Читать книгу Thanats Welten 1 - Tauros - J. Reiph - Страница 18
ОглавлениеDie Seelensicht
System: 1654-Z65-7559-MM08-2884
Interner Systemname: Tauros
Zeitrechnung: Jahr 23 nach der Ankunft (n.d.A.), 37. Woche
Berichterstatterin: Eyra (nachgetragen)
Unsere Möbel stehen. Es ist fantastisch. Es ist herrlich, am Morgen aufzustehen, das Fenster zu öffnen und das Meer zu riechen. Kein Verkehrslärm. Keine Hektik.
Wir haben tatsächlich im Garten gefrühstückt. Mit Blick auf die Wellen futterten wir uns durch die Köstlichkeiten der Insel, die wir gestern aus der Markthalle mitbrachten. Ich kann mich nicht erinnern, mich jemals so wohl gefühlt zu haben. Auch meine Eltern sind entspannt und sehen um Jahre jünger aus. Danke, Thanat.
Später fahren sie zu ihren neuen Arbeitsstellen. Ich gehe in mein Zimmer und räume noch etwas um. Als ich aus dem Fenster sehe, steht Thanat im Garten des Nachbarhauses, dem Haus der Botschafterin, und schaut auf das Meer. Wäre ich Dani, würde ich ein Bild davon malen. Im Hintergrund der Himmel voll großer Wolken. Der grüne Garten. Dahinter die Wellen der See. Mitten in dem Bild steht ein einsamer Mann. Er wirkt, als wenn er sich allen Gefahren der Welt alleine entgegen stemmt. Er ist der wahre Schutzschild aller Bewohner von Libertah. Er ist mein Schutzschild. Was mag in ihm vorgehen? Zerfrisst ihn die Verantwortung? Könnte ich so stark sein wie er?
Ich gehe hinunter. Gehe zu ihm. Aus einem Gefühl heraus umschlinge ich von hinten seine Taille. Lehne meinen Kopf an seine Schulter.
Stumm danke ich ihm. Möchte ihm seine Verantwortung erleichtern. Wenn ich doch nur wüsste, wie ich das bewerkstelligen kann. Wer auch immer er ist. Mein Herz gehört ihm ganz und gar. Ein Mensch, der so viel auf sich nimmt, um andere zu beschützen. Der so viel gibt und so wenig nimmt.
Zu deutlich spüre ich seine Zurückhaltung. Vielleicht habe ich ihn erschreckt als ich zusammenzuckte. Gestern, als er vom Töten sprach. Darf ich ihn verurteilen? Wo wäre ich heute, wenn er die Schläger damals nicht entschieden angegriffen hätte? Sie alle oder einige von ihnen womöglich getötet hat. Ist mein Leben so viel mehr wert? Mussten sie sterben, nur weil ich bin, wie ich bin? Nur weil einige fehlgeleitete Menschen mit mir nicht klar kommen?
So gerne würde ich mit Thanat darüber sprechen. Aber ich traue mich nicht. Ich möchte ihn nicht noch mehr belasten.
Nach einer Weile stelle ich mich neben ihn und lege meinen Arm um seine Hüfte. Er umfasst meine Schultern. Gemeinsam sehen wir auf das Meer hinaus. Wir genießen den Moment der Ruhe und des Friedens. Ich weiß, dass der Moment bald vorbei sein wird. Denn ich muss ja zurück. Wegen der Schule. Schade, dass die Schule von Libertah an den Universitäten nicht anerkannt wird. Deshalb gebrauche ich den Abschluss an meiner alten Schule. Es ist äußerst schwierig, im laufenden Abschlussjahr die Schule zu wechseln und seine bisherigen Ergebnisse mitzunehmen. Außerdem möchte ich Dani wiedersehen. Möchte ihr von Libertah, von Resa, vom Jugendtreff erzählen.
Selbst der schönste Moment endet irgendwann. Seufzend drehe ich mich zu Thanat.
„Gestern ist noch mein Pass gekommen. Kannst du mir sagen, warum ich einen Pass von Runoa habe?“
„Libertah gehört zum Hoheitsgebiet von Runoa. Der Gründer hat die Insel gekauft. Aber sie ist kein eigenständiger Staat. Rechtlich gehört sie zu Runoa. Der Gründer hat seinerzeit mit dem Präsidenten von Runoa einen Handel abgeschlossen, dass die Bewohner Staatsangehörige des Landes werden können. Die Regelung wurde von allen nachfolgenden Präsidenten übernommen.“
„Aha. Aber mein Pass sieht komisch aus. Irgendwie anders als ein normaler Pass. Da steht etwas von Diplomat drauf. Konsulat hätte ich noch verstanden, weil Libertah ja eine Enklave von Runoa ist.“
„Das liegt daran, dass du einen Diplomatenpass bekommen hast.“
„Einen Diplomatenpass? Ich? Warum das denn?“
„Mit einem Diplomatenpass kann dich die Polizei in anderen Ländern nicht einfach festhalten, ohne Komplikationen herauf zu beschwören. Du kannst damit in jeder Botschaft von Runoa Zuflucht suchen. Und wir können bei der Rückkehr Einreisekontrollen umgehen. Ich befürchte, dass du erneut verfolgt wirst, wenn wir zurück sind. Kurd wird nicht allzu glücklich sein, wenn du wieder an der Schule bist. Vielleicht weiß er es schon. Seine Beziehungen, beziehungsweise die seiner Eltern, kann ich schlecht einschätzen. Ich möchte nur sicher sein, dass wir bei der Einreise nicht getrennt werden.“
„Du hast auch einen Diplomatenpass?“
„Jepp.“
„Hmm. Na gut.“
Am Nachmittag sitzen wir im Park. Balgen mit Miri und trainieren des Erkennen von Auren. Seelensicht nenne ich das. Es fällt mir immer leichter, die Grundeinstellung, die aktuelle Gemütslage und die Gesundheit anderer Personen zu „lesen“. Mit Miri macht mir das richtig viel Spaß. Ihre überschäumende Lebenslust, ihre unverfälschte, kindliche Freude, ihre Unschuld machen ihre Aura zu einer farbenfrohen, schillernden Blase. Bei Erwachsenen hat die Blase eine konstante Grundfarbe. Sorgen ziehen sich wie Schlieren hindurch. Verletzungen oder Krankheiten sind dunkle Flecken. Aber niemand hat eine dunkle Aura, die laut Thanat für Gewaltbereitschaft steht. Das beruhigt mich. Nur eine Aura kann ich nicht lesen. Seine.
„Warum kann ich deine Aura nicht erkennen?“
Er lächelt schelmisch. „Ein Mann muss auch seine Geheimnisse vor den Frauen haben. Deshalb unterdrücke ich meine Aura.“
„Man kann seine Aura unterdrücken?“
„Ich schon.“
„Ohne Quatsch. Warum machst du das?“
„Nehmen wir deine Aura. Sie ist überwältigend. Hell. Strahlend. Voll Wärme. Du ziehst sogenannte gute Menschen an wie ein Magnet Eisenspäne. Dagegen erzeugst du bei gehässigen, gewaltbereiten, bösen Menschen unterschwellige Aggressionen.“ Bei dem Wort „böse“ malt er mit den Fingern Anführungsstriche in die Luft.
„Meine Aura ist hell und voll Wärme?“
„Ja, als ich deine Aura das erste Mal sah, war ich regelrecht geblendet. Wenn sie vollkommen ausgebildet ist, so ungefähr in zwei Jahren, wirst du alleine durch deine Aura auf deine Umwelt wirken. Du wirst nur durch deine Ausstrahlung in der Lage sein, besänftigend Einfluss zu nehmen. Aber habe keine Angst. Das ist etwas Gutes. Manche nennen es Charisma.“
Zweifelnd sehe ich ihn an.
„Bisher ist deine Aura noch nicht voll ausgeprägt. Sie bildet sich noch aus. Deshalb hast du noch nicht die Wirkung. Das verwirrt deine Umwelt unterbewusst. Unter anderem ist das ein Grund, warum deine Mitschüler sich ablehnend verhalten. Sie fühlen sich von dir zugleich angezogen und abgestoßen. Mit diesen Gefühlen können speziell pubertierende Menschen nicht umgehen, da sie selbst noch ‚unfertig' sind. Menschen reagieren dummerweise aggressiv auf Dinge, die sie nicht verstehen.“
Er wartet einen Moment, ob ich eine Frage habe. Fällt mir gerade nicht ein. Ich verdaue das noch.
„Meine Aura ist mächtig, sogar stärker als deine. Mein Einfluss wäre ungleich größer als deiner. Nehmen wir zum Beispiel ein Treffen von Auftragsmördern. Sie sitzen entspannt in einer Kneipe, trinken ein Gläschen Schaumwein. Schwatzen über vergangene Morde. Worüber Auftragsmörder beim entspannten Feierabend eben so tratschen. Nun komme ich rein. Mit offener Aura. Sie würden sofort und unbewusst auf mich reagieren. Entsprechend ihrer Lebensweise wäre ihre Reaktion das Zücken ihrer Waffen, weil sie mich unterschwellig als Bedrohung wahrnehmen. Nun lasse ich ungern auf mich schießen. Kannst du nachvollziehen, oder? Also müsste ich sie ausschalten, bevor sie mein schönes neues Hemd mit Einschusslöchern ruinieren.“
Mir schwirrt der Kopf. Mit trockenem Mund will ich wissen. „Werde ich auch so extrem auf andere Menschen wirken?“
„Nein. Denn deine Aura ist rein, freundlich, hilfsbereit und warm. Meine Aura ist mächtig und bedrohlich. Hilfesuchende würden sich vor mir fürchten und sich nicht helfen lassen. Gewaltbereite Menschen würden mich eher angreifen. Es wäre also ziemlich blöd, wenn die Einen vor mir weg- und die anderen auf mich zulaufen. Dummerweise genau die jeweils Falschen.“
Ich schlucke. Das kommt unerwartet. Nach einem Moment frage ich ihn: „Kann ich deine Aura einmal sehen?“
Er sieht mich lange an. Seine Kiefermuskeln treten hervor, so fest beißt er die Zähne aufeinander. Ich sehe förmlich, wie es hinter seiner Stirn arbeitet.
„Okay, aber nicht die volle Dosis. Ich hebe quasi nur eine Ecke der Decke an.“
Konzentriert sehe ich ihn an. Ganz langsam nehme ich einen Glanz wahr. Unwillkürlich kneife ich die Augen zusammen. Es ist, als wenn man in die Sonne schaut. Die Aura überflutet mich. Ich spüre wie jede Zelle meines Körpers vibriert. Ich spüre eine unendliche, erschütternde Macht. Sie droht mich zu verschlingen. Aber ich spüre auch eine unglaubliche Einsamkeit und Trauer. Eine Güte, die fast keine Grenze kennt. Eine Entschlossenheit, die bereit ist, jedes Hindernis aus dem Weg zu räumen. Und eine Welle, einen Tsunami, an liebevollen Gefühlen. Während alle anderen Empfindungen mich überall umspülen, ist die Liebe wie ein Pfeil, der genau in meine Richtung zielt.
Nach nur einem Augenblick senkt sich die Decke wieder über die Aura. Mir schwindelt. Ich muss mich mit den Händen auf dem Boden abstützen. Es dauert fast eine Minute, bis ich mich wieder gefangen habe.
Als ich meine Augen wieder öffne, blicke ich in forschende, blaugraue Augen. Ich hole tief Luft.
„Boah. Das war ... Ich weiß nicht. Mir fehlen die Worte.“ Um Worte ringend winde ich meine Hände. „Unglaublich.“
Ich muss mich noch einen Moment sammeln. „Wie viel deiner Aura habe ich gesehen?“
„Einen winzigen Bruchteil. Vielleicht zwei, drei Prozent.“
Ich schüttele ungläubig den Kopf. Das kann nicht sein. Verglichen mit den Auren, die ich im Training erblickt habe, ist seine tausend Mal so stark. Ach was, millionenfach. Als hätte er nicht nur eine Seele, sondern unzählig viele. Unzählige Seelen in einem Körper vereint.
Nachdem ich wieder klar bin, möchte ich wissen, wie stark meine Aura im Vergleich dazu ist.
„Im Moment ist sie ungefähr doppelt so stark, wie bei einem normalen Erwachsenen. Aber wenn sie ausgeformt ist, wird sie annähernd so stark sein, wie das, was du gerade gesehen hast.“
„So stark? Kann oder muss ich lernen, meine Aura auch zu tarnen?“
„Nein, das musst du nicht. Weil deine Aura nicht diese Macht ausstrahlt, wirst du nie solch extreme Reaktionen hervorrufen. Außerdem können andere Menschen deine Aura nicht bewusst lesen. Sie nehmen sie deutlich schwächer wahr.“
Ich weiß nicht, ob ich erleichtert sein soll.
Thanat steht auf und reicht mir die Hand, um mir beim Aufstehen zu helfen. „Komm, genug geübt. Deine Eltern sind auf dem Weg nach Hause. Lass uns mal sehen, wie ihnen ihr erster Arbeitstag geschmeckt hat.“
Wir treffen auf euphorische Eltern. Ihre Stimmen überschlagen sich fast vor Begeisterung. Über ihre Arbeitsbedingungen, die Kollegen, die Aufgaben. Über alles. Sie sind rundum glücklich. Ich bin es mit ihnen.