Читать книгу Thanats Welten 1 - Tauros - J. Reiph - Страница 12
ОглавлениеLernen und Training
System: 1654-Z65-7559-MM08-2884
Interner Systemname: Tauros
Zeitrechnung: Jahr 23 nach der Ankunft (n.d.A.), 28. Woche
Berichterstatterin: Eyra (nachgetragen)
Habe ich letzte Nacht viel geschlafen? Nein, ganz gewiss nicht. Erst werde ich überfallen. Dann trägt Thanat mich den halben Weg nach Hause auf den Armen. Zuhause erfahre ich, dass meine Mutter bald stirbt. Als wäre das noch nicht genug, mutiere ich zum Freak hoch zwei. Thanat behauptet, ich könne durch Handauflegen heilen. Um mir das zu beweisen, heilt er meine Mutter von ihrer tödlichen und meinen Vater von einer schmerzhaften Krankheit. Wie soll man da schlafen können?
Natürlich reicht ihm das noch nicht, um mich um meinen Schlaf zu bringen. Er möchte mich trainieren und mit mir lernen. Er will auf mich aufpassen. Er wird oft mit mir zusammen sein. Ganz oft! Ganz nah! Er will mein Freund sein. Mein Freund! Freund wie Freund oder wie FREUND?
Und da soll ich schlafen können? Ha, witzig!
Bevor er gegangen ist, sagte er meinen Eltern, er werde Leibwächter besorgen, die die Wohnung bewachen werden. Wer ist der Kerl? Er geht in meine Klasse. In der SCHULE! Dabei kennt er berühmte Wissenschaftler, rettet ihnen das Leben, rettet mir das Leben, meiner Mutter. Und sagt ganz nebenbei, er stellt uns Leibwächter vor die Wohnung. Er ist ein Privater, und die sind ja oft aus reichem Haus. Er auch? Bisher hatte ich nicht den Eindruck, dass er ein versnobter und verzogener Bengel ist. Im Gegenteil. In der Schule hat er die ganzen Snobs abblitzen lassen. Hängt mit Dani und mir herum. Eigentlich könnte er bei allen Angesagten dazu gehören. Trotzdem er noch größer ist als ich. Und wollte mich je irgendwer in seiner Clique haben? Thanat kommt in einen Raum und alle akzeptieren ihn sofort. Dabei ist er genauso freakig wie ich. Was ist sein Geheimnis?
Obwohl. Bereits nach wenigen Wochen sehen ihn die Privaten schon öfters finster an. Vielleicht weil sie ihm egal sind. Aber wenn ich überlege, wie er gestern die Schläger fertig gemacht hat. Wer so kämpfen kann, muss sich in einer Welt, wo solche Schläger straffrei ausgehen, nicht fürchten. Wird er mir beibringen, wie ich genauso wirken kann? Ich weiß nicht, könnte ich so gnadenlos kämpfen? Kampfsport macht mir Spaß. Wenn ich aber an das Blut und das Geräusch brechender Knochen denke, wird mir schlecht. Schnell an etwas anderes denken. Seine Augen. Diese Sorge darin, als er sich zu mir herunter beugte und mich fragte, ob ich in Ordnung sei. Diese Wärme, als er sagte, er wolle mein Freund sein. Ja, das ist besser als Blut.
Schon vor dem Weckerklingeln bin ich im Bad. Eigentlich gebe ich mir mit meinen Haaren nie viel Mühe. Mähne bleibt Mähne. Heute möchte ich sie irgendwie ein wenig in Form bringen. Soll ich meine Augen etwas betonen? Kann nicht schaden. Ziehe ich meine üblichen Klamotten an? Oder mal etwas Flippigeres, was Dani für mich ausgesucht hat?
Am Ende habe ich normale Klamotten an, meine Augen sind etwas betont, aber nicht so stark und meine Haare fallen in Wellen auf meinen Rücken, statt die gewohnten Zöpfe zu bilden.
Natürlich fällt meinen Eltern auf, dass ich mich ein wenig, nur ganz wenig, zurecht gemacht habe. Wissend grinsen sie mich an, sagen aber nichts. Meine Mutter hat Pfannkuchen gemacht. Mit Obst garniert. Normalerweise kann ich mich da rein legen, so gerne esse ich Pfannkuchen. Heute kriege ich kaum einen Bissen herunter. Gleich werde ich abgeholt. Was Thanat wohl für einen Wagen fährt? Ich liebe sportliche Flitzer, auch wenn wir uns nie einen werden leisten können. Die neue Flunder von Pirch. Das wäre es. Aber bei meiner Beinlänge komme ich da wohl gar nicht erst rein. Vielleicht dann doch eher ein Multiwagen. So ein Alleskönner. Geländegängig. Hoch. Breit. Gefährlich. Und noch teurer als eine Flunder. Hätte ich das Geld, stünde ein Pirch AMC 3000, Verkaufsname Galaxis, vor meiner Haustür. In Mitternachtsblau.
„Ich wüsste schon gerne, wo du gerade bist, Schatz.“ Die Stimme meiner Mutter reißt mich aus meinen Träumen.
„Ach, nichts.“
„Klar. Deine Augen sind glasig, dein Grinsen grenzdebil und dass du in fünf Minuten los musst, scheint dir entfallen zu sein.“ Mütter können so gnadenlos sein.
Ich merke, wie mein Gesicht warm wird. Ich werfe ihr einen bösen Blick zu, der völlig an ihr abprallt. Mütter! Und mein Vater? Der grinst von einem Ohr zum anderen. Oh, Mann!
Ich springe auf, schnappe mir meine Schuhe und ziehe sie an. Blöde Eltern hin oder her, ich kann ihnen ja nicht wirklich böse sein. Deswegen drücke ich sie fest. Schon klingelt es an der Tür. Mein Fahrer.
Die Treppe renne ich hinunter. Dass ich vor Aufregung keine Dreipunktlandung, Stirn, Nase, Kinn, am Ende der Treppe hinlege, grenzt an ein Wunder. Thanat empfängt mich breit grinsend.
„Läufst du meinetwegen oder wegen des Wagens so schnell?“
Der Blödmann. „Natürlich nur wegen des Wagens.“ Mein Versuch, ihn auf den Arm zu nehmen, misslingt gründlich. Dazu habe ich meine Mimik zu wenig unter Kontrolle. Egal.
Er nimmt mich in den Arm und drückt mich. Leise und besorgt flüstert er mir ins Ohr. „Geht es dir gut?“
Ich schaue ihn an. Er ist ehrlich besorgt. „Wenig geschlafen, aber sonst geht es mir gut.“
Wissend nickt er. Ein Lächeln erhellt sein Gesicht. Er lässt mich los. Leider. Mit der rechten Hand greift er nach meinem Haar und lässt eine Strähne durch die Finger gleiten. „Du trägst dein Haar heute offen. Und deine Augen hast du betont. Sehr schön.“
Er hat es bemerkt! Er schaut mich wirklich an, um solche Veränderungen wahr zu nehmen.
Dann bietet er mir seinen Arm an. „Bereit für den großen Auftritt vor der Schule?“
Auftritt? Schule? Geistig klatsche ich mir vor den Kopf. Stimmt ja, wir werden mit dem Wagen vorfahren. Alle werden uns sehen. Gleich wird mir mulmig. Unfreiwillig falle ich schon genug auf. Und jetzt provoziere ich das Aufsehen. Thanat sieht meine Unsicherheit. Sanft drückt er meinen Arm.
„Lass uns den Pappnasen zeigen, wer der Chef im Ring ist.“
In dem Moment kommen wir aus der Tür und ich kann einen ersten Blick auf den Wagen werfen. Meine Knie werden weich. Ein GALAXIS. Sportausführung. Extra breit. Getönte Scheiben rundum. Die Felgen! Ein Traum. Farbverändernder Glanzlack, je nach Lichteinfall wechselnde Farben. Und Mitternachtsblau. Ich sterbe!
Unbewusst bin ich stehen geblieben. Mein Unterkiefer kommt dem Gehweg bedrohlich nahe. Mein Mund wird staubtrocken.
„Willst du nur schauen oder auch einsteigen?“ Ohne hinzusehen weiß ich, wer sich gerade fürchterlich über mich lustig macht. Na warte. Ich werfe meinen Kopf zurück. Mit hochnäsiger Stimme weise ich ihn zurecht, gespielt. „Ein guter Chauffeur würde mir jetzt die Tür aufhalten und keine Reden schwingen.“
Thanat lacht laut auf. Er geht vor, öffnet die Beifahrertür und verbeugt sich. „Verzeiht vielmals, Eure Hoheit. Euer untertänigster Diener gelobt Besserung.“
Ich wedele seine Entschuldigung mit der Hand weg. „Schon gut, schon gut, es ist eben schwierig, heutzutage gutes Personal zu finden.“
Beim Einsteigen sehe ich, wie meine Eltern die ganze Szene vom Fenster aus betrachten. Doch, sie scheinen sich zu amüsieren.
Nein, ich steige nicht ein. Ich gleite auf den Sitz. Die Höhe ist perfekt für mich. Muss eine Sonderanfertigung sein. Nein, ich sitze nicht in dem Mega-Wagen. Ich throne. Wie ein Kind betrachte ich alles ganz genau.
Nach ein paar Minuten kann ich mich erst wieder auf den Fahrer konzentrieren. „Der Wagen ist der Oberhammer. Das neueste Modell. Wie hast du denn den so schnell bekommen? Der hat doch ewige Lieferzeiten?“
„Ich kenne jemanden, der jemanden kennt und der kennt jemanden.“
„Ach so, ja dann.“
Wir grinsen uns an.
Viel zu schnell sind wir an der Schule. Es ist kurz vor dem Unterrichtsbeginn und der Parkplatz ist dementsprechend voll. Schwungvoll fährt Thanat zu den anderen Wagen. Trotz der späten Zeit findet er noch einen freien Platz. Alle Köpfe drehen sich zu dem Galaxis um. Der Wagen ist mit Abstand der auffälligste zwischen all den Fahrzeugen.
Thanat stoppt den Motor, steigt aus und hält mir die Tür auf. Dann nimmt er meine Tasche, hält mir den Arm hin und führt mich zum Eingang. Ich muss mir ganz schwer ein Kichern verkneifen, als ich all die belämmerten Blicke meiner Mitschüler sehe. Der Freak, der Außenseiter, der Punchingball der Schule kommt in der teuersten Karosse und wird von einem Gentleman stilecht zum Eingang geleitet. Auf der Treppe steht Dani und schaut mich ganz entgeistert an.
„Was ist das denn?“
„Das Ergebnis einer langen Geschichte.“
Sie sieht mich an. „Details. Alle.“
Ich lache. „Nachher. Versprochen.“
„Das will ich dir aber auch geraten haben.“
Dani klinkt sich auf meiner anderen Seite ein. Gemeinsam gehen wir über den Flur zu unseren Klassenräumen. Dani verabschiedet sich zu Kunst. Thanat und ich haben in der ersten Stunde Mathematik.
Wir sitzen bereits, als die Privaten herein kommen. Ihr Anführer, Kurd Termpolan, sieht wirklich böse in meine Richtung. Ohne Thanat neben mir würde ich jetzt weiche Knie bekommen. Hat Thanat Recht, dass er meine Entführung beauftragt hat? Er macht Anstalten zu mir zu kommen. Aus den Augenwinkeln registriere ich, wie Thanat aufsteht. Kurd macht zwei Schritte auf unseren Tisch zu. Alle Gespräche in der Klasse verstummen. Einer von Kurds Kumpanen zieht ihn zurück und tuschelt ihm etwas ins Ohr. Unwillig schüttelt er die Hand ab. Dann ballt er die Fäuste, wendet sich aber ab und setzt sich.
Thanat lässt sich ebenfalls auf seinen Stuhl sinken. Erst jetzt kann ich ihn wieder ansehen. Sein Gesicht ist entspannt, er lächelt abfällig in Richtung Kurd. Aber seine Augen sind pures Eis. Wäre ich am anderen Ende dieses Blicks, würde mir das Herz in der Brust gefrieren. Kein Wunder, dass Kurd keinen Zoff angefangen hat.
Er wendet den Kopf. Das Lächeln wird freundlich und das Eis in seinen Augen schmilzt in Bruchteilen einer Sekunde und macht einem warmen Blick Platz. Seine Hand legt sich auf meinen Unterarm. Beruhigt atme ich aus. Als unser Lehrer herein kommt, lässt er meinen Arm los und richtet seine Aufmerksamkeit nach vorne.
Heute hat sich unser Mathelehrer ausgedacht, dass wir berechnen sollen, welchen Energieeinsatz Raketentriebwerke benötigen, um in unseren planetaren Orbit zu kommen. Das finde ich lachhaft. Seit Jahren versucht unsere Industrie, Raketen zu bauen, um den Planeten zu verlassen. Aber außer für Trägerraketen für Bomben hat es bisher nicht gereicht. Und nun sollen wir, Schüler im Abschlussjahr, den hochbezahlten Köpfen vorrechnen, wo ihr Fehler liegt. Lustig. Ich lache später. Wenigstens können wir mit unseren Banknachbarn diskutieren.
Thanat wirft einen Blick auf die Aufgabe. Schüttelt seinen Kopf und dreht sich zu mir. „Wollen wir?“
„Hilft ja nichts, aber ich hasse Aufgaben ohne Lösungen.“
Er grinst mich an. „Warte es ab.“ Kurz berührt er meine Hand. Und schon wieder zwickt es in meinem Gehirn. Komisch.
Während der ersten Stunde diskutieren wir die Aufgabe. Ich bekomme dabei von meiner Umgebung fast nichts mit, so sehr nimmt mich das mathematische Gespräch mit meinem Banknachbarn gefangen. Wir werfen uns die Formeln zu, wie andere im Sport die Bälle. So nach und nach bauen wir eine Theorie auf, wie das Problem gelöst werden kann. Als ich einmal aufsehe, steht unser Lehrer, Herr Zusab, hinter uns. Mit nachdenklicher Miene verfolgt er die Entwicklung unserer Lösung. Herr Zusab ist einer der besseren Lehrer hier. Und in der Vergangenheit hat er mich vor zu heftigen Attacken meiner „lieben“ Mitschüler beschützt. Auch fachlich ist er sehr beschlagen. Einige Pausen haben wir schon zusammen verbracht und mathematische Probleme besprochen, weil ich die Lösung aus dem Lehrbuch hinterfragt habe. Ich glaube, er hatte auch seinen Spaß daran.
Nachdem eine Stunde herum ist, fragt er, wer eine Lösung gefunden hat. Hat niemand. Wie auch? Unsere Lösung fühlt sich für mich richtig an, aber beweisen kann ich es nicht. Als Herr Zusab in unsere Richtung blickt, wird mir mulmig. Will er unsere Lösung hören? Keine zehn Sekunden später weiß ich es. Er will. Wir sollen nach vorne kommen und unsere Formel vorstellen. Na toll.
Aber Thanat lässt mir keine Zeit zum Schmollen. Er steht auf und geht vor. Ergeben laufe ich hinterher.
Die Präsentation unserer Formel ähnelt verblüffend der über die Doppelhelix vor einiger Zeit. Nach wenigen Minuten haben wir die gesamte Klasse geistig abgehängt. Nur Herr Zusab hört uns interessiert zu und stellt Fragen. Als das Pausenklingeln ertönt, ist das das Signal für den Rest der Klasse, den Raum fluchtartig zu verlassen. Herr Zusab, Thanat und ich vertiefen uns in eine Diskussion über unsere Formel. Schließlich sieht Herr Zusab uns an.
„Frau Mondran hat mir von eurer Idee mit der Doppelhelix berichtet. Ich war gespannt, ob ihr bei dieser Aufgabe auch solch innovative Ideen habt. Es war ein bisschen unfair gegenüber dem Rest der Klasse, diese Aufgabe zu stellen. Aber ich konnte es mir nicht verkneifen.“ Dabei grinst er wie ein kleiner Junge, der den Honigtopf entdeckt hat.
„Mein Bruder arbeitet in der Raketenforschung. Wenn ihr nichts dagegen habt, möchte ich eure Formel mit ihm diskutieren.“
„Wenn Sie möchten, machen Sie das.“, gibt Thanat vollkommen ruhig von sich, während mir der Kopf schwindelt.
<Zeitsprung an>
Ein paar Tage darauf war ich schon etwas überrascht, als während der Mathestunde unsere Direktorin mit einem Mann herein kam, der Herrn Zusab wie aus dem Gesicht geschnitten ähnelte. Er stellte sich als der Bruder vor.
Unsere Direktorin berichtete, dass Herr Zusab mit seinem Bruder den Entwurf unserer Formel diskutiert hätte. Der Bruder wäre nun hier, um über das Ergebnis dieser Formel zu berichten. Nach einer allgemeinen Einführung über den Beruf des Raketenwissenschaftlers kam er auf den Durchhänger wegen der Berechnungen zu sprechen. Unsere ganze Klasse staunte nicht schlecht, als der Bruder berichtete, dass die Ansätze in unserer Formel den Durchbruch gebracht hätten. Auf der Basis dieser Formeln wäre man zuversichtlich, in ein paar Jahren die erste Rakete ins All schießen zu können.
Nach seiner Rede bat unsere Direktorin Thanat und mich nach vorne zu kommen. In gewohnt schwülstiger Art redete sie von der Bedeutung des Lernens, der Schule und unserer Wichtigkeit für die Zukunft unserer Industrie. Zum Abschluss gab sie bekannt, dass wir für die Entwicklung der Formel einen doppelten Bonus bekämen. Ich konnte es nicht fassen. Nun hatte ich schon in zwei Fächern einen hohen Bonus. Die staatlichen Mitschüler klatschten uns Beifall. Die Privaten natürlich nicht.
In der Mittagspause waren wir Schulgespräch. Dani freute sich mit uns. Dann beugte sie sich vor und warnte uns.
„Ich habe ein Gespräch von euren Privaten belauscht. Natürlich unabsichtlich. Kurd stachelte seine Mitspinner an, sie sollten sich etwas ausdenken, wie sie dich, Eyra, aus dem Verkehr ziehen können. Sie hätten wohl Druck von zu Hause bekommen. Wenn sie nicht die Besten des Jahrgangs werden, würden sie auf unbedeutende Positionen in den Firmen ihrer Eltern abgeschoben. Also passt auf euch auf.“
<Zeitsprung aus> Zurück an den Tag, als wir die Formel entwickelt haben.
Nach Schulschluss ist unser erster Lernnachmittag. Thanat fährt mich nach Hause. Ich möchte aus dem Galaxis gar nicht mehr aussteigen. Thanat sieht meine glänzenden Augen und lacht. „In ein paar Wochen wirst du 18, dann darfst du ihn fahren.“
Meine Augen werden riesengroß. „Du lässt mich den Schlitten fahren?“
„Ja, warum denn nicht?“ Jetzt kann ich es gar nicht mehr abwarten, endlich 18 zu werden.
In unserer Wohnung setzen wir uns an den Esstisch.
„Womit möchtest du anfangen?“, fragt Thanat mich.
Kurz überlege ich. „Chemie. Da bin ich am schwächsten.“
„Okay, beginnen wir mit der anorganischen Chemie.“ Ich gehe in mein Zimmer und hole meine Bücher. Darin schlage ich das Thema der Strukturchemie auf. Mein „Lieblingsthema“. In den folgenden Stunden dröselt Thanat mir die Welt der Strukturchemie auf. Ab und an berührt er meine Hand und der gewohnte Stich kommt.
Als wir eine Pause machen, frage ich ihn, ob er auch einen Stich bekäme, wenn wir uns berühren.
„Nein. Meine Finger kribbeln kurz. Fast wie bei einer Heilung. Aber einen Stich verspüre ich nicht.“
„Mir ist das schon bei unserer ersten Berührung aufgefallen. Damals, als du dich in der Klasse neben mich gesetzt und begrüßt hast.“
„Und danach haben wir über DNS und Doppelhelixe gesprochen?“
„Genau. Komisch, jetzt wo du es sagst.“
Einen Moment sieht er mich nachdenklich an. „Hast du Lust auf ein kleines Experiment?“
Zweifelnd sehe ich ihn an. „Was soll ich machen? Auf dem Kopf stehen und mit dem Hintern Fliegen fangen?“
Er grinst. „Wäre sicher ein interessanter Anblick. Aber nein, du kannst auf deinem entzückenden Po sitzen bleiben.“
Entzückender Po? Ich werde rot. Und er sieht es. Und er grinst immer noch. Lump! Blöd...Traummann.
Einen Moment lässt er mich in meiner Peinlichkeit schmoren. Dann erlöst er mich. „Nein, ich habe einen Verdacht, woher der Stich kommt.“
Fragend sehe ich ihn an. Aber natürlich kommt keine Antwort. Stattdessen hält er mir die Hand hin. Da ich nichts lieber mache, als ihn zu berühren, nehme ich sie. Zuverlässig kommt wieder der Stich. So im Nachhinein fällt mir auf, dass es nicht jedes Mal zwackt, wenn er mir die Hand gibt.
Ich sehe ihn an. „Und jetzt?“
„Beschreibe mir Libertah, wie es heute aussieht.“
Libertah, der kahle Felsen im südlichen Polarmeer? Ohne jedes Leben, aber ziemlich groß? Bis vor 20 Jahren nur eine bedeutungslose Felseninsel. Und jetzt Libertah. Geheimnisumwittert. Oft von Nebel umgeben, weswegen es keine Bilder gibt. Das soll ich ihm beschreiben? Skeptisch sehe ich ihn an.
Dann sprudelt es aus mir heraus. „Es gibt großzügig angelegte Siedlungen. Offene Parks sind zwischen den Häusern zu sehen. Im Mittelteil der Insel sind große Treibhäuser, mehrere Stockwerke hoch. Am südlichen Ufer sind Hafenanlagen. Ergänzt durch schwimmende Anlegestellen für Frachtschiffe etwas vor der Insel.“ Ich schweige verblüfft. Dabei habe ich nur Bilder beschrieben, die mir ganz klar vor dem geistigen Auge stehen.
Thanat schaut zufrieden. Ich bin nur noch verwirrt. Was war das? Fragend sehe ich Thanat an.
Konzentriert legt er die Fingerspitzen aneinander. „Ich habe eine Theorie. Wahrscheinlich wirst du lachen, wenn ich sie dir erkläre. Aber du hast schon die Heilung erlebt. Es gibt also ein paar Sachen, die mit purer Wissenschaft nicht zu erklären sind.“
Einen Moment pausiert er.
„Als ich dich das erste Mal gesehen habe und dir die Hand schüttelte, dachte ich mir, dass du eine faszinierende Kombination deiner Gene bist. Dabei stellte ich mir deine DNS als Doppelhelix vor. Und schon hast du angefangen, eine Helix zu zeichnen.“
„Willst du damit sagen, du hast mir das Bild davon in den Kopf gepflanzt?“
„Nicht bewusst. Ich wusste bisher nicht, dass das überhaupt geht. Heute Morgen bei der Matheaufgabe war es aber ähnlich. Nachdem wir die Aufgabe bekamen, habe ich über den Fehler der Raketenforscher nachgedacht. Ich hatte gleich eine Idee, wie wir zu der Lösung kommen. An diese Idee dachte ich, als wir uns berührten.“
„Nicht wahr, oder?“
„Nun, dann erkläre mir, wie du Libertah beschreiben konntest, ohne je dort gewesen zu sein. Denn Bilder davon gibt es hier nicht. Darauf achten die Bewohner von Libertah.“
„Das kann nicht sein. Kannst du meine Gedanken lesen?“ Ich bin ein wenig entsetzt bei dieser Überlegung. Vor allem bei DEN Gedanken, die ich manchmal, nein eher oft, habe, wenn ich ihn ansehe.
Lachend wiegelt er ab. „Nein, keine Angst. Aber manchmal wüsste ich schon gerne, was in deinem schönen Kopf vorgeht.“
Schöner Kopf? Wieder werde ich rot. Gut, dass er NICHT meine Gedanken lesen kann.
„Aber was bedeutet das jetzt?“, will ich wissen.
„Das bedeutet, dass wir unser gemeinsames Lernen und das Training auf ganz neue Beine stellen können. Wir werden viel schneller sein, wenn ich dir alles direkt in den Kopf pflanzen kann.“
Will ich das?
„Aber wie soll ich denn verhindern, dass du mir Quatsch eintrichterst?“
Thanat wird nachdenklich. „Du hast Recht. Das setzt ein großes Vertrauen deinerseits voraus. Was soll ich tun, um dein Vertrauen zu gewinnen?“ Er sieht mich mit offenem Blick an.
Lange muss ich nicht nachdenken. „Meine Frage ist eigentlich Unsinn. Du hast meine Mutter und mich gerettet. Hast meinen Eltern und mir dein Geheimnis der Heilung verraten. Damit hast du uns einen großen Vertrauensvorschuss gegeben. Außerdem scheinen dir auch andere Leute zu vertrauen, zum Beispiel Borde Koriat.“
„Danke. Ich verspreche auch, dir zukünftig nicht mehr ungefragt irgendwelches Wissen einzugeben.“
In seinen Augen erkenne ich die Wahrheit in seinen Worten. Erleichtert greife ich nach seiner Hand.
Mir fällt ein, was er eben über das Bild der Helix gesagt hat. „Dann stammt die Idee, die wir Borde erklärt haben, aber doch von dir. Du musst ihn anrufen, dass er dich als Mitautoren nennt.“
Thanat schüttelt den Kopf. „Nein, ist schon in Ordnung. Vieles von dem, was ich weiß, habe ich selbst geschenkt bekommen. Nun schenke ich es dir. Für dich ist diese Anerkennung weitaus wichtiger, als für mich. Bitte, nimm es als Geschenk an.“ Prüfend sehe ich ihm in die Augen. Dort erkenne ich nichts als die Wahrheit zu seinem Wunsch. Widerstrebend nehme ich es an.
Ergänzung:
Unser Lernen und das Training der folgenden Wochen wurde für mich zu einem verblüffenden Erlebnis. Was musste der Mann für ein Wissen in seinem Kopf haben, das er mir häppchenweise übergab?
Unnötig zu erwähnen, dass meine Beiträge im Unterricht immer qualifizierter wurden.
Einmal hatte ich eine ethische Diskussion mit Thanat, ob ich mir nicht einen unlauteren Vorteil verschaffe.
„Warum? Du betrügst nicht, du stiehlst nicht, du nimmst nur Wissen auf. Verarbeiten und in die richtigen Zusammenhänge bringen musst du das Wissen selbst. Du machst nichts, was deine Mitschüler nicht auch machen. Nur dein Lernweg ist ein anderer.“
„Aber ...“ Eigentlich hat er Recht. Ein kleines Unwohlsein bleibt aber.
Irgendwann gebe ich klein bei. Dazu macht es mir viel zu viel Spaß, die ganze Zeit mit Thanat zu verbringen. Meinen Horizont zu erweitern. In seine blaugrauen Augen zu sehen. Neues zu lernen. Seinen Mund zu betrachten, wenn er lacht. Das Zwicken im Kopf, das neue Erkenntnisse verheißt. Seinen Körper zu spüren, wenn wir in der Halle neue Griffe oder Würfe üben.