist mittlerweile normal. Weil er wegen seiner imposanten Erscheinung und seiner Machtdemonstration am zweiten Tag kein so einfaches Opfer ist wie ich, lässt man ihn in Ruhe. In seinem Kielwasser passiert auch mir nichts. Mittags hängen wir mit Dani ab. Schule kann auch schön sein.

Nur die Privaten schauen häufig böse rüber. Thanat hat sie noch einige Male sehr, sehr vehement in die Schranken verwiesen, wenn sie andere Schüler gequält haben. Seitdem herrscht Ruhe an der Schule. Logisch, dass Thanat nun der Held der Unterdrückten ist. Es ärgert die Privaten sichtlich, dass sie nicht mehr an mich heran kommen. Ehrlich gesagt, bin ich deswegen kein bisschen traurig. Meine Eltern sind viel entspannter. Neulich hat meine Mutter gesagt, sie möchte Thanat gerne mal kennen lernen. Ich bringe einen Jungen mit nach Hause. Das wäre eine Premiere. Aber ist Thanat SO ein Freund? Sicher, er ist immer höflich und aufmerksam. Und ich vertraue ihm auf ganzer Linie. Aber er hat noch nie einen Annäherungsversuch gemacht. Ich sowieso nicht. Dazu bin ich zu schüchtern. Aber nachts, wenn ich noch wach liege …

Was mich wurmt ist, dass ich aus Thanat nichts über Libertah heraus bekomme. Wenn ich davon anfange, lenkt er immer geschickt ab. Zum Haareraufen. Aber irgendwann kriege ich den Kerl. Das verspreche ich mir hoch und heilig.

Nach der Schule warte ich auf meinen Bus. Thanat steht noch mit an der Bushaltestelle, obwohl er nie einen Bus nimmt. Ich habe ihn aber auch noch nie mit einem anderen Fahrzeug gesehen. Anscheinend wohnt er in der Nähe. Aber auch da habe ich ihm noch keine Informationen entlocken können.

Mein Bus ist schon eine ganze Zeit überfällig. Bald kommt der letzte Bus, der so halbwegs in meine Richtung fährt. Als er anhält, frage ich den Fahrer, was mit der anderen Linie sei. Er meint, der Bus hätte einen Schaden. Der käme heute nicht mehr.

Na gut, denke ich. Dann nehme ich den und muss ein Stück laufen. Ich verabschiede mich von Thanat und steige ein. Er wirkt irgendwie geistesabwesend. Das kenne ich bei ihm gar nicht.

Als der Bus abfährt, schaut er mir nachdenklich hinterher. Komisch. Aber wer versteht schon, was in Zwei-Meter-Göttern vor sich geht? Andererseits - das mit den Göttern kann ich wohl langsam etwas reduzieren. Wenn er mit mir zusammen ist, kommt er mir fast ganz normal vor. Was man so normal nennt. Bei den beiden längsten Personen der Stadt, wenn nicht des ganzen Planeten. Da fällt mir ein, es gibt ein Buch, darin stehen die lustigsten, kuriosesten, bemerkenswertesten Rekorde des Planeten. Ich sollte mal nachsehen, was dort über die längste Person steht.

Meine Haltestelle ist erreicht. Ich steige aus.

Blöd ist, dass ich jetzt ein ganzes Stück über ein stillgelegtes Industriegelände gehen muss. Aber ich bin taff. Ich bin einsneunzig. Ich mache Kampfsport. Ich habe keine Angst. Jawoll.

Als die Straße außer Sicht ist, höre ich ein Geräusch. Ein metallisches. Als ob ein Rohr gegen ein anderes Rohr geschlagen wird. Gleich darauf ertönt eine Abfolge von Pfiffen. Und erneutes Metallschlagen. Ich habe keine Angst, rede ich mir ein. Trotzdem gehe ich unwillkürlich etwas schneller.

Ich muss zwischen zwei Gebäuden durch. Als ich ungefähr in der Mitte des Weges bin, treten plötzlich mehrere Typen am Ende des Durchgangs aus dem Sichtschatten der Gebäude hervor. Ich zähle vier Kerle. Und alle haben Stangen oder Rohre in der Hand. Das metallische Geräusch fällt mir wieder ein.

Ich drehe mich um. Aber auch der Rückweg ist abgeschnitten. Weitere vier Gestalten. Auch mit Rohren.

Jetzt kriege ich wirklich Angst. Das ist ganz anders, als das Unwohlsein zuvor. Mein Magen zieht sich zusammen. Gehetzt blicke ich mich um, ob es einen anderen Fluchtweg gibt. Aber da ist nichts. Kein Fenster, keine Tür, keine Leiter. Ich sitze in der Falle.

Langsam werde ich panisch. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Meine Knie werden weich. Verzweifelt suche ich nach etwas, das ich als Waffe verwenden könnte. Nichts. Absolut nichts Geeignetes.

Beide Gruppen kommen langsam auf mich zu. Ich weiche an eine Hauswand zurück. Die Schläger haben mich erreicht und kreisen mich ein.

Sie grinsen mich schmierig an. Ich lasse meine Tasche fallen und gehe in Grundstellung, wie ich es im Training gelernt habe.

Ein Typ in der Mitte lacht auf.

„Schaut, Jungs, das Kätzchen fährt die Krallen aus.“

Alle lachen. Über mich. Jeder von denen ist ein Schläger wie aus dem Bilderbuch. Bösartige Visage, muskulös, vernarbt.

„Schätzchen, im Grunde wollen wir dir nichts. Du hast zwei Möglichkeiten. Entweder du folgst uns ohne Widerstand. Unser Auftraggeber hat gesagt, er möchte dich unversehrt für seinen Spielkeller. Oder du machst Zicken und wir liefern dich mit ein paar Beulen ab. Ganz wie du willst.“

Ich starre ihn an. Was meint er mit Spielkeller? Genau diese Frage rutscht mir heraus.

Wieder folgt ein dreckiges Lachen. „Du bist jemandem aufgefallen. In dem Spielkeller wirst du den Rest deines sicherlich verkürzten Lebens verbringen. Du wirst für unseren Auftraggeber schön die Beine breit machen, wenn er es so will. Und wenn er es möchte, bist du zu seinen Freunden lieb. Parierst du, kannst du noch ein paar Jahre leben, bis er dich über hat. Vielleicht lädt er aber auch die richtig schlimmen Finger ein. Die, die gerne mit glühenden Zangen Haut und Fellfetzen aus Mädchenkörpern reißen. Also tu lieber, was er von dir verlangt.“ Mir wird schlecht. „Du kannst den Weg in dein neues Leben mit oder ohne Schmerzen antreten. Liegt ganz bei dir. Aber wir sind vorgewarnt, dass du Kampfsport betreibst. Wir werden bei dir nicht zimperlich sein, wenn du dich wehrst.“

Wie um seine Wort zu unterstreichen, schlägt er das Metallrohr lässig in seine offene Hand.

Was soll ich tun? Angst schnürt mir die Kehle zu und ich kann fast nicht mehr denken. Ich drücke mich fest an die Wand. Einen oder zwei könnte ich schaffen. Aber acht?

Erschrocken zucke ich zusammen, als plötzlich von der Seite eine dunkle Stimme ertönt.

„Wenn ich einen Vorschlag machen dürfte.“

Hoffnung flammt in mir auf. Denn die Stimme erkenne ich sofort. Locker schlendert niemand anderes als Thanat heran. Hinter den Schlägern bleibt er hoch aufgerichtet stehen. Wo kommt er plötzlich her? Niemand hat ihn vorher bemerkt. Die Hände hat er lässig in den Hosentaschen. Aber sein Blick ist eisig. Ich sehe, dass sein Körper angespannt ist. Die Lässigkeit ist nur vorgetäuscht.

Der Wortführer dreht sich um und zischt: „Verpiss dich, sonst liegst du gleich tot auf der Straße.“

„Glaube ich nicht. Mein Vorschlag zielt eher darauf ab, dass ihr geht, eurem Auftraggeber einen schönen Gruß von mir bestellt und weiterlebt. Wenn ihr die junge Dame weiter bedroht oder gar angreift, werde ich von meinem Vorschlag zurück treten. Ob ihr alle das überlebt, wage ich zu bezweifeln.“

Erste Unsicherheit zeigt sich in den Gesichtern einiger Schläger. Sie verstehen nicht, wie eine einzelne Person angesichts einer Übermacht bei solch einer Drohung so unfassbar ruhig ist.

Der Wortführer nickt zwei Personen zu. „Passt auf die Schlampe auf. Wir zeigen dem Spinner, was er sich gerade eingebrockt hat.“

Ich sehe noch einmal zu Thanat. Hoffe, dass er bleibt. Hoffe, dass er weiß, was er tut. Hoffe, dass er mich rettet.

Sechs Schläger beginnen sich gegen Thanat zu formieren. Zwei bauen sich vor mir auf. Der Wortführer tritt nahe an Thanat heran. „Deine letzte Gelegenheit, Milchgesicht.“ Thanat sieht ihm nur ruhig ins Gesicht. Der Kerl holt mit dem Rohr aus.

Was dann passiert, kann ich kaum mit den Augen verfolgen. Ich erkenne, dass Kampfsporttraining einen nicht im Geringsten auf einen echten Kampf vorbereitet. Von einer Sekunde auf die nächste verwandelt Thanat sich in einen tödlichen Wirbelsturm. Ich höre Knochen brechen, Männer aufschreien, sehe Rohre weg fliegen, Blut in alle Richtungen spritzen, sogar bis zu mir. Sehe Personen zusammen brechen. Mit verdrehten Gliedern. Stöhnend. Schreiend. Blutend. Sterbend?

Auch meine beiden Bewacher entkommen Thanat nicht. Sie versuchen noch wegzulaufen, kommen aber nicht weit.

Zitternd stehe ich an der Hauswand und schaue auf das Schlachtfeld. Eine sanfte Stimme holt mich zurück in die Realität.

„Geht es dir gut? Du musst jetzt keine Angst mehr haben. Die können dir nicht mehr wehtun.“

Ich sehe in die besorgten blaugrauen Augen. Thanat steht direkt vor mir, blutverschmiert. Er atmet nicht einmal schneller. Meine Beine versagen ihren Dienst. Ich sinke an der Hauswand herunter. Meine Angst löst sich und ich fange an haltlos zu zittern und zu weinen.

Thanat nimmt mich in den Arm, streichelt über meinen Kopf und macht besänftigende Geräusche. Wie meine Eltern es früher gemacht haben, um mich zu beruhigen. Er hat irgendein Gerät aus seiner Jackentasche gezogen und tippt darauf herum. Ohne dass ich verstehe, was er da macht, steckt er das Gerät wieder weg. Am Rande bekomme ich mit, wie er sich meine Tasche umhängt. Vorsichtig hebt er mich auf und trägt mich weg, als wäre ich eine Feder.

Ich presse den ganzen Weg über mein Gesicht an seine Schulter und kann nicht mehr aufhören zu weinen. Irgendwann gehen wir eine Treppe hoch. Dann höre ich die entsetzte Stimme meiner Mutter.

„Um Himmels Willen, Eyra. Was ist geschehen? Bist du verletzt? Bist du krank? Woher kommt das Blut?“

„Dürfen wir herein kommen, bitte. Eyra ist nicht verletzt. Das ist der Schock.“

„Natürlich, kommt rein. Lege sie bitte auf das Sofa, gleich rechts im Wohnzimmer.“

Ich höre, wie mein Vater aus der Küche kommt. Wieso sind meine Eltern beide schon zu Hause? „Ist etwas passiert? Oh Gott, Kind, was ist mit dir?“

Langsam legt mich Thanat auf das Sofa. Ich will seinen Hals aber nicht loslassen.

„Pscht, pscht, ganz ruhig, Eyra. Du bist jetzt zu Hause. Deine Eltern sind hier. Es kann dir nichts mehr passieren.“

Ganz langsam lasse ich los und sehe in seine Augen. Wimmernd frage ich. „Wirklich?“

„Ja, Eyra. Das verspreche ich dir.“

Ich atme ein paar Mal durch. „Ich glaube dir.“

Thanat macht meiner Mutter Platz. Sie beugt sich zu mir runter. Mit dem Blick einer Ärztin checkt sie mich körperlich ab. Mit der besorgten Stimme einer Mutter fragt sie: „Was ist passiert, mein Schatz? Bitte erzähle es mir.“

Stockend berichte ich: „Mein Bus kam nicht. Ich bin mit dem anderen Bus gefahren. Dem, der hinter dem alten Industriegebiet vorbei fährt. In der Industriebrache haben mir acht Schläger aufgelauert. Sie wollten mich entführen und in ein Privatbordell stecken. Sie sagten etwas von einem Auftraggeber.“

Meine Eltern sehen sich entsetzt an.

„Thanat kam dann und hat die Schläger ausgeschaltet.“ Ich schaudere beim Gedanken an all das Blut, das Geräusch der brechenden Knochen und die Schreie. „Ich bin nicht verletzt. Soweit kam es nicht.“ Erneut schließe ich die Augen.

Mein Vater dreht sich zu Thanat. „Warum wollten die Männer unsere Tochter entführen?“

„Ich denke, dahinter stecken ihre Widersacher in der Schule. Ich habe mitbekommen, wie sie die ganze Zeit in der Nähe der Bushaltestelle herumgelungert sind. Als Eyra in den Bus stieg, ist einer zur Telefonzelle gelaufen. Dann sind sie verschwunden. Mir kam das komisch vor. Deswegen bin ich dem Bus gefolgt, so schnell ich konnte. Ich bin nur froh, dass ich es noch rechtzeitig geschafft habe.“

Mein Vater legt Thanat die Hand auf die Schulter. „Danke, mein Junge. Danke, dass du unsere Tochter gerettet hast.“

Auch meine Mutter dreht sich zu Thanat. Ihr laufen die Tränen das Gesicht hinunter. Fest drückt sie seine Hand. Auch ohne Worte spürt man ihre Erschütterung und ihren Dank.

Meine Eltern nehmen mich in den Arm und halten mich lange fest. Irgendwann habe ich mich beruhigt. Meine Mutter geht in die Küche und kocht uns allen Tee. Thanat und ich versuchen, das Blut der Schläger von uns abzuwaschen, so gut es geht. Ich ziehe mich schnell um. Die vollgespritzten Kleidungsstücke werfe ich in den Müll, mich ekelt davor. Wir setzen uns an den Esstisch.

Ich sitze neben Thanat. Ganz unbewusst umklammere ich seine Hand. Wahrscheinlich drücke ich zu fest. Aber er beklagt sich nicht.

Als der Tee vor uns steht und meine Eltern sich gesetzt haben, ist es wohl Zeit für eine Vorstellung.

„Memi, Babo, das ist Thanat. Thanat, das sind meine Eltern Yanica und Kansu Dorba.“

Thanat reicht ihnen freundlich lächelnd die Hand. Weil ich mich so festklammere, kann er nicht aufstehen, wie er es sonst bestimmt machen würde. Meine Eltern erkennen sein Dilemma und lächeln zurück.

Meine Mutter hält seine Hand etwas länger fest. „Vielen Dank, dass du rechtzeitig da warst, um Eyra zu helfen.“

„Ich bin ebenso froh. Eyra ist mir unglaublich wichtig. Ich mag mir nicht vorstellen, was hätte passieren können.“

Ich sehe Thanat erstaunt an. Ich bin ihm wichtig? Unglaublich wichtig? Empfindet er für mich mehr als nur Freundschaft?

Er hebt seine freie Hand und streichelt mir über das Gesicht. Ich versinke in seinen Augen. Mein Herz schlägt schneller und mein Magen macht Purzelbäume.

Mein Vater unterbricht den Moment. „Wie hast du es denn geschafft, acht Schläger auszuschalten?“

„Sie waren sogar alle mit Rohren und Stangen bewaffnet.“, werfe ich ein.

Erneut macht sich Entsetzen auf den Gesichtern meiner Eltern breit.

Thanat winkt nur ab. „Vielleicht hat Eyra schon erzählt, dass ich Kampfsport betreibe.“

Ich schnaube. „Das mache ich auch. Aber in dem Moment konnte ich mich kaum rühren.“

Wieder nimmt Thanat mein Gesicht in seine Hand. „Du betreibst Kampfsport, mit der Betonung auf Sport. Das eben war ein Kampf. Da ging es nur darum: die oder wir. Das hat mit den Übungen im Training nichts mehr zu tun. Im echten Kampf muss man schnell, kompromisslos und hart sein. Das lernt man nicht im Training. Aber du warst bereit, es mit denen aufzunehmen. Du warst schon in der Grundstellung. Du hast wirklich Mut, dich solch einer Übermacht zu stellen.“

„Ich konnte mich aber nicht rühren.“

„Das stimmt nicht. Du hattest Angst. Ja, aber das ist normal, wenn man das erste Mal in solch einer Situation ist. Nicht zu vergessen, die Drohungen, die die Typen ausgesprochen haben. Alleine die Aussicht auf das Bordell würde jede Person lähmen. Sein Versprechen deines vorzeitigen Todes oder die angedrohten Verletzungen. Bei all dem bist du nicht zusammengebrochen. Du warst unglaublich tapfer.“

„Ach, und warum musstest du mich dann zurück tragen?“

„Das war das Adrenalin. Als die Typen ausgeschaltet waren, konnte dein Körper sich wieder entspannen. Und das war in diesem Fall ein wenig zu viel Entspannung. Und etwas schnell.“

„Aber du bist nicht zusammen geklappt.“

Da grinst der Kerl doch ganz frech. „Natürlich nicht. Denkst du, ich wollte mir wegen zitternder Knie entgehen lassen, dich auf meinen Armen zu tragen?“

„Blödmann.“ Gleichzeitig boxe ich ihn auf den Arm.

„Aua.“ Gespielt entrüstet reibt er sich den Arm. Meine Eltern lächeln, als sie merken, dass sich mein Zustand langsam normalisiert. Die normale Kratzbürstigkeit der Eyra. Hurra.

Thanat wird wieder ernst. „Es stimmt schon. Ist nicht das erste Mal, dass ich in einen echten Kampf verwickelt wurde.“

Einen Moment denke ich nach. „Borde Koriat!“

„Zum Beispiel. Obwohl ich da nur zwei Leute ausschalten musste.“

Meine Eltern schauen fragend zu uns.

„Ich habe euch doch berichtet, wie Herr Koriat uns erzählt hat, Thanat habe ihn gerettet und nach Libertah gebracht.“

Verstehend nicken meine Eltern.

„Reist du durch die Gegend und rettest Leute?“

Er sieht mir tief in die Augen. Nach einem Moment des Zögerns sagt er: „Unter anderem.“

Ich hebe fragend eine Augenbraue. Den Trick habe ich mir schon bei ihm abgeschaut. Dummerweise reagiert er nicht darauf.

„Was ist denn mit den Schlägern? Werden sie dich anzeigen und du bekommst meinetwegen Ärger?“, will ich wissen.

„Ich bekomme NICHT deinetwegen Ärger. Rede dir das nicht ein. Den Ärger haben sie sich selbst zuzuschreiben. Um die Schläger kümmern sich jetzt andere Leute.“ Dabei wird seine Stimme hart. Ich muss an das Gerät denken, auf dem er etwas getippt hat. Nach einem Moment nicke ich. Will ich es wirklich so genau wissen, was aus den Typen wird?

Stattdessen schaut er meine Mutter an. „Wann wollten Sie es ihr sagen?“

Meine Mutter wird blass und ringt ihre Hände.

„Was sagen?“

Meine Eltern sehen sich an. Beide verzweifelt. Was ist hier los? Wollen sie sich scheiden lassen?

Noch einmal hake ich nach. „Was wollt ihr mir sagen?“

Meine Mutter nimmt meine freie Hand in ihre Hände.

„Schatz, du weißt doch, dass ich mich in letzter Zeit immer so schlapp gefühlt habe?“

Ich nicke. Ja, meine Mutter hat in den letzten Wochen ungewöhnlich viel geschlafen und war trotzdem immer müde.

„Ich habe mein Blut untersucht.“ Schweigen. Ich werde unruhig. Das klingt nicht gut.

„Ich habe Krebs.“

Schlagartig weicht alles Blut aus meinem Kopf. Ich höre nur noch ein Rauschen. Das kann nicht wahr sein. Tränen schießen mir in die Augen. Ich will aufspringen und nur noch weg von hier. Aber Thanat hält mich fest. Er zieht mich zu sich ran und drückt mich an seine Schulter. „Laufe nicht weg. Es ist noch nicht zu spät.“

„Nicht zu spät, wofür?“

Meine Mutter mischt sich ein. „Doch, ist es. Wir haben weitere Untersuchungen angestellt. Mein Krebs ist zu weit fortgeschritten. Er ist nicht mehr heilbar. Ich habe höchstens noch ein halbes Jahr.“ Tränen laufen ihr die Wangen herunter. Mein Vater legt seinen Arm beschützend um ihre zuckende Schulter.

Wieder will ich aufspringen. Erst der Überfall, dann das hier. Das ist alles zu viel. Viel zu viel. Aber gegen die Umklammerung von Thanat komme ich nicht an. Ich möchte ihn wegstoßen, ihn anschreien, mich an ihn drängen. Er soll mich trösten. Das macht er. Heftig schluchze ich gegen seine Schulter.

„Es gibt einen Weg.“ Ganz ruhig dringt seine Stimme zu uns durch. Meine Mutter schaut von der Schulter meines Vaters auf. Ich sehe Thanat an. „Welchen?“

Thanat sieht mir in die Augen. „Wir können sie heilen.“

„Wir? Wie soll das gehen?“

„Das verrate ich euch gleich. Aber vorher versprecht mir, dass ihr niemandem davon erzählt, bis ich es euch erlaube. Das Wissen in den falschen Händen bringt uns alle in Gefahr.“

Wir verstehen nicht. Das sieht man uns an. Trotzdem nicken wir. Wir versprechen es.

Thanat beugt sich vor. Automatisch folgen wir seiner Bewegung.

„Gut. Es ist so. Ganz selten gibt es Personen, die Krankheiten erfühlen können. Ich kann es. Und du kannst es auch, Eyra.“

Ungläubig sehe ich ihn an.

„Ist dir schon mal aufgefallen, dass du besonders sicher instinktiv erkennst, wer dir wohlgesonnen ist und wer nicht?“

Das stimmt, mein Gefühl hat mich bisher selten getrogen.

„Das liegt daran, dass du die Aura einer Person wahrnimmst. Du bist noch untrainiert, deshalb ist es nur ein vages Gefühl. Wenn du diese Fähigkeit übst, kannst du zum Beispiel leicht erkennen, ob dich jemand angreifen oder verletzen will. Eine Krankheit ist eine Störung in der Aura. Du nimmst bei der oberflächlichen Betrachtung nur wahr, dass jemand krank ist. Was es ist, setzt medizinisches Wissen voraus. Und viel Übung.“

„Und du hast in der Aura meiner Mutter die Krankheit gesehen?“

„Ja. Um den Krankheitsherd zu lokalisieren, müsste ich deine Mutter aber genauer untersuchen.“

„Und dann könntest du ihr helfen?“ Bittend klingen meine Worte. Verzweifelt und voll Hoffnung.

„Wahrscheinlich ja.“

Meine Eltern folgen den Erklärungen stumm und mit großen Augen.

„Würdest du das tun? Bitte, ich möchte meine Mutter nicht verlieren.“

Er nimmt mein Gesicht in beide Hände. „Eyra, du musst mich nie um etwas bitten. Wenn deine Mutter einverstanden ist, werde ich es gerne versuchen.“

Ich sehe meine Mutter an. „Bitte, Memi, lass es ihn versuchen.“

Auch in den Augen meiner Mutter erkenne ich die Hoffnung, die auch ich verspüre. „Ja, bitte.“, haucht sie.

Thanat erhebt sich. Wir stehen auch auf.

„Legen Sie sich bitte auf das Sofa.“

Meine Mutter kommt der Aufforderung nach.

„Darf ich Ihre Bluse öffnen? Es ist einfacher ohne den Stoff dazwischen.“ Meine Mutter nickt und öffnet die Knöpfe selbst.

Thanat wendet sich an mich.

„Ich möchte, dass du deine rechte Hand auf den Bauch deiner Mutter legst.“

Das mache ich. Er legt seine Hand darüber.

„Und nun schließe deine Augen. Konzentriere dich nur auf deine Hand.“

Ich versuche es. Doch bin ich noch zu aufgeregt.

„Entspann dich. Atme über die Nase ein und über den Mund aus.“

Ich mache, was er mir empfiehlt. Ganz langsam fahre ich herunter.

„Gut so. Jetzt achte auf deine Hand. Spürst du ein Kribbeln?“

Erst will ich verneinen. Doch ganz leicht spüre ich etwas in den Fingerspitzen.

Ich flüstere ein „Ja.“

„Das ist dein Körper, er hat die Krankheit deiner Mutter erkannt und will sie direkt heilen. Jemand wie wir beide kann das, wenn wir etwas länger Hautkontakt mit einem Kranken haben. Der Trick ist nun, die Heilung zu steuern. Das meinte ich mit Wissen und Übung.“

Er wartet einen Moment, bis ich das verdaut habe.

„So. Nun konzentriere dich darauf, in welche Richtung dich das Kribbeln zieht.“

Ich merke tatsächlich einen leichten Zug in den Fingerspitzen, nahe dem Magen meiner Mutter.

„Es sind der Zeige- und der Mittelfinger.“

„Sehr gut. Der Krebs deiner Mutter sitzt in der Bauchspeicheldrüse. Die ist den beiden Fingern am Nächsten. Wenn du geübt hast, kannst du den Krankheitsherd auch im Körper sehen.“

„Und was machen wir jetzt?“

„Es gibt zwei Möglichkeiten. Wenn es ein geeignetes Medikament gäbe, könnten wir es unter Beobachtung durch unsere Fähigkeit gezielt in die Krebszellen spritzen und sie dadurch abtöten. Das würde ich dir eigentlich empfehlen. Aber so etwas gibt es bisher nicht. Die andere Möglichkeit ist noch sicherer und schmerzloser für deine Mutter, aber sie ist gefährlich für dich. Deshalb darfst du sie noch nicht alleine anwenden. Auf gar keinen Fall.“

Jetzt wird mir unwohl.

„Warum nicht?“

„Weil du bei der zweiten Methode deine Lebenskraft in den Körper deiner Mutter leitest. Das regt die Selbstheilung an. Und zwar exponentiell. Die Regeneration steigt sprunghaft an und der Körper heilt sich selbst. Aber bei schweren Krankheiten saugt dich der kranke Körper leer. Und dann stirbst du.“

Erschrocken will sich meine Mutter wegdrehen. „Nein, das lasse ich nicht zu.“

„Ganz ruhig, Frau Dorba. Ich werde Eyra auch nicht gefährden.“

„Was machen wir dann?“

„Wir nehmen meine Lebensenergie.“

„Aber dann stirbst du.“

Er lächelt nachsichtig. „Keine Angst. Ein Krebspatient bringt mich nicht um. Ich trainiere schon lange und kann meine Energiespeicher während des Vorganges nachladen.“

„Ehrlich?“

„Aber sicher. Sollen wir es versuchen?“

Ich nicke. Meine Mutter ist erst verunsichert. Dann stimmt sie zu.

„Okay, ich nehme jetzt die Heilung vor. Du wirst fühlen, wie meine Energie strömt. Merke dir das, damit du lernst.“

Kaum hat er ausgesprochen, spüre ich, wie seine Hand auf meiner wie verrückt kribbelt. Das Kribbeln wandert zu den Fingerspitzen. Seine Hand beginnt leicht zu leuchten. Das Licht verschwindet im Bauch meiner Mutter. Ganz langsam lenkt er seine Hand hin und her und nimmt meine dabei mit. Es sind bestimmt mehrere Minuten vergangen, bis der Energiestrom versiegt.

Thanat hebt seine Hand von meiner.

„Fertig. Sie sind wieder wie neu.“

Fassungslos starrt meine Mutter ihn an. Als ob sie die geheilte Bauchspeicheldrüse fühlen könnte, legt sie ihre Hand auf ihren Bauch.

Mein Vater hat Tränen in den Augen. „Ist meine Frau wirklich gesund?“

Thanat nickt. „Ganz gewiss. Bei Ihnen könnte man den Effekt viel deutlicher spüren. Der Krebs schwächte Ihre Frau, bereitete aber akut wenig Schmerzen. Bei Ihrem Knie wäre das anders.“

„Mein Knie? Das weißt du auch?“

„Ja, wir haben uns doch vorhin die Hand geschüttelt.“

„Und in der kurzen Zeit hast du seine Gesundheit gecheckt?“, will ich wissen.

„Ja, das geht mit etwas Training ganz schnell. Muss ja auch bei Verletzungen, wie Stichen, schnell gehen.“

Mein Vater räuspert sich. „Das stimmt, mein Knie schmerzt schon länger.“

Thanat lächelt. „Dann ziehen Sie das Hosenbein einmal hoch, bitte.“

Mein Vater folgt der Aufforderung.

Wir legen unsere Hände aufeinander. Dieses Mal auf dem Knie meines Vaters. Wieder sehe ich die Energieströme fließen. Als wir fertig sind, lacht mein Vater auf. „Keine Schmerzen mehr.“

Er steht auf und bewegt sein Bein. „Alles weg.“

Meine Mutter hatte sich währenddessen hingesetzt. Mein Vater stürzt zu ihr. Beide fallen sich lachend in die Arme.

Ich sehe sie an. Dann wende ich mich zu Thanat. Einen Moment zögere ich, dann lege ich ihm meine Arme um den Hals. „Danke. Für alles.“, flüstere ich nahe seinem Ohr. Er legt beide Hände auf meinen Rücken und drückt mich fest an sich.

Als wir uns lösen, sehe ich, dass auch meine Eltern ihre Umarmung beenden.

Sie stehen auf und kommen zu uns. Mein Vater und meine Mutter sehen einen Moment zu Thanat auf. Dann umarmen sie ihn beide. Da will ich nicht außen vor bleiben und schlinge meine Arme um das ganze Paket. Lange bleiben wir zusammen stehen und genießen den Moment.

Meine Eltern lösen sich. Meine Mutter nimmt seine beiden Hände in ihre. Strahlend sieht sie in seine Augen. „Heute hast du unsere ganze Familie gerettet. Wie können wir dir jemals danken?“

Thanat drückt leicht ihre Hand. „Ist schon in Ordnung. Ich freue mich, helfen zu können. Und zu sehen, wie drei wundervolle Personen noch viele weitere Jahre zusammen verbringen können, ist mir Dank genug.“

Mein Vater lacht. „Aber wenigstens könntest du aufhören, uns zu siezen.“

Thanat schmunzelt. „Das sollte wohl gehen, Kansu.“

Noch völlig aufgewühlt setzen wir uns wieder an den Tisch.

Thanat schaut uns eindringlich an. „Versteht ihr jetzt, warum es so wichtig ist, dass niemand von dieser Fähigkeit erfahren darf? Eyra würde regelrecht gejagt. Untrainiert wie sie jetzt ist, würde ihre erste Heilung sie umbringen.“

Meine Eltern nicken. Ich denke nur, Freak bleibt Freak.

Als hätte er meine Gedanken gelesen (Hat er das vielleicht?), dreht er sich zu mir. „Und du bist kein Freak. Du bist etwas Besonderes. Diese Heilfähigkeit ist gut und schön. Aber es sollte nicht dein Lebensziel sein, sie dauerhaft anzuwenden. Stell dir vor, alle Welt wüsste davon. Alle Kranken würden vor dir stehen. Aber du kannst nicht alle heilen. Wen weist du ab, wen behandelst du? Und glaube nicht, dass du lange deine eigenen Entscheidungen treffen könntest. Skrupellose Geschäftemacher würden euch entführen. Sie würden dich erpressen, die zu heilen, die ihnen am meisten Geld geben.“

Er gibt mir Zeit, das zu verarbeiten.

„Wenn du möchtest, trainiere ich mit dir. Aber du kannst noch so viel mehr. Du bist klug. Du kannst deine Fähigkeit mit deiner Klugheit kombinieren und neue Behandlungsmethoden erarbeiten, ohne dass du in Gefahr gerätst.“

„Bist du deswegen an meine Schule gekommen?“

„Ja, ich habe nach dir gesucht. Ich möchte dich beschützen und ich möchte dein Lehrer sein. Und am Wichtigsten, ich möchte dein Freund sein.“

Bei den letzten Worten wird mir ganz warm. Er ist nicht nur hier, weil ich komische Dinge kann. Er ist meinetwegen hier.

Fragend sehe ich meine Eltern an.

Sie sind noch völlig unter dem Eindruck des Erlebten. Aber sie erkennen auch die Gefahren meiner freakigen Fähigkeit. Ebenso klar erkennen sie, dass nur Thanat mich unterrichten und wohl auch schützen kann. Ohne zu zögern geben sie ihre Zustimmung.

Erleichtert lächelt er. Mein breites Grinsen kann ich nicht unterdrücken.

Mit großer Geste wendet er sich mir zu. „So, meine junge Schülerin, so höre denn meine Worte und folge meinen Anweisungen.“

Prustend lehne ich mich gegen seinen Arm.

„Zuerst wirst du nicht mehr mit dem Bus fahren. Ich hole dich morgen früh mit dem Wagen ab.“

„Du hast einen Wagen?“

„Auch.“

Noch lange sitzen wir zusammen und quatschen. Meine Eltern lassen sich die ganze Zeit kaum los. So sehr freuen sie sich über die geschenkten Jahre. Immer wieder schaue ich Thanat von der Seite an. Ich lächle. Ich habe einen Freund gefunden. Vielleicht mehr als das?

Thanats Welten 1 - Tauros

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