Читать книгу Thanats Welten 1 - Tauros - J. Reiph - Страница 16
ОглавлениеLibertah
System: 1654-Z65-7559-MM08-2884
Interner Systemname: Tauros
Zeitrechnung: Jahr 23 nach der Ankunft (n.d.A.), 36. Woche
Berichterstatterin: Eyra (nachgetragen)
Die folgenden Stunden flogen wie im Rausch an uns vorbei. Wie Herr Conster gesagt hatte, kamen bald haufenweise Leute. Sie parkten einen riesigen Container vor dem Haus. Schwer bewaffnete Männer sicherten alles ab. Und dann ging es ratzfatz. Alles wurde beschriftet, verpackt und verstaut. Bevor wir uns versahen, saßen wir im Flugzeug, das uns mit jeder Minute näher nach Libertah brachte. Vor lauter Aufregung haben wir kaum ein Auge zu getan. Bevor wir zusammenklappen, gibt Thanat uns der Reihe nach die Hände und pumpt etwas Energie in uns. Das hat eine erstaunlich belebende Wirkung.
Noch nie bin ich geflogen. Ich glaube, normale Flieger sind nicht so komfortabel wie unserer. Wir haben Platz. Massig. Die Anzeige an der Cockpitwand verheißt nur noch eine Stunde Flugzeit. Ich werde ganz nervös. Auch meine Eltern stecken mit den Köpfen zusammen und reden und reden und reden.
„Na, aufgeregt?“, fragt mich Thanat.
„Klar, was glaubst du denn?“
„Musst du nicht sein. Du wirst sehen, deine Eltern werden dort schnell Anschluss finden. Die Leute auf Libertah sind recht entspannt. Es gibt keine Restriktionen oder ungesühnte Verbrechen durch korrupte Polizisten, Verwaltungsleute oder Konzernmitarbeiter. So etwas wie der Überfall auf dich ist auf Libertah undenkbar. Die Eltern können ihre Kinder draußen spielen lassen, ohne dass ständig Aufpasser dabei sein müssen. Alle achten untereinander auf die Kinder anderer Eltern.“
„Das klingt ja fast paradiesisch. Aber wie ist das auf der Insel möglich? Sie war doch immer nur ein toter Felsen im Eismeer?“
„Der Gründer von Libertah ist materiell gesehen der reichste Mann des ganzen Planeten. Er hat die Insel gekauft und darauf die Städte, Industrieanlagen und die Landwirtschaft errichtet. Zumindest die ersten Ansätze davon. Die ersten Bewohner rekrutierten sich aus Flüchtlingen. Das ist auch heute noch so. Die Einwohner der Städte sind allesamt vor Gewalt und Verfolgung geflohen. Etliche haben dann Familienangehörige oder Freunde nachgeholt.“
„Wie viele Einwohner leben auf Libertah?“
„Ungefähr 150.000.“
„Sooo viele?“
„Ja, wir mussten in letzter Zeit schon ein wenig anbauen.“
„Wohnst du auch dort?“
„Hmm, wenn ich mal auf der Insel bin, habe ich dort auch eine Unterkunft. Sie ist übrigens recht nahe beim Haus deiner Eltern.“
„Du weißt schon, wo wir wohnen werden?“
„Jepp, ich kenne sogar eure Nachbarn.“
„Sag, wer ist das.“
„Euren direkten Nachbarn kennst du auch. Es ist Borde mit seiner Familie.“
Bei meinem Aufschrei schauen meine Eltern überrascht auf. „Borde Koriat ist unser neuer Nachbar?“
Thanat nickt. Jetzt ist die Aufmerksamkeit meiner Eltern geweckt. Sie drehen sich zu uns.
„Du weißt, wo wir wohnen werden?“, will meine Mutter wissen.
Ich mische mich ein. „Er hat sogar ganz in unserer Nähe selbst eine Wohnung.“
„Erzähl, wie ist es dort.“
Aber Thanat schmunzelt nur. „Nee, ich will es mir ja nicht entgehen lassen, eure Gesichter zu sehen, wenn ihr da seid.“ Zur Strafe boxe ich ihn gegen die Schulter. Was mir mehr weh tut als ihm, glaube ich. Gespielt finster sieht er mich an. „Na gut, ein paar Sachen kann ich euch ja noch erzählen.“
Er schaut uns nacheinander an.
„Ihr bekommt ein Haus bei den Beratern der zukünftigen Botschafterin. Da wohnt der engere Zirkel des Stabes. Unter anderem eben Borde Koriat oder Abert Conster. Aber es leben dort auch noch weitere bekannte Wissenschaftler, Wirtschaftsexperten und so weiter. Ihr werdet sie kennen lernen. Der Ort ist die sogenannte Hauptstadt von Libertah. Die Bewohner nennen ihn Liba. Dort ist auch die Verwaltung der Insel. Es gibt einen Bürgermeister, der alle vier Jahre von den Bewohnern gewählt wird. Seine Aufgabe ist es, die Entwicklung der Städte auf der Insel zu fördern. Er vertritt Libertah jedoch nicht nach außen. Das wird irgendwann die Aufgabe der Botschafterin sein.“
Einen Moment sammelt er sich.
„Fast alle Bewohner sind vor Gewalt geflohen oder von Verfolgten nachgeholt worden. Deshalb hat der Gründer von Libertah die Insel in ihren Grundstrukturen so angelegt, dass die Bewohner dort Ruhe, Frieden und Sicherheit vorfinden. Ihr werdet sehen, dass die Menschen tatsächlich freundlich zueinander sind. Sie stehen füreinander ein. Da alle eine ähnliche Vergangenheit haben, werden Neuankömmlinge schnell integriert. Die Kindertageseinrichtungen und Schulen sind kostenlos. Ebenso alle Leistungen der Verwaltung. Die Häuser und Wohnungen werden aus dem Vermögen des Gründers beziehungsweise den Einnahmen von Libertah bezahlt und an die Bewohner vergeben. Sie sind in der Regel Bestandteil des Lohnes, sobald jemand eine Arbeit aufgenommen hat.“
„Es wird immer wieder von dem Gründer geredet. Kennst du ihn?“
Thanat sieht uns einen Moment schweigend an. „Ja, ich bin der Einzige, der ihn kennt. Allerdings werde ich nichts über ihn verraten.“ An seinem Ton erkennen wir, dass weitere Fragen sinnlos sind.
Dann fährt er mit seiner Schilderung fort. „Auf Libertah kann jeder sagen, was er will. Die Grenze bildet nur die persönliche Beleidigung. Das wird allgemein nicht toleriert. Die Ausübung eines Berufes ist jedem frei gestellt. Aber nach einer kurzen Erholungsphase brennen die meisten darauf, Produktives zu leisten. Einige sind durch ihre Vorgeschichte geistig so schwer traumatisiert, dass sie nicht mehr arbeiten können. Sie werden in Kunstprojekten oder ähnlichen Aufgaben beschäftigt und haben schon Bemerkenswertes darin geleistet. Die von ihnen geschaffene Kunst ist öffentlich zugänglich, so dass sie ihren Teil zum Gemeinwohl beitragen.
Besonders gefördert wird die Forschung. Auf Libertah haben wir erkannt, dass Tauros auf den Kollaps zusteuert. Sämtliche Ressourcen des Planeten werden überstrapaziert. In einigen Jahren werden die ersten Verteilungskriege um Wasser oder landwirtschaftliche Nutzflächen beginnen. Die wichtigsten und selteneren Rohstoffe sind bald aufgebraucht. Und die Umwelt ist fast irreparabel verschmutzt. Wir wollen mit unserer Forschung Alternativen schaffen.
Basis ist eine Erfindung des Gründers, die unbegrenzt saubere Energie erzeugt. Nehmt zum Beispiel dieses Flugzeug. Es fliegt rein elektrisch. Unter uns befindet sich das bordeigene Kraftwerk. Die Vorräte für den Betrieb des Reaktors reichen für ein Jahr Nonstopflug. Auf Libertah wird auch alles elektrisch betrieben. Egal ob Busse oder Wagen. Sogar mein Galaxis ist auf Elektromotoren umgerüstet.“
„Aber der hat doch ganz normal geklungen.“, werfe ich ein.
Thanat grinst. „Er hat einen Geräuschgenerator. Diese reichlich vorhandene Energie erlaubte überhaupt erst die Besiedlung von Libertah. Rundum ist ein eisiges Polarmeer mit kalten Stürmen. Das was von außen als ständige Nebelbank wahrgenommen wird, ist tatsächlich ein elektrisch aufgebauter Schutzschirm. Er hält die Stürme ab. Regenwasser wird gesammelt und aufbereitet. Dazu kommen Meerwasserentsalzungsanlagen. Eigentlich sind die wegen des hohen Energieverbrauches unwirtschaftlich. Da unsere Energie aber so gut wie nichts kostet, können wir sie nutzen. Weil es trotz des Schutzschirmes nicht warm genug wäre, haben wir riesige Warmluftgebläse, die das Kuppelinnere beheizen.“
Wenn meine Eltern mein Spiegelbild sind, schaue ich gerade fassungslos. Kostenlose, unbegrenzte Energie. Schutzschirm. Was redet der Mann denn da?
„Das klingt jetzt vielleicht fantastisch, aber ihr seht es gleich selbst. Der Gründer hat einige technische Erfindungen gemacht, die uns auf Libertah ein angenehmes Leben erlauben. Nur ewig können wir uns nicht von der Außenwelt abschotten. Noch zwei, drei Jahre, dann müssen wir so weit sein, dass wir mit innovativen Konzepten an die Öffentlichkeit gehen. Sonst leben die Bewohner von Libertah in 200 Jahren alleine auf einer verwüsteten Welt.“
Wir müssen angesichts dieser Prognose schlucken. Aber Thanat hat schon Recht. Wir betreiben massiv Raubbau an unserem Planeten.
„Außerdem weckt Libertah zunehmend das Interesse der anderen Nationen. Bisher waren wir noch unter der Wahrnehmungsschwelle. Aber die Grenze ist nun erreicht.“
„Wie finanziert sich Libertah denn?“ Mein Vater beugt sich neugierig vor.
„Überwiegend über Rohstoffe. Der Gründer hat etliche Rohstoffquellen aufgetan. Wir beliefern die Industrien der anderen Nationen in immer größerem Umfang mit produktionswichtigen Materialien. Ohne die würden einige Industriezweige in den nächsten fünf Jahren zusammen brechen.“
„Aber dann beteiligt er sich ja auch am Raubbau am Planeten.“
„Nein, seine Quellen greifen die Ressourcen des Planeten nicht an. Es gibt auch noch andere Möglichkeiten.“
„Zum Beispiel?“
„Wiederverwertung.“
„Das genügt und lohnt sich?“
„Wenn Energie nichts kostet, schon.“
Ungläubig schüttelt mein Vater den Kopf.
„So, genug gequatscht. Schaut bitte aus den Fenstern auf der rechten Seite. Dort kommt Libertah gleich in Sicht.“
Wir suchen uns Fensterplätze und drücken uns die Nasen platt. Tatsächlich sehen wir nur eine große Nebelwand. In diese fliegen wir ein. Gerade will ich Thanat fragen, wie wir denn durch den Schutzschirm kommen, als wir auch schon hindurch sind. Vor uns breitet sich eine viele, sehr viele Quadratkilometer große, flache Insel aus. Von alten Fotos kannte ich sie nur als kahlen Felsen. Jetzt sehe ich Städte mit großen Grünflächen. In der Mitte der Insel sind flache Industriekomplexe und riesige gläserne Gebäude, innen ganz grün. Das müssen wohl die Gewächshäuser sein. Faszinierend finde ich, dass das Meer an den Küsten ruhig ist, während es vor der Nebelwand tost. Hatte ich durch den Versuch mit Thanat vor einigen Wochen nur einige schlaglichtartige Eindrücke von Libertah bekommen, staune ich nun angesichts der Pracht der Insel genauso wie meine Eltern.
Das Flugzeug dreht in einem Bogen ein und das Landefeld kommt in Sicht. Es liegt etwas abseits der Orte und wirkt fast militärisch. Es ist zu erkennen, dass es zur Insel hin abgesichert ist. Von meinem Platz aus kann ich sehen, wie die Triebwerksgondeln sich in ihren Aufhängungen drehen. Beim Abflug sind wir noch über eine Rollbahn gestartet. Aber anscheinend kann das Flugzeug auch senkrecht landen. Mit einem sanften Ruck setzen wir auf.
Jetzt ist es geschehen. Wir sind auf Libertah. Ein neuer Lebensabschnitt, vor allem für meine Eltern, beginnt. Thanat steht auf und geht zum Ausgang. Wir folgen ihm. Unser Handgepäck nehmen wir aus den Fächern über den Sitzen. Thanat dreht sich zu uns um. „Euer Gepäck wird euch nach Hause gebracht.“
Ein Service ist das hier!
Eine Treppe entfaltet sich aus dem Bauch des Flugzeugs. Als wir aussteigen, fährt gerade ein kleiner Bus vor. Thanat steht neben dessen Tür und winkt uns herein. Komischerweise sehe ich keinen Fahrer. Fragend sehe ich Thanat an.
„Der Bus fährt automatisch. Auf der Insel kann man sich jederzeit einen Bus anfordern. Man bekommt die Ankunftszeit genannt und wird abgeholt.“
„Und wie ruft man den Bus?“
Thanat zieht ein in etwa handgroßes Gerät aus der Hosentasche. Es hat eine schwarze Glasseite. Ich erkenne es wieder. Darauf hat er die Zahlencodes eingetippt, als der schmierige Anwalt bei uns war.
„Hiermit. Eure liegen schon in eurem Haus.“
Der Bus setzt sich in Bewegung. An einem Tor halten wir. Die Bustür öffnet sich und ein Mann in Uniform tritt ein.
„Guten Tag, willkommen auf Libertah. Mein Name ist Carly. Ich bin zuständig für die Einreisekontrolle.“
Er dreht sich zu Thanat. „Na, Kleiner, mal wieder im Lande?“
Der „Kleine“ grinst nur und beide Männer klatschen sich ab. „Ich kann dich ja nicht die ganze Zeit hier alleine schalten und walten lassen. Wo kämen wir denn da hin?“
„Schon klar.“, gibt der Mann in Uniform zurück. Mir wird ganz mulmig. Wenn in anderen Städten so mit Offiziellen gesprochen würde, wäre man im Knast, bevor man bis drei gezählt hätte. Ich glaube, hier müssen wir uns noch an einige Änderungen gewöhnen.
Thanat sieht ihn an. „Geht es deiner Frau und deiner Tochter gut?“
Carly schaut einem Moment versonnen aus einem Fenster. Ich glaube so etwas wie Erleichterung in seinen Augen zu sehen. „Ja, beide sind wieder vollkommen gesund. Danke noch einmal, dass du dich darum gekümmert hast.“
Thanat winkt nur ab. „Ist dein zweites Kind schon da?“
Als würde die Sonne aufgehen, erstrahlt das Gesicht des Uniformierten. „Ja, ein Sohn. Er ist vor drei Wochen auf die Welt gekommen. Gesund, munter und er hält uns nachts wach.“
Thanat steht auf, drückt ihn. „Ich gratuliere euch. Ein Mädchen und ein Junge. Das ist doch genau die Kombination, die ihr haben wolltet.“
Carly nickt. „Ja, wir sind rundum glücklich. Der Bürgermeister hat uns auch schon eine neue Wohnung gegeben. Nächste Woche ziehen wir um. Sie hat sogar Meerblick. Meine Frau ist inzwischen so entspannt, dass sie kaum noch Alpträume hat.“
Thanat drückt ihm die Schulter. Er freut sich sichtlich mit dem Mann. Meine Eltern und ich verfolgen das Gespräch mit steigendem Unglauben. Hat Thanat denn Anteil an JEDEM Schicksal hier auf der Insel?
„Carly, darf ich dir die Familie Dorba vorstellen? Yanica und Kansu.“ Er deutet auf meine Eltern. „Und ihre Tochter Eyra.“
Carly schüttelt uns die Hände. Meine Eltern wollen gerade ihre Pässe hervor holen. Doch Carly winkt ab.
„Danke, die benötigen Sie nicht. Sie haben den besten Leumund mitgebracht.“ Er deutet auf Thanat. „Außerdem wurde Ihre Ankunft bereits angekündigt.“
Wir staunen nicht schlecht.
„Ich wünsche Ihnen eine glückliche Zeit hier auf Libertah. So, nun will ich Sie nicht länger aufhalten. Sie sind bestimmt müde von der langen Reise.“
Das können wir nur unterstreichen, obwohl wir vor lauter Aufregung jetzt bestimmt nicht schlafen könnten. Carly verlässt den Bus und winkt uns noch einmal zu. Verdutzt winken wir automatisch zurück.
„Sag mal, das ist hier doch keine Sekte, oder so?“, frage ich Thanat.
Er lacht laut auf. „Nein, ganz und gar nicht. Wer einen speziellen Glauben oder eine ungewöhnliche sexuelle Ausrichtung hat, kann das hier ausleben, solange er andere nicht stört und gegenseitiges Einverständnis herrscht. Und Kinder und Minderjährige in Ruhe lässt. Aber wir sind hier definitiv nicht in einer Sekte.“
„Ich dachte nur, weil der Mann gerade so entspannt wirkte. Das ist für einen Offiziellen doch ungewöhnlich. Oder nimmt er Drogen?“
Thanat wird ernst. „Nein, Carly nimmt ganz bestimmt keine Drogen. Als er hier ankam, war seine Frau mehr tot als lebendig. Sie wurde von einem Pharmakonzern entführt und für Medikamententests missbraucht. Es war sehr schwierig, ihr das Leben zu retten. Aber jetzt ist sie körperlich wieder genesen. Auch die Tochter hatte unter den Einwirkungen der Medikamente zu leiden. Die Frau war schwanger, als sie entführt wurde. Ich konnte den Fötus noch im Mutterleib regenerieren. Die Geburt der gesunden Tochter hat sie emotional wieder in die Spur gebracht.“
Wir schweigen betroffen. Nach einem Moment wage ich eine weitere Frage. „Sie entführen schwangere Frauen?“
Thanat sieht mich regungslos an. Seine Augen haben sich verdunkelt als er nickt. Das ist mir Antwort genug. Meine Eltern und ich sehen uns erschüttert an. Was ist das für eine Welt, in der wir leben?
Es dauert länger als eine halbe Stunde, bis wir Liba erreichen. Immer wieder weisen wir uns gegenseitig auf besondere Ausblicke hin. Wir sind fasziniert von ungewöhnlichen Kunstobjekten am Wegesrand. Die offene Bauform der Siedlungen mit zentralen Grünflächen begeistert uns. Unsere alte Wohnung lag in einer Steinwüste. Dort gab es wenig Grün. In den Parks sehen wir Kinder herumtollen.
Irgendwann biegen wir in eine Straße ein. Auf der linken Seite befindet sich eine Häuserreihe. Hier stehen lauter hübsche, unterschiedliche Häuser nebeneinander. Alle haben kleine Vorgärten. Dahinter können wir das Meer sehen. Gegenüber ist eine Grünfläche, mit Wegen, einem Brunnen und Spielgeräten. Etwas weiter zurück erkenne ich einen kleinen Wald. Rund um den kleinen Park stehen weitere Häuser.
Wir halten vor dem vorletzten Haus. Das Haus links davon wirkt bewohnt. Kinderspielzeug liegt im Vorgarten und Gardinen bewegen sich hinter den geöffneten Fenstern. Rechts steht, leicht abgesetzt, ein etwas größeres Haus, das aber unbewohnt aussieht.
Die Wagentür öffnet sich und Thanat steigt aus.
„Herzlich Willkommen in eurem neuen Zuhause.“ Bei diesen Worten steigen wir aus. Draußen weht ein leichter Wind, es ist aber angenehm warm. Ich schaue nach oben und erwarte die Nebelbank zu sehen. Aber am Himmel sehe ich gigantische Wolkenformationen vorbei ziehen. Auch der Blick auf das Meer wird nicht von dem Nebel eingeschränkt. Thanat sieht meinen erstaunten Blick.
„Der Schutzschirm wirkt nur von außen wie eine Nebelwand. Von innen ist der Blick durchlässig.“
Fantastisch.
Der Bus fährt lautlos davon. Daran muss man sich erst gewöhnen. Am Ende der Straße sehe ich einen Wagen einbiegen. Thanat sieht ihn auch. „Ah, der Bürgermeister kommt schon mit eurem Schlüssel.“
Gleichzeitig mit der Ankunft des Wagens geht im Nachbarhaus die Eingangstür auf. Ein Mann und eine Frau treten heraus und kommen auf uns zu. Ich lache auf, als ich Borde Koriat erkenne.
Aus dem Wagen steigt ein schon älterer Mann aus. Sein Fell hat deutliche graue Spuren. Und an seiner Körpermitte erkennt man, dass Sport nicht sein Ding ist. Sein Gesicht aber wirkt freundlich. Erstaunlich dynamisch kommt er zu uns. Er streckt seine Hand aus und ruft: „Familie Dorba, schön Sie hier zu sehen. Herzlich Willkommen auf Libertah und in Liba.“ Nacheinander schüttelt er unsere Hände.
Nach unserer Begrüßung dreht er sich zu Thanat. Der bekommt einen kräftigen Schlag auf die Schulter, wofür der Bürgermeister sich leicht strecken muss. „Na, Kleiner, lässt du dich auch mal wieder sehen?“
Thanat zieht ein mürrisches Gesicht, um seine Augen zeigen sich aber Lachfalten. „Ja, du mich auch.“
Der Bürgermeister grinst ihn an, bevor er uns wieder ansieht. „Gestatten Sie mir, mich vorzustellen. Mein Name ist Rulf Recker. Ich bin der Bürgermeister der Stadt Liba und vertrete die Verwaltung der Insel. Wenn Sie irgendein Problem haben, scheuen Sie sich nicht, zu mir oder meinen Mitarbeitern zu kommen. Wir haben immer ein offenes Ohr.“
Er zieht aus seiner Jackentasche einen Umschlag. Den reicht er meinem Vater. „In diesem Umschlag befinden sich Ihre Ausweise. Die können Sie zum Öffnen der Tür Ihres Hauses nutzen. Auch andere öffentliche Gebäude öffnen Sie damit. Falls Sie verreisen möchten, benötigen Sie leider noch einen Pass, weil nicht alle Nationen unsere Ausweise anerkennen. Pässe bekommen Sie binnen einer Stunde im Verwaltungsgebäude. In Ihrem Haus finden Sie Mappen mit allen wichtigen Informationen zum Leben auf Libertah.“
Mein Vater gibt uns die Ausweise. Dort steht neben unserem Namen auch die Adresse. Und ein Bild ist aufgedruckt. Woher haben die hier in der Verwaltung Bilder von uns? Ein bisschen unheimlich wird mir jetzt doch.
Der Bürgermeister sieht zu mir auf. „Eyra, dein Pass wird spätestens morgen gebracht, da du ja erst noch die Schule beendest.“ Jetzt bin ich vollends verblüfft. Keine seitenlangen Anträge, keine stundenlangen Wartezeiten und keine Bestechungsgelder. Hier geht das alles so. Unglaublich.
„Leider habe ich gleich Stadtratssitzung, deswegen kann ich nicht länger bleiben. Thanat, darf ich es dir überlassen, Familie Dorba alles zu erklären?“
„Kein Problem.“
„Danke. Ihnen einen guten Start.“ Er winkt uns zu, steigt in seinen Wagen und verschwindet lautlos. Elektroantrieb. Tatsache.
Als wir uns zurück drehen, steht Borde Koriat vor uns. „Auch von uns ein herzliches Willkommen. Ich freue mich, die Eltern der so faszinierenden Eyra kennen zu lernen. Mein Name ist Borde Koriat. Und das ist meine Frau Anie.“
Die stille Frau tritt vor und reicht uns die Hand. Ihr Willkommensgruß ist sehr leise, so dass wir ihn nur schwer verstehen. Kaum haben wir uns vorgestellt, kommt ein kleiner, bunter Wirbelwind um die Ecke des Nachbarhauses gefegt.
„THANNI! Da bist du ja!“ Der Wirbelwind entpuppt sich als ein etwa dreijähriges Mädchen, das auf ihren kurzen Beinen direkt auf Thanat zu läuft. Thanni? Ich kann mir ein Schmunzeln nicht verkneifen.
Fast bei ihm angekommen, springt das Mädchen einfach hoch. Im kindlichen Urvertrauen, dass Erwachsene sie schon auffangen werden, springt sie Thanat in die Arme. Der fängt sie lachend auf und wirbelt sie einmal herum. Das Mädchen quittiert das mit einem begeisterten Quieken.
Wäre das Kind größer, hätte ich Angst um Thanats Atemwege, so fest presst sie ihre Arme um seinen Hals. Komplett erstaunt bin ich, als sie ihm einen dicken (und feuchten) Kuss mitten auf den Mund gibt. Ein Blick zu den Eltern zeigt mir, dass sie das Schauspiel lustig finden und bereits kennen.
Gleich fängt die Kleine an zu plappern. „Ich hab eine neue Puppe, die musst du dir angucken. Und ich habe Kuchen in der Sandkiste gemacht. Möchtest du ein Stück? Im Kindergarten habe ich eine neue Freundin. Sie hat ganz lange Zöpfe. Memi, darf ich auch lange Zöpfe haben?“ Die Mutter verdreht nur die Augen.
Inzwischen kommen auch die Bewohner der anderen Häuser zu unserer kleinen Gruppe.
Resigniert sagt Borde: „Und diese Nervensäge ist unsere Tochter Miri.“
„Babo, was ist eine Nervensäge? Thanni, kannst du mir sagen, was eine Nervensäge ist?“
Mit völlig ernstem Gesicht sagt der Riese: „Du, ich habe überhaupt keine Ahnung, was dein Vater meinen könnte. Frag doch mal Eyra. Sie ist ganz schlau und weiß vielleicht, was dein Babo meint.“
„Wer ist denn Eyra?“
Thanat dreht sich so, dass Miri mich ansehen kann. „Das ist Eyra.“
Die Kleine sieht mich an. Legt ihren Kopf schräg. „Du bist aber groß.“
Gute Auffassungsgabe, die Kleine. „Ja, das stimmt.“
„Aber du bist hübsch. Nur etwas blass. Kommt das vom Flug? Ist dir schlecht geworden?“
„Nein, mir ist nicht schlecht geworden.“
„Hast du Hunger? Soll ich dir von meinem Sandkuchen etwas holen?“
Sie windet sich in Thanats Armen. Der lässt sie herunter. Und schon saust Miri wie ein geölter Blitz los. Dabei übersieht sie eine Rasenkante und schlägt lang auf den Gehweg. Nur Sekundenbruchteile später beginnt eine Sirene zu jaulen. So hört es sich an. Anie eilt zu ihrer Tochter und hebt sie auf. Beruhigend redet sie auf sie ein.
Sie will mit dem bitterlich weinenden Kind ins Haus gehen. Doch das scheint Miri nicht zu passen. Vehement ruft sie: „Thanni soll mir helfen!“
Fragend schaut Anie zu Thanat. Der nickt nur. Ist seine Heilfähigkeit hier allgemein bekannt? Andererseits, wenn ich an die Begegnung mit Carly zurück denke und die Schilderung der Behandlung seiner Frau.
Bei uns angekommen, schaut Miri zu Thanni (haha) auf. „Kannst du das wegmachen?“, schnieft sie und zeigt dabei auf das aufgeschrammte Knie.
Thanat sieht sie besorgt an. „Auweia, das ist eine ganz schön schwere Verletzung. Dafür gebrauche ich Hilfe.“
Mit immer noch tränenden Augen sieht sie ihn an. „Wer soll dir denn helfen?“
„Darf Eyra sich dein Knie einmal ansehen?“ Ich höre, wie meine Eltern scharf einatmen.
Miri ist davon aber unbeeindruckt. „Kann sie denn auch zaubern?“, fragt sie von einem Schluchzer unterbrochen.
Thanat blinzelt ihr zu. „Warum meinst du wohl, ist Eyra denn so groß geworden? Wir großen Menschen sind auch ganz große Zauberer.“
„Ehrlich?“
„Großes Ehrenwort.“ Dabei legt er seine rechte Hand über sein Herz. „So, jetzt wollen wir mal zaubern. Frau Eyra, sind Sie bereit?“
Ich bemühe mich, ein angemessen feierliches Gesicht zu machen. „Jawohl, Herr Thanat, allzeit bereit.“
„Frau Eyra, legen Sie bitte Ihre Fingerspitzen - vorsichtig - auf die gravierende Verletzung dieser tapferen jungen Dame.“ Miri bekommt große Augen. Die umstehenden Erwachsenen schauen ganz still zu.
Ich lasse meine Fingerspitzen knapp über der Wunde schweben. Thanat legt seine Hand auf meine Schulter. Er raunt mir ins Ohr. „Ich gebe dir Energie.“
Laut sagt er. „Sehr gut, Frau Eyra. Jetzt berühren Sie die Wunde.“
Ganz leicht lege ich die Fingerspitzen auf die Schürfwunde. Gleich fangen meine Finger an zu kribbeln. Die Fingerspitzen beginnen zu leuchten. Ein leichter Energiestrom dringt in das Knie der kleinen Miri. Von innen verheilt die Wunde. Dreck wird herausgedrückt. Nach wenigen Sekunden ist sie geschlossen. Ich wische einmal über das Knie. Der Schmutz ist fort. Das Knie ist unversehrt.
Thanat sieht mich verschmitzt an. Mit wichtiger Miene sagt er: „So, Frau Eyra. Nun fehlt noch das Wichtigste - der Heilungskuss!!“
„Oh, ja, ohne den geht gar nichts.“ Wir beugen uns vor und geben Miri jeder einen Kuss auf die Wange. Sie strahlt über das ganze Gesicht.
„Was meinen Sie, Herr Thanat, können wir dieses unglaublich tapfere Mädchen als geheilt entlassen?“
Thanat streicht sich um das Kinn. „Hmm, ja. Ich denke, das können wir verantworten. Sie haben einen guten Job gemacht, Frau Eyra.“
Als ich aufsehe, schauen mich alle Nachbarn wie ein Weltwunder an. Nur Miri nicht. Sie quietscht laut auf. „Memi, Eyra, hat mein Knie heile gemacht!“ Mit kindlicher Begeisterung wirft sie sich an meinen Hals. Mit meinem Anhängsel stehe ich auf. Als ich Miri sicher auf meinem Arm sitzen habe, lässt sie meinen Hals los. Dafür komme auch ich in den Genuss eines festen - und feuchten - Kusses auf den Mund.
„Memi, darf Eyra meine Freundin sein? Ich hab sie auch ganz lieb.“
Die Mutter schaut mich immer noch mit großen Augen an. „Da musst du Eyra fragen.“, haucht sie leise.
Miri dreht sich zu mir. „Möchtest du meine Freundin sein?“
Ich lache. „Sicher, das wäre mir eine große Freude.“
Sie jauchzt laut auf. Auf einmal wird sie ganz ernst. Was kommt denn jetzt?
„Weißt du, eigentlich wollte ich Thanni heiraten, wenn ich erwachsen bin.“ Hinter mir höre ich ein unterdrücktes Prusten. „Aber Thanni ist ja schon sooo alt.“ Noch mehr Prusten. „Und er ist so groß. Du bist auch groß. Ich glaube, du solltest ihn heiraten. Du bist meine Freundin, deswegen kannst du ihn haben.“
Jetzt können die umstehenden Leute das Lachen nicht mehr unterdrücken. Die kleine Miri strahlt mich an. Und ich? Ich werde rot bis in die Haarspitzen.
Als sich das Lachen etwas gelegt hat, komme ich auch wieder zu Wort. „Danke, Miri, das ist sehr großzügig von dir. Ich werde es mir überlegen, in Ordnung?“
„Ist gut.“, sagt sie mit kindlicher Unschuld. „Wenn du ihn nicht haben willst, nehme ich ihn dann später.“
Sagt es, macht sich los und läuft davon.
Ich schaue meinen „Verlobten“ an. Der Lump grinst aber nur von einem Ohr bis zum anderen.
Die Situation wird unterbrochen durch ein Räuspern von Borde Koriat. „Eyra, hast du Miri geheilt, oder war das Thanat?“
Ich sehe Thanat an.
Er schaut in die Runde. „Das war Eyra.“
Alle starren mich an. Anie löst sich als Erste aus der Runde. Sie ergreift meine Hand. Mit ihrer leisen Stimme spricht sie: „Es ist ein Wunder. Wir freuen uns, dass du hier bist. Das Geheimnis um die Heilfähigkeit von Thanat kennen wir alle. Sei gewiss, dass wir dein Geheimnis gut bewahren werden. Das weiß auch Thanat, sonst hätte er nicht zugelassen, dass du es hier offenbarst.“
Borde tritt vor. „Ich wusste ja schon die ganze Zeit, dass du besonders bist. Aber du erstaunst mich immer wieder.“
Der Bann ist gebrochen und alle Nachbarn umringen uns, um uns zu begrüßen. Nach einer Weile ruft Borde.
„Leute, lasst sie erst einmal ankommen. Was haltet ihr davon, wenn wir nachher eine spontane Grillparty feiern?“ Allgemeine Zustimmung folgt.
Er wendet sich an uns. „Ruht euch ein wenig aus und macht euch frisch. Wir treffen uns gegen vier dort im Park. Da können wir euch mit einer kleinen Grillparty angemessen willkommen heißen.“
Meine Eltern stimmen zu. Alle gehen schwatzend zu ihren Häusern zurück. Über wen sie wohl sprechen? Aber obwohl ich auch hier ein Freak bin, hat mich niemand abschätzig oder angeekelt angesehen. Die Nachbarn scheinen sehr tolerant zu sein. Oder geprägt durch Heilaktionen von Thanat. Mal sehen.
Mit seinem Ausweis öffnet mein Vater die Tür zu unserem Haus. Neugierig betreten wir es. Wir werden von einem Eingangsbereich erwartet, der genügend Raum bietet, um Gäste zu begrüßen. An einer Wand ist Platz für eine Garderobe. Gegenüber geht es ins Wohnzimmer. Rechts geht eine Tür in die Küche. Links ist eine Treppe, die nach oben und in den Keller führt. Eine weitere kleine Tür lässt ein Gäste-WC erwarten. Wir gehen gleich durch in das Wohnzimmer. Es ist sehr groß mit einem Panoramafenster zum Garten und zum Meer. Der Garten fällt leicht zum Meer hin ab. Dadurch sehen wir die bewegten Wellen vor der Insel. In der Ferne erkennen wir einen weißen Gischtstreifen. Dort muss der Schutzschirm sein. Aus unserem alten Wohnzimmer konnten wir nur auf den gegenüber liegenden Wohnblock sehen. Jetzt stehen wir andächtig nebeneinander. Meine Eltern und ich haben uns an die Hände genommen. Ehrfurchtsvoll schauen wir hinaus auf das Meer.
Es vergehen einige Minuten, bis wir wieder in der Lage sind zu sprechen. Die Wangen meiner Mutter glänzen von ihren Tränen. Auch mein Vater hat feuchte Augen.
„So schön.“ Die Stimme meiner Mutter beweist, wie ergriffen sie ist. Sie zieht ihren Mann und mich in eine lange Umarmung. Noch mehr Tränen fließen. Wir können es immer noch nicht glauben, wie sehr sich unser Leben in den letzten Stunden verändert hat.
Nach einer Weile lösen wir uns. Ich schaue mich um und vermisse Thanat. Als hätte er gewusst, wie lange wir benötigen, um uns wieder zu fassen, kommt er in dem Moment aus der Küche ins Wohnzimmer. Rücksichtsvoll hatte er sich zurückgezogen. Meine Mutter zieht ihn zu sich herunter. Sie gibt ihm einen Kuss, nicht so feucht wie von Miri und auch nur auf die Wange. „Danke, Thanat. Danke, danke, danke.“
Mein Vater wischt sich über die Augen und auch er umarmt ihn. Schließlich gehe ich zu ihm, nehme seine Hände und drücke sie fest. Wir sehen uns tief in die Augen. Dabei kann ich erkennen, dass seine Sorge etwas abgemildert ist. Ein wenig Frieden scheint in diesem Moment bei ihm eingekehrt zu sein.
Wer ist dieser Mann? Nach allem, was ich bisher hier auf der Insel und schon vorher durch Borde Koriat und Herrn Conster erfahren habe, hat er wohl einigen Bewohnern der Insel geholfen, wie er es bei uns getan hat. Und er hat nicht auch nur ein Wort verlauten lassen, wie wir es ihm vergelten sollen. Im Gegenteil, jeden Dank hat er von sich gewiesen. Aus den bisherigen Reaktionen schließe ich, dass ihn alle hoch schätzen, aber dennoch ungezwungen mit ihm umgehen. Ich habe erlebt, welch ein gnadenloser Kämpfer er ist. Aber auch, wie verspielt im Umgang mit Kindern. Wie freundlich er mit den Leuten umgeht. Wie er sich veräppeln lässt, ohne eine böse Miene zu machen. Wie er anderen den Vortritt lässt und nicht allen Ruhm für sich beansprucht. Wenn ich mich nicht bereits hoffnungslos in ihn verliebt hätte, wäre es spätestens jetzt geschehen. Ich wünsche mir so sehr, er würde für mich auch so empfinden.
Ich gönne mir noch einen Moment in den Tiefen seiner Augen. Dann umarme ich ihn lange und sonne mich in der Geborgenheit seiner Umarmung. Für mein Gefühl viel zu schnell lösen wir uns voneinander. Meine Hände gleiten an seinen Armen herunter, bis sie seine Hände noch einmal für einen kurzen Druck zu fassen kriegen.
Mit einem Räuspern wende ich mich zum Fenster. Dort liegen drei Kartons. „Was ist das?“
Thanat geht hin, nimmt die Kartons und drückt jedem von uns einen in die Hand. Sie sind mit unseren Namen beschriftet.
„Das sind Mobiltelefone. Im Volksmund auch Mobi genannt. Damit könnt ihr von überall aus telefonieren.“
Jetzt ist es an meinem Vater, dem Technikmeister, erstaunt aufzusehen. „Wie soll das denn gehen? Es hat schon etliche Versuche gegeben, Mobilfunk einzuführen. Aber alle Versuche scheiterten an der Störung durch die Sonnenstrahlung. Es hat bisher niemand geschafft, diese so abzuschirmen, dass ein Empfang möglich ist.“
„Nun, der Gründer hat einen Weg gefunden. In ungefähr einem halben Jahr werden wir einen Partner für die Massenproduktion der Geräte suchen. Dann wollen wir die ganze Welt damit ausstatten. Was ihr in den Händen haltet, sind die Geräte aus der Prototypenfertigung. Sie sind aber bereits ausgereift.“
Er zieht sein eigenes Gerät aus der Tasche. Es ist in etwa so groß wie meine Hand. Die Vorderseite besteht aus einem dunklen Glas. Am Gerät zeigt er uns einen Knopf. „Hier schaltet ihr es ein.“ Wir machen das bei unseren Geräten. Nach wenigen Sekunden wird ein ovales Feld eingeblendet.
„Legt bitte einen Daumen auf das Feld.“ Das machen wir. Sekunden später erscheint der Text. „Abdruck erkannt und gespeichert.“
„Jetzt sind die Geräte auf euch registriert. Nur mit euren Daumenabdrücken können sie jetzt noch aktiviert werden. Das Gerät erkennt zudem, ob es ein lebender Daumen ist. Ein Versuch, ein Gerät durch den Daumen eines Toten oder mittels eines Überzugs über einem fremden Daumen zu entsperren, klappt nicht. Nach dem Einschalten bucht sich das Mobi in ein Funknetz ein. Ihr könnt darüber andere Mobis anrufen. Es gehen aber auch Festnetznummern. Eyra, du kannst darüber zum Beispiel Dani erreichen. Dazu verbindet sich das Mobi mit dem Festnetz von Libertah und von dort weiter zu Dani.“
Gebannt schauen wir auf die Geräte. Thanat hält sein Gerät neben unsere. Durch eine Wischbewegung ruft er ein Symbol in den Vordergrund. Er drückt auf das Symbol auf seinem Display. „So, ich habe meine Mobi-Nummer auf eure Geräte übertragen. Eure Nummern habe ich bei mir gespeichert. Ihr findet meine Nummer unter den Kontakten. Alles andere könnt ihr in den Bedienungsanleitungen lesen, die in den Kartons sind. Wie ihr euch damit in die Bibliothek einbuchen könnt, erkläre ich euch später. Morgen würde ich euch gerne die Stadt zeigen, und auch die Bibliothek. Wenn ihr wollt.“
Und wie wir wollen.
„Möchtet ihr euch das Haus ansehen? Ich warte dann im Garten.“
Ein kollektives Nicken antwortet ihm. Thanat öffnet die Tür in der Panoramascheibe und geht hinaus. Wir sehen uns an. In unseren Augen steht die Erleichterung, dass wir wohlbehalten hier sind und uns jetzt keine Bleibe in unserer alten Stadt suchen müssen. Hier ist alles neu, vieles anders, aber scheinbar auch vieles besser. Im stummen Einvernehmen gehen wir in das obere Stockwerk.
Wir finden drei Räume und ein Bad. Ohne Streit teilen wir die Zimmer auf. Wir nehmen die beiden Zimmer zur Meerseite als Schlafzimmer. Sie haben bodentiefe Fenster. Der erste Blick nach dem Aufstehen fällt dann auf das Meer. Herrlich! Der dritte Raum und das Bad gehen nach vorne raus. Das wird das Gäste- oder Arbeitszimmer. Erstaunt sind wir, dass es keine sichtbaren Heizkörper gibt. Aber neben den Türen sind Schalteinheiten zur Temperaturregelung. Geistig mache ich mir eine Notiz, um Thanat danach zu fragen. Dagegen kapieren wir schnell, was die Schalter neben den Fenstern zu bedeuten haben. Ein Druck und die Scheiben werden dunkel oder nur von innen durchsichtig. Genial.
Im Keller finden wir drei Räume vor. Einer ist massiv abgesichert. Innen hat er einen kleinen grauen Kasten, aus dem Kabel herausgehen. In einer Ecke ist ein Gerät, das aussieht wie ein Luftfilter. Wüsste ich es nicht besser, hätte ich den Raum für einen Bunker gehalten.
Was uns irritiert sind die ganz glatten Wände. Alle Räume sind hell. Die Wände sind in einem weißen Farbton gehalten. Aber das Material der Wände erschließt sich uns nicht. Es ist weder Holz noch Stein. Es wirkt fast wie geschmolzen.
Zurück im Erdgeschoss sehen wir Thanat im Garten stehen. Er schaut auf das Meer hinaus. Im Licht der hinter Wolken verdeckten Sonne wirkt er regelrecht einsam, wie er dort steht. Warum ich Einsamkeit mit seinem Anblick verbinde, weiß ich nicht. Es passt einfach.
Wegen seiner Leichtigkeit im Umgang mit den Leuten, seiner Unbeschwertheit, wenn er mit mir zusammen ist, habe ich immer gedacht, er ist voll integriert. Nicht so ein Außenseiter wie ich. Doch ihn dort ganz alleine stehen zu sehen, macht mir klar, dass er eigentlich ebenso Außenseiter ist. Außerdem trägt er eine schwere Bürde, wenn er bereits so viele Leute gerettet hat. Nur an seinem Status als Schüler kommen mir Zweifel. Ich habe ihn immer für gleichaltrig, plus vielleicht zwei Jahre, gehalten. Aber alleine, dass Borde bereits vor drei Jahren von ihm hierher gebracht wurde, widerlegt meine Vermutung. Geheimnisse über Geheimnisse.
Als wir in den Garten treten, dreht er sich um. Wir bestaunen unseren kleinen Garten. Unser eigenes Fleckchen Grün. Etwas, was wir noch nie hatten. Vor meinem geistigen Auge sehe ich eine Sitzgruppe. Ein paar Blumenbeete und eine fröhliche Familie, die am Zehnten glücklich auf der Terrasse sitzt und Kuchen isst.
Wir gelangen bei Thanat am Rand unseres Gartens an. „Unseres“, das Wort muss ich mir auf der Zunge zergehen lassen. Dort stehen wir nebeneinander. Genießen den Ausblick auf das Meer. Ein leichter und warmer Wind zerzaust mein Haar, das ich heute wieder offen trage. Wie ich es häufiger offen trage, seitdem Thanat mir gesagt hat, dass es ihm gefällt.
Ein paar Minuten genießen wir den Ausblick.
Thanat bricht das Schweigen. „Gefällt euch das Haus.“
„Traumhaft.“, antwortet meine Mutter mit einem Seufzen.
Mein Vater, ganz der Technikmeister, fasst unsere Neugier über das Baumaterial des Hauses in Worte. „Woraus ist das Haus gemacht? Es ist weder Holz noch Stein. Das Material kenne ich nicht.“
„Es ist tatsächlich aus Stein. Aber wir bauen die Häuser nicht Stein für Stein aufeinander. Wir schmelzen sie aus dem Boden. Das Material eures Hauses ist der Felsen, der früher euren Keller bildete. Der Stein wird eingeschmolzen und flüssig in die Form des Hauses gebracht. Du kannst dir das wie einen riesigen dreidimensionalen Drucker vorstellen. Deshalb werdet ihr auch keine Nägel in die Wand schlagen können, um Bilder aufzuhängen. Dafür ist das Material zu hart. In Liba bekommt ihr dafür Klebehaken. Wenn ihr das Haus umbauen wollt, kommen Bauarbeiter mit mobilen Schmelzgeräten. Sie können Zwischenwände heraus schmelzen und woanders neu einfügen. Wegen der Dichte und Struktur des Materials ist es gut isolierend. Übrigens sind auch die Straßen im Schmelzverfahren entstanden. Wegen der Griffigkeit ist nur die oberste Schicht aufgeraut.“
„Und was ist das für ein Raum im Keller? Der mit dem grauen Block?“
Thanats Miene wird ernst. „Das ist ein Panik- und Schutzraum. Im Falle eines Angriffs können die Bewohner des Hauses darin Deckung finden. Die Decke des Raumes ist besonders fest. Sie hält auch schwerem Bombardement statt. Libertah hat Neider. Und es werden bald noch viel mehr sein. Wir haben keine Armee, wenn wir auch nicht schutzlos sind. Aber wenn es wirklich mal zu einem Angriff kommt, sollen die Bewohner bestmöglich geschützt sein. Es ist unwahrscheinlich, dass Libertah erobert wird. Aber sicher ist sicher. Der graue Kasten ist ein kleines Kraftwerk. Die Häuser hängen alle am allgemeinen Stromnetz. Sollten die Leitungen mal unterbrochen sein, springt das Aggregat an. Außerdem versorgt es den Schutzraum mit Strom, vor allem für die Belüftungsanlage. Einrichten könnt ihr den Raum übrigens, wie ihr wollt.“
„Womit wird das Stromaggregat denn betrieben? Ich habe nirgendwo einen Öltank gesehen.“
„Fossile Brennstoffe sind ja auch eine Sünde für die Umwelt. Das Aggregat ist technisch gesehen ein Reaktor. Er funktioniert nach dem Prinzip der Materieaufspaltung. Oben auf dem Kasten ist ein Deckel. Darunter befindet sich das Fach für die Reaktionsmasse. Du kannst dort hinein tun, was gerade zu Hand ist. Allerdings gilt, je dichter die eingefüllte Materie, desto länger läuft der Reaktor.“
„Materieaufspaltung? Wie geht das denn.“
„Hmm, die Erklärung schaffe ich nicht mehr bis zur Grillparty. Können wir das auf später vertagen? Oder Eyra erklärt es euch.“
„Eyra?“ Mein Vater sieht zu mir. „Du kennst das Prinzip?“
In dem Moment hat Thanat meine Hand erfasst. Es ziept wieder im Kopf. Ich verdrehe die Augen und antworte meinem Vater. „Jetzt ja.“ Mein Vater reagiert aber nicht darauf.
Eine Frage habe ich auch noch.
„Du hast gesagt, deine Wohnung ist ganz hier in der Nähe. Wo denn?“
Thanat zieht mich etwas näher an den Rand. Er zeigt auf einen Punkt am Ufer, wo sich der Fels ungefähr 30 Meter über dem Meer erhebt.
„In der Felswand.“
„Du wohnst in einer Höhle?“
„Naja, nicht ganz. In der Wand ist meine Wohnung. Außerdem habe ich dort mein eigenes Fluggerät geparkt.“
„Du hast ein eigenes Flugzeug?“
„So in etwa. Es kann etwas mehr, als ein normales Flugzeug.“
„Was denn?“
„Unter Wasser fahren. Sich unsichtbar machen. Geräuschlos fliegen. Andere Flugzeuge vom Himmel schießen. Ein paar Leute transportieren. Sehr schnell sein. Und so weiter.“
„Ein Flugzeug für Kampfeinsätze?“ Mich schaudert, wenn ich daran denke, was er mit dem Gerät macht. Machen muss.
Er nickt. „Durchaus. Es hat schon einen gewissen Kampfwert. Sollten wir tatsächlich mal angegriffen werden, wäre mein Fluggerät eine der Waffen zur Abwehr der Feinde.“
„Du würdest für uns in den Krieg gehen?“
„Natürlich. Ich hole doch keine Leute hierher, wenn ich nicht bereit und in der Lage bin, sie zu beschützen.“
In diesem Moment ist er mir fast unheimlich. Die Entschlossenheit, mit der er das sagt, erweckt eine Gänsehaut auf meinen Armen.
Thanat lächelt und nimmt mir meine Sorge. „Aber keine Angst, mein Fluggerät ist weder das einzige noch das stärkste, über das wir verfügen.“
Er schaut auf seine Uhr. „Wollt ihr euch noch etwas frisch machen, bevor der Grill angeworfen wird?“
Wir nicken und gehen zurück in das Haus. Das Gehörte müssen wir erst einmal verdauen.
Eine Stunde später schlendern wir in den Park. Die Nachbarn haben schon einen langen Tisch aufgebaut. Überall wuseln Kinder herum. Auch Jugendliche in meinem Alter sehe ich. Es herrscht ein fröhliches Durcheinander. Als wir uns der Gruppe nähern, kommt uns Borde entgegen. Er hält eine Pfanne und eine Kelle in der Hand. Neben uns bleibt er stehen. Mit der Kelle schlägt er ein paar Mal gegen die Pfanne. Von dem Geräusch werden alle in ihrer Arbeit unterbrochen. Borde hat damit die Aufmerksamkeit auf sich und auf uns gezogen. Als alle in unsere Richtung blicken, wird mir flau im Magen. Natürlich falle ich wieder auf. Einsneunzig. Anderseits stehen zwei Meter neben mir.
Borde hebt die Stimme und ruft: „Hallo alle, das ist die Familie Dorba. Yanica. Kansu. Eyra.“ Er zeigt auf jeden von uns. „Familie Dorba, das sind alle. Ihre Namen werdet ihr noch lernen. Sagt hallo zu unseren neuen Nachbarn.“
Ein vielstimmiges Hallo schallt uns entgegen. Borde führt uns zum Tisch, während alle mit ihren Tätigkeiten fortfahren, bei denen sie unterbrochen wurden. Wir bekommen Plätze in der Mitte des Tisches von ihm gezeigt.
Der Tisch ist über und über mit Salaten, Brot und Obst bedeckt. Mit Kennermiene sieht sich meine Mutter all die Sachen an. Sie erkennt auf einen Blick die hohe Qualität der Lebensmittel. Eine Frau neben ihr sagt voll Stolz: „Das stammt alles aus unseren Treibhäusern. Darin sind keine Giftstoffe und keine Chemikalien. Kommt mit, ich zeige euch unser Grillgut.“
Neugierig gehen wir mit.
Beim offensichtlich elektrisch betriebenen Grill angekommen, sehen wir Platten, die über und über mit verschiedenen Sachen belegt sind. Manche Spieße erkenne ich. Dabei handelt es sich um Gemüse. Aber die ganzen Fladen, Ringe und Kugeln sagen mir nichts.
Die Frau lacht. „Fleisch werdet ihr hier nicht finden. Ein Übel unseres Planeten ist der massive Flächenverbrauch zum Anbau von Nahrungsmitteln für Schlachtvieh. Es gibt Länder, in denen der Hunger groß ist, weil sie für sich selbst keine ausreichenden Anbauflächen mehr haben. Die reichen Nationen dagegen schlagen sich die Bäuche mit billigem Fleisch voll. Noch würde die weltweit verfügbare Anbaufläche genügen, um alle Menschen satt zu bekommen. Weil aber so viel verfüttert wird, ist nicht genug für alle da. Zudem wird in 50 Jahren die heute vorhandene Anbaufläche nicht mehr reichen, wenn die Weltbevölkerung weiter so wächst. Deshalb haben wir uns alle entschieden, kein Fleisch mehr zu essen. Was ihr hier seht, sind alles pflanzliche Produkte. Einige Sachen kommen aus unseren Testküchen. Lebensmittelgestalter ist ein hoch angesehener Beruf auf Libertah. Diese Leute experimentieren den ganzen Tag, wie man noch gesündere, gehaltvollere und ressourcenschonendere Gerichte produzieren kann. Gelegenheiten wie diese werden gerne als Testläufe genutzt. Irgendwo laufen auch zwei Gestalter in der Gruppe rum. Ich sehe sie nur gerade nicht. Sie werden euch aber bestimmt noch ansprechen und euch fragen, wie es geschmeckt hat. Seid ihnen gegenüber ruhig ehrlich. Nur wenn sie klare Aussagen bekommen, wissen sie, ob ihr Entwurf gut ist oder nicht.“
Wir bedanken uns bei ihr und sehen uns die Sachen etwas genauer an. Auf den Geschmack sind wir gespannt.
Ein paar Minuten später bittet Borde uns zu Tisch.
Als sich die ganze Nachbarschaft gesetzt hat, ergreift Borde das Wort.
„Liebe Nachbarn, wahrscheinlich erzähle ich euch nichts Neues, wenn ich euch verrate, dass wir heute neue Nachbarn bekommen haben.“ Verhaltenes Gelächter antwortet ihm.
„Danke, für eure Zurückhaltung bei meinem lahmen Witz.“ Das Lachen ist schon lauter.
„Wie so viele von uns, hat auch die Familie Dorba unter den Auswüchsen der Mächtigen zu leiden gehabt. Aber wie wir alle, hatte sie einen Freund an ihrer Seite.“ Jetzt schauen alle zu Thanat.
„Aber anders als bei uns allen, haben wir bei der Ankunft der Dorbas heute einen Paukenschlag erlebt. Leider mussten viele von uns bei ihrer Rettung die Heilkräfte von Thanat in Anspruch nehmen. Wenn ich so in die Runde schaue, fallen mit spontan zehn Leute auf, die sonst heute nicht mit uns am Tisch sitzen würden.“ Zustimmendes Nicken antwortet ihm.
„Eyra,“, er weist auf mich. „hat heute demonstriert, dass sie auch über die Fähigkeit der Heilung verfügt.“ Die Aufmerksamkeit liegt jetzt bei mir. Die Reaktionen aber verraten mir, dass diese Information nicht mehr neu ist. Denn niemand ist erstaunt.
„Damit nicht genug. Ihr erinnert euch, dass ich kürzlich einen Aufsatz über die Entschlüsselung der DNS veröffentlicht habe. Meine Erkenntnisse in diesem Artikel beruhen auf Ideen von Eyra. Ich glaube, euch allen ist nun bewusst, welch außergewöhnliche neue Nachbarin wir in unserer Mitte haben.“
Als der leise Applaus einsetzt, wird mir die Sache langsam unangenehm und ich hoffe, Borde hört bald auf.
„Thanat hat mich gebeten, euch noch auf etwas hinzuweisen. Eyra lernt erst noch, mit ihren Heilkräften umzugehen. Würden wir sie bitten, eine schwere Krankheit zu heilen, würde sie das umbringen. Deshalb lasst ihr noch etwas Zeit.“
Alle Anwesenden nicken zustimmend.
„Es ist unhöflich von mir, die Tochter vor den Eltern zu begrüßen. Aber manchmal gehen die Gäule mit mir durch. Bitte entschuldigt. Yanica ist Ärztin und Kansu Technikmeister. Wie wir alle werden sie auch später zum Beraterstab der Botschafterin gehören.“
Jetzt gilt der Applaus meinen Eltern.
Borde hebt sein Glas: „Auf eine gute Nachbarschaft.“ Alle erwidern den Toast.
Die nächsten Stunden vergehen mit dem Probieren der verschiedenen Gerichte. Die Fleischersatzstücke schmecken vorzüglich. Auch die Gespräche mit den Nachbarn sind kurzweilig. Niemand ist aufdringlich. Alle sind ehrlich interessiert. Und wie uns Herr Conster schon prophezeit hat, erfahren wir hier Geschichten über Rettungen durch Thanat, die uns die Haare zu Berge stehen lassen. Besonders erstaunlich finden wir es, dass die Menschen hier so offen miteinander umgehen. Niemand schaut sich ängstlich nach irgendwelchen Polizisten um. Meinungen werden ungehindert, ohne zu flüstern geäußert. Kontroverse Diskussionen finden statt. Kein Thema ist tabu.
Irgendwann erzählt jemand die Geschichte von Miri und ihrer Verkupplung von Thanat und mir. Die Geschichte wird unter großem Gelächter aufgenommen. Alle lachen, mir ist das eher peinlich. Die Krone setzt aber Thanat auf. Plötzlich steht er auf.
Mit Grandezza sinkt er neben meinem Stuhl auf sein Knie.
„Oh, holde Maid, erhöre mein Herz. Es wurde gebrochen. Die schöne Miri wies mich ab. Nun leide ich.“ Er legt den Unterarm an die Stirn, dreht den Kopf in den Nacken und ahmt ein schluchzendes Geräusch nach. „Werteste Eyra, so heile mein leidend Herz und werde mein.“
Als er mich mit einem treudoofen Blick von unten ansieht, muss ich auch lachen. Weil ich gerade einen Löffel in der Hand halte, klopfe ich ihm damit leicht gegen die Stirn.
„So glaubst du denn, ich wäre irgendwer? Nur weil die schöne Miri dich abweist, kannst du doch nicht einfach zu mir kommen. Bin ich denn die zweite Wahl? Oh, nein, kleiner Wurm, da warte ich lieber, bis der Mann meines Herzens vor mir steht. So hebe dich hinfort, Wicht. Gehe mir aus den Augen.“
Thanat bricht daraufhin in bitterlichem Weinen auf dem Boden zusammen.
„So ward mein Herz zweimal gebrochen, zersplittert und zertreten. Oh, grausame Welt, wie bist du doch hart zu deinem treuen Diener. Sei es drum. Es bleibt mir nur noch ein Weg zu gehen.“
Er steht auf, dreht sich mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf um. Nach zwei Schritten bleibt er bei meiner Mutter stehen. Fällt auf ein Knie. „Oh, holde Yanica, erhöre mein Herz ...“ Der Rest geht in brüllendem Gelächter unter.
Lachend steht er auf, reicht mir die Hand, um mir beim Aufstehen zu helfen. Wie vor einem großen Publikum verbeugt er sich tief. Schnell knickse ich.
„Meine Damen und Herren, verpassen Sie auf keinen Fall die weiteren Aufführungen unseres umjubelten Stückes: ‚Der Schöne und das Biest‘.“
Nach einem Moment geht mir auf, was er damit meint. Und wen.
Ich boxe ihm fest gegen den Oberarm. „Du Schuft, erbärmlicher.“
Er grinst mich an. „Der Titel des nächsten Stücks verspricht Ihnen einen erlebnisreichen Abend. Kommen Sie und sehen Sie: ‚Liebe und Hiebe‘.“
In dem Moment ist es um die Nachbarn geschehen. Sie biegen sich vor Lachen. Ich kann nicht weiter ernst bleiben und lache mit. Nachdem sich alle wieder etwas beruhigt haben, schaue ich zu meinen Eltern. Sie sind glücklich. Schon lange habe ich sie nicht mehr so viel Lachen gesehen. Ich habe den Eindruck, sie sind angekommen. Das macht mich froh.
Als ich mich umdrehe, beobachtet Thanat mich. Er deutet meine Mimik genau richtig. Bestätigend drückt er meine Hand. Wir lächeln uns an. Ich bin sicher, er liebt meine Eltern auch. Ihr Wohl ist ihm wichtig. Bei dem Gedanken schlägt mein Herz schneller.
„Wo können wir heute Nacht eigentlich schlafen? Unsere Möbel sind ja noch gar nicht da.“
„Es gibt im Zentrum ein Gästehaus. Dort sind zwei Zimmer für euch reserviert. Ruft euch mit dem Mobi einfach einen Bus. Der bringt euch hin.“
Ich sehe, wie eine Gruppe Jugendlicher den Grillplatz verlässt und zu dem Wäldchen geht.
„Wohin gehen sie?“
„Im Wald ist ein Jugendtreff. Dort hängen sie am Wochenende oft ab. Sie können da Musik hören, tanzen, quatschen, Feuer machen. Was auch immer.“
„Einfach so? Keiner sagt was?“
„Nein, sie sind da unter sich. Sie können sich austoben, ohne jemanden zu stören.“
„Aber wie soll das gehen? Stört die Musik oder der Lichtschein die Anwohner nicht?“
„Nein. Im Wald ist eine Lichtung. Die ist von einem Schutzschirm umgeben. Er verhindert, dass Lärm und Licht heraus dringen.“
„Meinst du, wir können dorthin gehen?“
„Aber sicher.“
Ich gehe zu meiner Mutter. Mit einem Hinweis auf den Wald, sage ich ihr: „Dahinten treffen sich ein paar Jugendliche. Ist es okay, wenn ich auch hingehe?“
„Aber klar, Schatz. Viel Spaß. Wir sehen uns morgen im Gästehaus.“ Sie gibt mir einen Kuss auf die Wange.
Ich schnappe mir Thanat. „Komm, Thanni, gehen wir.“ Sein empörtes Schnauben gefällt mir. ;-)
Nach ein paar Minuten erreichen wir den Wald. Kleine Lampen links und rechts des Weges weisen uns die Richtung. Wir folgen einem Weg bis wir zu einer flirrenden Wand kommen. Am Wegesrand vor der Wand befindet sich eine Säule aus Metall mit einem Glasfeld.
„Drücke deinen Daumen gegen das Feld. Damit öffnest du ein Portal im Schirm.“
Gesagt, getan. Eine rechteckige Öffnung erscheint. Gleichzeitig dringt auch Stimmengewirr und Musik an mein Ohr. Wir treten durch den Eingang. Zwei Meter weiter ist ein roter Streifen auf dem Weg. Als wir den überquert haben, drehe ich mich um und sehe, wie die Öffnung sich schließt. Faszinierend.
Wir folgen dem Weg weiter in Richtung der Stimmen. Nach vielleicht 50 Metern erreichen wir eine Lichtung. In deren Mitte brennt ein Lagerfeuer. Überall auf der Lichtung haben sich Gruppen Jugendliche verteilt. Einige reden. Eine Gruppe macht Musik. Zwei Gruppen spielen ein Spiel an Tischen und nutzen dabei lange Stöcke und etliche Kugeln. Ein paar Leute sitzen am Feuer. Über den Flammen hängt ein interessant gestalteter Rauchfang. Insgesamt sind knapp 30 Jugendliche hier. Einen Moment bleiben wir am Rand der Lichtung stehen. So habe ich Zeit, die Szene in mich aufzunehmen. Noch nie habe ich gesehen, dass Jugendliche so ungestört zusammen sitzen. Allerdings war ich auch nie in irgendwelchen Gruppen integriert. Schon als Kind habe ich Gleichaltrige überragt und wurde ausgegrenzt.
Einer der Musiker sieht uns. Er hört auf zu spielen, richtet sich auf und ruft. „Hey, schaut mal, wer uns mit seiner Anwesenheit beehrt!“ Mit diesen Worten legt er sein Musikinstrument ab und kommt zu uns. Alle anderen Jugendlichen sehen uns ebenfalls an. Wie auf ein geheimes Kommando setzen sich alle in unsere Richtung in Bewegung. Hätten nicht alle, soweit ich es sehen kann, freundliche Gesichter aufgesetzt, wäre mir bange geworden. So ist es nur mein übliches Unwohlsein, wenn ich von vielen Leuten angesehen werde.
Der Musiker erreicht uns. Er ist vielleicht 19 Jahre alt. Recht groß, für Durchschnittsmenschen, also ungefähr 1,7 Meter. Seine Frisur ist es, die ihn von den anderen abhebt. Er hat sich viele kurze Zöpfe geflochten. An den Enden der Zöpfe sind kleine Perlen befestigt.
Mit strahlenden Augen umfasst er den Unterarm von Thanat. „Alter, schön dich zu sehen. Mal wieder irgendwelchen Leuten den Arsch gerettet?“
„Titus, Schrecken aller Musikinstrumente, so kann man es sagen. Zuletzt der jungen Dame neben mir.“ Er hebt die Stimme. „Darf ich euch Eyra vorstellen? Unser jüngster Neuzugang auf Libertah.“
Titus lässt den Arm von Thanat los. Er streckt mir seine Hand entgegen, die ich ergreife. Mit einem entwaffnenden Lächeln schüttelt er meine Hand. Dabei gleitet sein Blick an mir herab. Ich mag es eigentlich nicht, so abgecheckt zu werden. Sein Blick ist aber nicht schmierig, sondern eher anerkennend. „Hallo, ich bin Titus. Schön, dich kennen zu lernen.“
Hinter Titus steht eine junge Frau. Auch recht groß, also für normale Verhältnisse. Sie müsste so einen Meter sechzig haben. Ihr Fell ist meliert, hat aber einen vergleichsweise dunklen Farbton. Ebenso wie ihre langen Haare. Ihr Gesicht ist sehr hübsch, im Moment aber zu einer gehässigen Fratze verzogen. Sie macht nur ein abfälliges Geräusch.
Titus dreht sich zu ihr um. „Was ist dein Problem, Aysha?“
Die Angesprochene nimmt ihren angewiderten Blick von mir. „Hör doch auf. Den ganzen Nachmittag, seit sie angekommen ist, geht es immer nur ‚Eyra hier, Eyra da‘. Vorhin beim Grillen sind alle um sie herumscharwenzelt, als wenn sie die Botschafterin wäre. Oder ein Weltwunder. Oder was weiß ich. Und jetzt sabbert ihr auch schon so. Ich dachte, ich hätte wenigstens hier meine Ruhe vor ihr.“
Na, das ist mal eine Reaktion, wie ich sie in Bezug auf mich kenne. Vielleicht liegt es daran, dass Thanat in den letzten Wochen mein Selbstbewusstsein gestärkt hat. Früher hätte ich mich bei solch offensichtlicher Ablehnung in mein Schneckenhaus zurückgezogen. Aber nun bin ich es leid, auf die Befindlichkeiten anderer durch Zurückweichen Rücksicht zu nehmen. Meine Eltern und ich sind auf Libertah freundlich aufgenommen worden. Ich habe keine Lust, dass das Kesseltreiben gegen mich auch hier wieder losgeht. Deshalb beschließe ich, auf der Stelle klare Verhältnisse zu schaffen.
Ich sehe Aysha in die Augen. „Hallo Aysha, ich entschuldige mich jetzt nicht, dass ich hier bin. Aber so ist es nun einmal. Deshalb lass es uns gleich klären, was dein Problem ist.“
Aysha sieht mich verblüfft an. „Hör doch auf, so unschuldig zu tun. Du weißt doch genau, dass dich alle anstarren. Von dir schwärmen, wie toll du doch bist. Von deinem kleinen Trick mit Miri. Und so.“
„Ja, mich starren alle Leute an. Aber weißt du auch warum? Weil ich scheiße groß bin. Meinst du, es ist toll immer und überall der Freak zu sein? Nie in Ruhe mal irgendwo sitzen, gehen, stehen oder atmen zu können? Ständig auf dem Präsentierteller zu sein? Für das Verhalten anderer Leute kann ich nichts. Also mach mir das nicht zum Vorwurf.“
Sie schnaubt nur verächtlich. „Es hat dir doch gefallen, wie sie alle gesabbert haben, wenn sie mit dir sprechen. Allein Koriat. Brrr. Sogar Thanat weicht ja kaum von deiner Seite.“
„Vielleicht weil Thanat und mich eines verbindet? Unsere ungewöhnliche Körpergröße. Unser Außenseiterdasein.“
„Quatsch. Thanat hat noch nie Aufhebens um seine Größe gemacht. Und er hat noch ein paar Zentimeter mehr als du, Schätzchen.“
„Es ist ganz alleine seine Sache, wo er sich aufhält. Willst du ihm jetzt dafür Vorschriften machen?“
„Ach komm. Jeder hier in der Runde wurde von ihm aus irgendeiner Scheiße rausgehauen. Das heißt aber nicht, dass es für jeden solch ein Begrüßungsfest gab, wo er dann die ganze Zeit dabei blieb.“
Ist sie womöglich eifersüchtig, schießt es mir durch den Kopf. „Sollte er sich denn in irgendeiner Ecke verstecken? Er hat uns hergebracht. In drei Tagen bringt er mich zurück in meine alte Stadt. Wir gehen dort zusammen zur Schule. Da ist es doch nicht ungewöhnlich, dass er mit uns feiert.“
Ihre Augen werden riesengroß. Und nicht nur ihre. „Thanat geht mir dir zur Schule?“
„Ja, wir sitzen zusammen, lernen gemeinsam und er trainiert mit mir.“
„Du bist jeden Tag mit ihm zusammen?“ Ihr Gesichtsausdruck ändert sich in Richtung völlig entgeistert.
„Ja, sagte ich doch gerade. Wo ist das Problem?“
Plötzlich lacht sie laut auf. „Das Problem? Das Problem, fragst du? Schätzchen, wir alle haben Thanat mit etwas Glück kurz gesehen, bevor er uns gerettet hat. Meist erst während der Aktionen. Dann hat er uns und unseren Familien von Libertah erzählt. Üblicherweise saßen wir kurz darauf im Flieger hierher. Später haben wir ihn auch nur gesehen, wenn er mal eine kurze Zeit auf der Insel ist. Kaum einer hat in seinem Leben mehr als drei oder vier Stunden mit ihm verbracht. Und du gehst mit ihm, mit Thanat, zur Schule? Ihr lernt zusammen? Seht euch jeden Tag mehrere Stunden?“
Jetzt bin ich verwirrt. „Ähm, ja, aber ich versteh nicht …“ Allerdings fallen mir in dem Moment die komischen Blicke von Borde und Herrn Conster ein. Wundern auch sie sich darüber, dass Thanat so viel Zeit mit mir verbringt?
„Das ist unglaublich. Was ist an dir so Besonderes, dass Thanat, THANAT!, so viel Zeit mit dir verbringt?“ Sie kneift ihre Augen misstrauisch zusammen.
Ein Junge aus dem Hintergrund meldet sich. „Ey, sie hat doch Miri geheilt.“
Aysha wirbelt zu ihm herum. „Halt doch die Klappe. Glaubst du den Müll etwa? Das war doch ein billiger Trick. Wahrscheinlich hat Thanat Miri geheilt und es dann ihr zugeschrieben, damit alle sie vergöttern.“
Grollend meldet sich nun auch Thanat zu Wort. „Aysha, es ist gut. Ihr alle habt genug durchgemacht, um zu verstehen, wie es ist, verfolgt zu werden. Eyra ist es nicht anders ergangen. Und nein, wir haben bei Miri nicht getrickst. Eyra hat tatsächlich die Fähigkeit zu heilen. Allerdings muss sie das noch trainieren. Unter anderem deswegen verbringen wir so viel Zeit miteinander. Außerdem bin ich niemandem Rechenschaft schuldig, wie und mit wem ich meine Zeit verbringe. Ist das klar?“ Mit eisigem Blick fixiert er Aysha. Von Thanat so angesehen zu werden, ist unangenehm. Und das nur, weil ich hier bin. Die wird wohl nie meine Freundin.
Die deutlichen Worte kühlen Aysha etwas ab. Kleinlaut gibt sie nach. „Entschuldige, du hast Recht. Ich habe übertrieben. Ich war nur angepisst, weil alle solch ein Aufheben um sie gemacht haben.“
Vielleicht kann ich doch noch etwas retten. Ich trete einen Schritt vor und halte ihr die Hand hin. „Wollen wir noch einmal von vorne anfangen?“
Sie sieht verblüfft einen Moment auf meine Hand. Zögernd nimmt sie sie in ihre.
„Hallo Aysha, ich bin Eyra. Ich bin 18 Jahre alt und mache gerade meinen Schulabschluss. Einige meiner Mitschüler wollten mich entführen und in ein Privatbordell stecken lassen. Dort wollten sie mich missbrauchen bis ich sterbe. Davor hat Thanat mich gerettet. Seitdem beschützt er mich. Weil sie persönlich nicht mehr an mich herankamen, haben sie über ihre Eltern versucht, meine Eltern zu ruinieren. Ich bin glücklich, dass es meinen Eltern hier besser geht. Und ich freue mich darauf, dass ich meiner alten Stadt den Rücken kehren kann, sobald ich meinen Schulabschluss in der Tasche habe. Dort habe ich nur eine Freundin, sonst hält mich nichts. Seit Jahren schon werde ich ständig gemobbt, angerempelt, begrabscht, beleidigt, bespuckt, geschlagen und verfolgt. Wie meine Eltern suche ich nur nach einem Platz für ein ruhiges Leben. Ich hoffe sehr, ihn hier zu finden.“
Bei dem Wort „Privatbordell“ haben einige Jugendliche nach Luft geschnappt.
Aysha hält meine Hand immer noch fest. Nach einem Moment des Nachdenkens erwidert sie. „Hallo Eyra, ich bin Aysha. 19 Jahre alt. Und ich gehe nicht mehr zur Schule.“ Dabei ringt sie sich ein schiefes Lächeln ab. „Meine Eltern sind Wirtschaftswissenschaftler. Sie haben etwas zu laut die Politik unserer Regierung kritisiert. Zur Warnung an Gleichgesinnte wollten sie meinen Vater verletzen oder sogar töten. Das werden wir wohl nie erfahren, denn Thanat war schneller. Anscheinend hast du ihn ja im Kampf selbst schon erlebt und weißt, was ich meine.“
Ich nicke verstehend.
„Ich möchte mich für meinen Ausfall entschuldigen. Anscheinend habe ich dich falsch eingeschätzt und du bist gar keine überhebliche Zicke.“ Jetzt wird aus ihrem schiefen Lächeln ein breites Grinsen.
„Setz dich zu uns. Ich denke, nachdem ich kein Fettnäpfchen ausgelassen habe, solltest du auch die anderen kennen lernen.“ Damit zieht sie mich zum Lagerfeuer, wo wir uns hinsetzen.
Irgendjemand holt Getränke. Andere schleppen Knabbereien herbei. Stundenlang quatschen wir. Erzählen uns Geschichten aus dem Leben vor Libertah. Machen Musik. Tanzen (ich nicht). Schließen Freundschaft. Am Ende des Abends kann ich auch Aysha zu meinen bisher sehr wenigen Freunden zählen. Thanat sitzt erstaunlich ruhig dabei. Er spricht nur, wenn er etwas gefragt wird. Für eine Weile ist er einer unter vielen. Ich glaube, die Momente der Ruhe tun auch ihm gut.
Als wir alle müde sind, löschen wir das Feuer. Wir verlassen die Lichtung, rufen uns Busse und lassen uns zu unseren Betten fahren. Thanat begleitet mich bis zum Gästehaus und wünscht mir eine gute Nacht.
Obwohl ich es mir bei all der Aufregung gar nicht vorstellen kann, schlafe ich in dem Moment ein, als mein Kopf das Kissen berührt.
Am nächsten Morgen treffe ich meine Eltern im Frühstücksraum. Meine Mutter umarmt mich. „Und, wie war dein Treffen mit den Jugendlichen, Schatz?“
Ich setze mich und erzähle ihr, was ich erlebt habe. Trotz des Intermezzos mit Aysha war der Abend schön. Die Sorge weicht ein wenig aus den Gesichtern meiner Eltern. Sie wissen um meine soziale Isolierung. Darum freut es sie umso mehr, dass ich hier an einem Abend mehr Freunde, oder zumindest freundlich gesinnte Menschen, gefunden habe, als in meiner alten Stadt in 17 Jahren.
Nun möchte ich wissen, wie es ihnen geht.
Mein Vater ergreift das Wort. „Es ist alles so anders hier. Obwohl alle traumatische Erlebnisse hinter sich haben, sind sie so offen, so zugänglich. Das hätte ich nie erwartet. Ich habe einen ersten Eindruck erhalten, wie es in einer Gesellschaft sein könnte, wo nicht jeder Angst hat. Wo es Gerechtigkeit, Meinungsfreiheit und Toleranz gibt. Aus einigen Gesprächen habe ich erfahren, dass genau das das Ziel des geheimnisvollen Gründers ist. Libertah soll eine Keimzelle für den ganzen Planeten sein, um die gesellschaftlichen Strukturen umzukrempeln. Es heißt, die erwartete Botschafterin soll das Potenzial besitzen, diese Änderungen einzuleiten. Nicht alleine, sondern zusammen mit der Unterstützung durch alle Bewohner von Libertah. Ich bin schon sehr gespannt, welche Arbeit ich hier bekomme. Und was mich für die Mitgliedschaft in ihrem Beraterstab qualifiziert.“
Meine Mutter nickt zustimmend.
„Aber Angst vor der neuen Aufgabe habe ich nicht. Alleine gesehen zu haben, wie die Insel abgesichert ist, beruhigt mich. Ich habe heute Nacht das erste Mal seit Langem geschlafen, ohne jeden Moment befürchten zu müssen, dass irgendwer meine Tür eintritt und mich heraus zerrt. Und so wie ich mich persönlich sicher gefühlt habe, glaube ich auch, dass das berufliche Umfeld hier viel entspannter ist. Ich rechne fest damit, dass meine neuen Kolleginnen und Kollegen mich unterstützen werden. Das Konkurrenzdenken scheint hier deutlich weniger ausgeprägt zu sein. Mein Eindruck ist, die Leute verschreiben sich mehr der Sache ‚Libertah‘, als ihrem persönlichen Vorteil.“
„Das stimmt.“, unterbricht meine Mutter. „Nachdem du weg warst, habe ich noch eine andere Ärztin getroffen. Sie arbeitet da, wo ich anfange. Die Forschungsbedingungen hier müssen traumhaft sein. Die Forschungen dienen wirklich dazu, Menschen zu helfen. Nicht, um den Profit von Konzernen zu maximieren. Ich bin schon ganz kribbelig und möchte am liebsten sofort anfangen.“
Ein verträumtes Lächeln schleicht sich in ihre Mundwinkel.
„Und erst das Haus. Hoffentlich kommen unsere Möbel bald. Ich freue mich schon darauf, das Haus einzurichten und die erste Nacht darin zu schlafen. Stellt euch das vor. Am Morgen im Garten zu frühstücken. Dabei auf das Meer schauen. Das wird herrlich.“
Ihre Augen strahlen richtig, als sie sich das Bild vorstellt. Mein Vater ergreift ihre Hand. Sie sehen sich voll Liebe und Freude an. Das versöhnt mich ein bisschen damit, dass ihnen alles nur meinetwegen passiert. Vor Kurzem noch stand meine Mutter an der Schwelle zum Tod und nun ist sie das strahlende Leben.
Nachdem wir unser Frühstück beendet haben, kommt Thanat.
Mit einem freudigen Lächeln begrüßt er uns. „Guten Morgen. Habt ihr eure erste Nacht auf Libertah gut geschlafen?“
Das können wir nur bestätigen.
„Ich habe die Nachricht erhalten, dass eure Möbel bei der Ausreise am Zoll etwas aufgehalten wurden. Sie kommen erst am frühen Nachmittag. Sollen wir uns die Stadt heute Vormittag ansehen?“
Dagegen haben wir nichts einzuwenden. „Können wir unsere Sachen im Zimmer lassen?“, frage ich ihn.
„Bringt sie mit runter. Ich habe einen Wagen für uns reserviert. Wir können sie so lange darin lassen.“
Zehn Minuten später sitzen wir im Wagen und fahren los. Nach kurzer Zeit halten wir an einem großen Platz. Wir steigen aus und Thanat weist auf ein großes Gebäude an der nördlichen Seite des Platzes.
„Dort seht ihr die Verwaltung der Insel. Es ist auch der Sitz des Bürgermeisters. Alle Verwaltungsfragen werden dort bearbeitet. Außer am Wochenende hat die Verwaltung ab der achten Stunde geöffnet. Sie schließt am Abend um acht. Termine müssen nicht gemacht werden. Ihr könnt einfach so hingehen.“
Schock Nummer 1 an diesem Tag. Keine Termine, keine Bestechungen, lange Öffnungszeiten, schnelle Erledigung.
Sein Arm schwenkt herum zur westlichen Seite. „Dort ist die Kulturhalle. Darin finden Theateraufführungen, Konzerte oder Ausstellungen statt. Konzerte oder Theateraufführungen kosten Eintritt, da sich die Künstler oft über die Einnahmen finanzieren. Die Spielpläne, Sitzplatzreservierungen und so weiter könnt ihr über eure Mobis abfragen oder erledigen. Der Bürgermeister hat ein Wissensnetz aufgebaut. Dort können Informationen abgerufen werden. Er hat die Idee, das Netz später einmal weltweit einzurichten. Als WeltWissensNetz, WWN. Der Gründer hat auch schon grünes Licht dafür gegeben. Die Infrastruktur würde dann über das Mobinetz laufen.“
„Moment bitte.“, wirft mein Vater ein. „Es gibt die Möglichkeit, über das Mobi Informationen zu suchen und Anfragen zu stellen? Kann man auch Nachrichten verschicken? Oder über das Netz schriftlich mit anderen Leuten kommunizieren?“
„Ja, das ist so vorgesehen. Es soll Gesprächsräume virtueller Art geben.“
„Abgefahren.“ Mein Vater bekommt bei der Vorstellung glänzende Augen. Ich möchte wetten, er wird versuchen, auch in die Arbeitsgruppe zu kommen. Und siehe da.
„Thanat, meinst du, ich könnte daran mitarbeiten?“
„Sicher. Auf der Infoseite des Bürgermeisters stehen die Ansprechpartner der einzelnen Gruppen. Frag doch einfach nach.“
Er zeigt zur südlichen Seite. „Dort ist eine Markthalle. Darin werden Lebensmittel verkauft. Aber auch alle anderen Produkte, die die Leute loswerden möchten. Die eine Hälfte der Halle ist gewerblichen Anbietern vorbehalten. Die andere Hälfte ist für Gelegenheitsverkäufer, also Amateure, reserviert. Man zahlt eine geringe Standmiete und kann dann seine Erzeugnisse anbieten. Das wird gerne von den Künstlern wahrgenommen.“
Zuletzt weist er auf die östliche Seite. „Dort beginnen die Wohnbereiche. Die innerstädtischen Wohnungen werden erstaunlicherweise gerne von Künstlern bewohnt. Sie scheinen die Flanierbereiche zu mögen. Aber, wer versteht schon Künstler?“
In der nächsten halben Stunde erklärt er uns weiter den Aufbau der Stadt. Wir sind erstaunt, wie durchdacht die Strukturen sind. Viel Wert wird auf großzügige Flächen gelegt, wo man sich begegnen kann. Kein Vergleich zu unseren grauen, zugebauten Städten in der „Alten Welt“.
Wir gehen gerade am Rand eines Parks entlang, der durch ein gewaltiges Wasserspiel in der Mitte dominiert wird. Rund um das Wasserspiel und den Teich stehen lauter Sitzbänke. Fast alle sind besetzt mit sich unterhaltenden Menschen. Wie schon die ganze Zeit winken uns (Thanat?) die Menschen freundlich zu.
Plötzlich erklingt hinter uns Kinderlachen. Wir drehen uns um und sehen zwei Kinder im Alter von vier oder fünf Jahren auf uns zugelaufen kommen. Das Ziel ist nicht schwer auszumachen - Thanat. Prompt geht er auf die Knie und breitet seine Arme aus, in die sich die Kinder nur Sekunden später stürzen. Wie zwei Wiesel klettern sie auf seine Schultern und halten sich lachend an seinem Kopf fest. Thanat erhebt sich und steht dort mit ausgebreiteten Armen und den Kindern auf den Schultern wie eine Statue. Sie nutzen das und missbrauchen ihn als Klettergerüst. Er lässt sich das mit einem Lächeln gefallen.
Inzwischen haben uns zwei Erwachsene erreicht. Sichtlich die Eltern der Kinder. Die Frau ist höchstens einen Meter vierzig groß. Sie ist unglaublich zart. Mit einem Engelsgesicht. Mit feingliedrigen, aber kräftigen Händen. Und einem strahlenden Lächeln in Thanats Richtung.
Der Mann ist von durchschnittlicher Größe. Eher so der gemütliche Typ. Er wirkt, als würde er jedem Streit aus dem Weg gehen. Freundlich. Umgänglich. Liebenswert.
Die Frau schaut sich die Kletterkünste ihrer Kinder noch ein wenig an, dann sagt sie mit glockenheller Stimme: „Kinder, es ist genug. Lasst Thanat jetzt mal in Ruhe.“
Sie schmollen ein bisschen. Klettern aber herunter und jagen schon wieder fort zum nächstgelegenen Spielplatz.
Die Frau streckt Thanat die Arme entgegen. Er beugt sich herunter. Und - sie küsst ihn mitten auf den Mund! Ich bin sprachlos. Das, wo ihr Mann daneben steht. Miri? Hat ihn auch geküsst. Okay, das war ein Kind. Aber eine erwachsene Frau?
Als die Frau den Kuss beendet hat, tritt der Mann vor. Trotzdem seine Frau einen anderen Mann gerade geküsst hat, strahlen seine Augen. Er drückt Thanat fest an sich. Das verstehe, wer will.
Das Paar nimmt jeder eine Hand von Thanat und sieht ihn freudestrahlend an.
„Es ist schön, dich hier zu sehen“, eröffnet die Frau. Der Mann nickt zustimmend.
„Bleibst du länger?“, fährt sie fort.
„Zwei Tage noch.“, entgegnet Thanat.
„Oh, meinst du, du findest Zeit, mich zu besuchen? Ich habe eine neue Skulptur gemacht. Ich würde gerne deine Meinung dazu hören.“
„Ich denke, ich schaffe das heute Nachmittag.“ An uns gewandt. „Ist das okay? Beim Aufstellen eurer Möbel, kann ich eh nicht viel helfen.“
Wer sind wir, dass wir Thanat komplett beanspruchen? Deshalb stimmen wir natürlich zu.
„Siehst du, ich habe frei bekommen.“, grinst er die kleine Frau an. „Darf ich euch Familie Dorba vorstellen? Sie sind gestern angekommen.“ Er deutet auf das Paar. „Und das sind Resa und Achta. Unsere wohl bedeutendsten Künstler auf Libertah. Ach, der ganzen Welt.“
Resa, die Frau, winkt nur ab, als wäre ihr das Lob zu viel. Bei mir klingelt es leicht im Hinterkopf, weil ich meine, mich zu erinnern, dass Dani mal von einer Resa gesprochen hat. Sie begrüßen uns kurz und heißen uns willkommen. Schließlich entschuldigen sie sich, weil sie meinen, es sei besser, sich um ihren Nachwuchs zu kümmern.
Thanat schaut ihnen noch einen Moment hinterher.
Ein wenig spitz bemerke ich: „Eine interessante Art der Begrüßung. Ist das auf Libertah gängig?“ Meine Mutter sieht mich wegen meines Tonfalls vorwurfsvoll an.
Thanat lächelt aber nur. „Nein, durchaus nicht.“ Schelmisch grinsend fügt er hinzu: „Könnte mir aber gefallen. Bei den richtigen Frauen natürlich nur.“ Der Blödmann.
„Nein. Aber speziell bei Resa bin ich froh, es noch rechtzeitig geschafft zu haben.“ Sein Blick ist sehr düster geworden. Wir sehen ihn fragend an.
„Ihr habt ja mitbekommen, dass sie beide Künstler sind. Sie stehen tatsächlich an der Spitze der Bildhauerzunft. Ihre Werke sind ungemein kraftvoll und ausdrucksstark. Aber sie sind auch kritische Geister und lassen sich den Mund nicht verbieten. Ihren Protest haben sie in einige ihrer Werke einfließen lassen. Damit haben sie sich nicht nur Freunde gemacht. Als ich sie fand, sollten sie gerade gemaßregelt werden.“ Sichtlich unter dem Eindruck seiner Erinnerung holt er tief Luft.
„Achta war gefesselt und geknebelt in ihrer beider Werkhalle. Er musste mit ansehen, was die Schlächter mit seiner Frau machten. Resa hatten sie bereits mit Hämmern die Kniescheiben zertrümmert. Ihr Gesicht war übelst verprügelt. Nur die Augen hatte man verschont. Die Hände waren auf der Werkbank mit mehreren Nägeln fest geschlagen. Ihre Finger waren durch Hammerschläge zermalmt. Ihre beiden Kinder, damals noch Säuglinge, lagen auf dem Boden in ihren Decken. Die Decken hatten die Typen mit einer brennbaren Flüssigkeit getränkt. Einer hatte schon ein brennendes Holzstück in der Hand. Resa und Achta sollten zusehen, wie ihre Kinder verbrannt werden.“
Wir werden ganz bleich bei der Schilderung. Ich flüstere: „Was ist dann passiert?“
„Sagen wir mal so. Ich musste schnell reagieren. Die Gefahr für die Familie war immens. Deshalb war meine Reaktion ultimativ. Wenn es geht, vermeide ich das. Aber es geht nicht immer...“ Leise klingt seine Stimme aus.
Ich zucke zusammen. Es ist das erste Mal, dass ich Thanat vom Töten sprechen höre. Er bemerkt natürlich meine Reaktion.
„Ich habe alle hierher gebracht. Für die körperliche Heilung von Resa habe ich ganze 25 Stunden gebraucht. Sie hat lange Alpträume gehabt. Achta ebenso. Viele Leute hier auf der Insel haben ihnen geholfen, wieder Freude am Leben zu finden. Sie haben geschworen, die Insel nie wieder zu verlassen. Anfangs habe ich ihnen zur Beruhigung mehrere Leibwächter vor die Tür gestellt. Noch heute benötigen sie massive Schlösser an den Türen. Sie wissen, dass ihnen hier nichts passieren wird. Aber die Angst sitzt zu tief.“
Als ich das gehört habe, verzeihe ich Resa den Kuss. Welchen Anspruch habe ich denn schon?
Ich nehme mir vor, Dani von ihr zu erzählen.
Nach dem Rundgang gehen wir in ein Restaurant. Jons, der Wirt, begrüßt uns herzlich, vor allem unseren Riesen. Sie halten sich die Hand.
„Thanat, Schrecken aller ehrbaren Köche, es war so ein schöner Tag. Bis die Tür aufging.“ Seufzend verdreht er die Augen.
„Jons, ich bin ja nur hier, weil ich noch ein paar alte Schuhe gefunden habe. Da sind so richtig schön abgelaufene Sohlen drunter. Die sollst du mir braten, damit ich wenigstens einmal hier etwas Gescheites zwischen die Zähne bekomme.“
Meine Eltern und ich sehen uns entsetzt an.
Jons verzieht keine Miene. „Ach, für dich habe ich doch immer ein paar Köstlichkeiten in petto. Irgendwo müsste noch angebranntes Brot und abgestandenes Wasser sein. Wenn es etwas mehr Geschmack sein soll, könnte ich dir ein wenig Spülwasser einschenken.“
„Na, das ist doch mal ein Angebot. Ich sehe, du hast an deiner Speisekarte gearbeitet. Respekt.“
Sie sehen sich noch einen Moment mit unbewegter Miene an. Als hätten sie das lange geübt, fangen sie im gleichen Moment an zu grinsen und klopfen sich auf die Schulter.
„Langer, schön dich mal wieder zu sehen. Willst du mir deine entzückende Begleitung nicht vorstellen?“
„Aber klar, alter Charmebolzen. Familie Dorba ist gestern angekommen. Ich zeige ihnen heute, wohin sie auf Libertah lieber nicht gehen sollten.“
„Schon klar. Und dann kommst du ausgerechnet zu mir?“ Er dreht sich zu uns. „Hören Sie nicht auf ihn. Manchmal schaffe ich es wirklich, Wasser zu kochen, ohne dass es anbrennt. Seien Sie willkommen in meinem bescheidenen Gourmettempel.“ Mit breitem Grinsen schüttelt er uns die Hände und führt uns zu einem Tisch in einer gemütlich eingerichteten Ecke. Nachdem wir das wirklich hervorragende Essen verputzt haben, setzt er sich eine Weile zu uns.
„Wie hat es Ihnen geschmeckt?“
Mein Vater verdreht die Augen. „Das war absolut köstlich. Ich kann mich nicht erinnern, so viele verschiedene Gemüsesorten jemals derart knackig und frisch zubereitet bekommen zu haben.“ Meine Mutter und ich stimmen vorbehaltlos zu.
Thanat runzelt die Stirn. „Vielleicht hätte eine winzige Prise Karbel das Ergebnis perfektioniert.“
Jons schaut verblüfft. „Das stimmt absolut. Ich wusste gar nicht, dass du Ahnung vom Kochen hast.“ Thanat grinst ihn nur an. „Aber Karbel ist nun mal absolut selten. Das Gewürz bekommst du heutzutage in guter Qualität nur noch zu horrenden Preisen.“
Thanat sieht ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Ach, das wusste ich gar nicht.“ Er greift in seine Jackentasche. „Dann muss ich mir wohl zweimal überlegen, ob ich dir das hier gebe.“ Mit diesen Worten stellt er eine Dose vor Jons auf den Tisch. Dessen Augen werden kreisrund.
„Ist … ist das Karbel?“ Thanat greift zur Dose und schaut intensiv auf das Etikett. „Hmm, steht zumindest drauf.“ Er stellt die Dose zurück.
„Wie kommst du an so viel Karbel? Diese Dose kostet doch tausende Tauronen.“
Thanat greift die Hand von Jons. „Das ist ein Geschenk von den Lebensmittelgestaltern. Ich habe Samen von den reinsten Karbelpflanzen besorgt. Sie haben den Karbel dann mit den Agrarmeistern in einem Gewächshaus angebaut. Das ist ihr Dankeschön, weil du ihnen immer so viele Anregungen für neue Gerichte gibst, ohne je etwas dafür haben zu wollen.“ Wir sehen, wie Jons Tränen in die Augen treten. Mit zitternden Fingern nimmt er die Dose in die Hand. In dem Moment geht die Tür auf und eine Gruppe Leute betritt das Restaurant. Als Jons sie erkennt, springt er auf und läuft mit ausgestreckten Armen zu ihnen. Lachend fällt sich die Gruppe in die Arme. Thanat raunt uns zu, dass das die Spender des Karbels seien und er sich mit ihnen abgesprochen hätte. Wir grinsen uns an. Mir zeigt diese Szene überaus deutlich, wie die Menschen hier zueinander stehen. Hier überlegen sich die Leute, wie sie anderen eine Freude machen können. Ich bin fest davon überzeugt, dass es so etwas in meiner alten Stadt nicht geben würde. Da würde sich eher darum gestritten, wie der Karbel höchstbietend verkauft werden könnte.
Lachend kommt die Gruppe an unseren Tisch. Jons wischt sich ein paar Tränen fort. Schnell werden ein Tisch und weitere Stühle herangeschoben. Wie von Zauberhand stehen Tassen mit Kahfe vor uns und schon sind wir in eine lustige Runde eingebunden, in der übereinander, über Thanat und über alles gelacht und gescherzt wird.
Um Jons ist es restlos geschehen, als einer der Lebensmittelgestalter eine Plastikkarte aus der Tasche zieht und sie vor dem Wirt auf den Tisch legt. Fragend sieht Jons den Mann an. „Was ist das?“
„Das, mein lieber Jons, ist eine Zugangskarte zur Gewürzsektion unseres Versuchsgewächshauses. Dort kannst du dich nach Herzenslust bedienen.“ Alle sehen den schrulligen Wirt liebevoll an, als er unter Tränen die Karte an sich nimmt. In seiner alten Heimat wurde er schlimm verprügelt, weil er einer Restaurantkette im Weg war. Hier erhält er kostenlosen Zugang zu wertvollen Gewürzen, ohne eine Gegenleistung erbringen zu müssen. In stummem Einvernehmen drücken sie sich die Hände.
Und wieder erwarten uns haarsträubende Geschichten von Rettungen. Entsetzt hat mich die Erzählung von Jons, dass nicht nur er verprügelt wurde, sondern die Verbrecher seine Tochter vor seinen Augen mit Messerschnitten im Gesicht fürchterlich entstellten. Bei der Erzählung steht die Tochter, die im Restaurant bedient, hinter Thanat und legt eine Hand auf seine Schulter. Ihr hübsches Gesicht weist keinerlei Narben auf. Thanat greift hoch zu seiner Schulter und drückt die Hand der jungen Frau. Keine Frage, wer die Folgen des Attentats beseitigt hat. Ich glaube wirklich, dass jede Familie, tatsächlich jede einzelne, mindestens ein Mitglied hat, das Thanat seine Rettung verdankt. So langsam frage ich mich, wie alt er ist. Denn die Geschichten, die wir gehört haben, liegen teilweise schon etliche Jahre zurück.
Thanat muss meinen grüblerischen Ausdruck wohl bemerkt haben. „Eine Blume für deine Gedanken.“
„Ach, ich frage mich nur, wer dein Visagist ist. Nach all den Geschichten musst du doch über 100 Jahre alt sein. Und nicht 18 oder 19, wie ich vermutet habe.“
Natürlich nimmt er mich nicht ernst. Man sieht es an der Mimik. So grinst man nur, wenn man eine diebische Freude hat, andere an der Nase herum zu führen.
„Hmm. Lass es mich so sagen. Für mein Alter sehe ich noch verflixt gut aus.“ Mit affektierter Geste streicht er sich durch das Haar. Alle am Tisch lachen. Ich könnte ihn … ach, knuddeln.