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Der Geschmack der Politik

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Die Mittelschicht, die bisher durch »Deiche« abgesichert wurde, wird mittlerweile von zwei Seiten bedroht. Von oben schauen die Reichen, die vom Auftrieb des Kapitalflusses profitierten, manchmal nach unten und sehen eine künstliche Blockade der Kapitalströme. So hindert möglicherweise eine Gewerkschaft einen Arbeitgeber daran, sich Mitarbeiter zu suchen, die für weniger Geld arbeiten, eine geringere soziale Absicherung oder weniger Sicherheit am Arbeitsplatz verlangen. Was einem Arbeitnehmer als Sicherheit erscheint, kann einem Arbeitgeber oder Investor wie ein Hindernis für die korrigierenden Kräfte des Marktes vorkommen.

Von unten betrachtet lehnen diejenigen, die vielleicht nicht in den Genuss einer speziellen Schutzmaßnahme kommen, die Absicherung der anderen ab. Dann wird beispielsweise die Legitimation von Lizenzgebühren, der Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft oder einer akademischen Festanstellung infrage gestellt, weil diese Maßnahmen als künstlich herbeigeführte Vorteile anderer wahrgenommen werden oder, noch ärgerlicher, als Hindernisse für die eigenen Kapitalströme.

Ein solches Beispiel erlebte ich in den achtziger Jahren, als ich ungewöhnliche Musikaufführungen organisierte, bei denen eine frühe Virtual-Reality-Technik zum Einsatz kam.

In Städten mit starken Gewerkschaften war eine Aufführung nahezu unmöglich. Beispielsweise wurde mir in Chicago nicht einmal erlaubt, das Equipment auf der Bühne selbst aufzubauen. Das durfte nur ein Gewerkschaftsmitglied machen. Das Dumme war nur, dass kein einziges Gewerkschaftsmitglied je mit Lichtwellenleitern mit Sensorsystem oder der Verkabelung von Magnetfeld-Generatoren zu tun gehabt hatte, die nötig waren, um die Körperbewegungen der auftretenden Künstler zu verfolgen. Die Situation war verfahren und völlig absurd. Außerdem konnten einem die Gewerkschaftler manchmal regelrecht Angst einjagen. Auf intellektueller Ebene argumentierten sie kaum, es ging vielmehr eine konkrete körperliche Bedrohung von ihnen aus. Bei dem Kompromiss, den wir schließlich aushandelten, um meine experimentelle Aufführung auf die Bühne zu bringen, ging es vor allem darum, Gewerkschaftsmitglieder sehr gut dafür zu bezahlen, einfach nur herumzusitzen, und andere dafür, dass sie bestätigten, dass die Gewerkschaftler tatsächlich da gewesen waren, auch wenn sie nur herumsaßen.

Damals schien also die Gewerkschaft nichts anderes zu sein als ein Hindernis, das sowohl die Kunst als auch den technischen Fortschritt blockierte. Dennoch kenne ich die Entstehungsgeschichte der Gewerkschaften und weiß ihre Bedeutung zu würdigen. Die Auseinandersetzungen zur Gründung der Gewerkschaften endeten oft tödlich, manchmal erinnerten sie fast an einen Krieg. Die Mitglieder der Arbeiterbewegung nahmen große Risiken und viel Leid auf sich, damit ganz normale Menschen heute ein freies Wochenende genießen und ein abgesichertes, ruhiges Leben führen können. Die Arbeiterbewegung war natürlich nicht frei von Fehlern, aber ich respektiere sie und bin dankbar für die Verbesserungen, die sie uns gebracht hat.

Obwohl ich den Gewerkschaften also positiv gegenüberstehe, muss ich dennoch auf ein paar entscheidende Mängel hinweisen. Dabei geht es mir weniger um die Arbeiterbewegung als um die Natur der Deiche oder Absicherungen. Was man als »Deiche der Oberschicht« bezeichnen könnte, etwa exklusive Investmentfonds, hat sich bekanntermaßen oft als Schneeballsystem oder ein anderes Betrugsschema entpuppt. Und dieses Muster existiert leider bei den Sicherungsmaßnahmen auf allen Ebenen.

Die Absicherungen sind eher menschlich als algorithmisch, was nicht unbedingt gut ist. Ob sie nun für die Reichen oder die Mittelschicht gedacht sind, sie haben unweigerlich etwas Konspiratives, und eine Verschwörung zieht naturgemäß die Korruption an. Kriminelle nutzen bestimmte klassische Absicherungen der Mittelschicht aus. Es ist ja allgemein bekannt, dass die Mafia die amerikanischen Gewerkschaften unterwanderte und musikalische Nutzungsrechte zur Geldwäsche benutzte.

Absicherungen wie unsere Deiche sollen Algorithmen in die Schranken weisen und den menschlichen Willen in den Kapitalstrom einbringen. Doch die Einmischung des Menschen öffnet auch allen menschlichen Fehlern Tür und Tor. Allerdings haben die Absicherungen trotz ihrer groben und problematischen Struktur vor den Zeiten der Cloud immerhin so gut funktioniert, dass die Mittelschicht Überschwemmungen, Stürme, Erdbeben und Dürren in einer Welt überstanden hat, die von den Finanzmärkten geprägt ist. Ohne unser Deichsystem, das sich mit seinen terrassierten Hängen wie eine schimmernde glockenförmige Anhöhe erhebt, wäre der Kapitalismus wahrscheinlich zu dem von Marx gefürchteten dynamischen System verkommen, bei dem die Märkte zwangsläufig zur Plutokratie führen.

Wem gehört die Zukunft?

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