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Sirenenserver in der Finanzbranche

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Die Welt der Finanzserver und Quant-Fonds ist noch geheimnisvoller als die Konzernimperien von Wal-Mart oder Google. Auch in diese Welt habe ich einen Einblick, allerdings lässt sich nur schwer abschätzen, wie viel ich von dem sehe, was tatsächlich abläuft.

In der Anfangsphase, die ich größtenteils verpasst habe, verstärkte die digitale Vernetzung das Interesse an dem, was bislang zu den Randbereichen der Finanzwelt gezählt hatte. Die Vernetzung der Finanzbranche begann in den achtziger Jahren, kam aber erst in den neunziger Jahren zur vollen Blüte. Zum ersten Mal waren Verfahren in der Lage, die prädigitalen Grenzen des menschlichen Reaktionsvermögens zu überschreiten.

Die Vernetzung der Finanzbranche erfolgte unabhängig und vor der Verbreitung des eigentlichen Internets, mit anderen technischen Protokollen und einer anderen Infrastruktur, auch wenn ähnliche Prinzipien angewandt wurden.

Erste Etappen bei der Entwicklung einer digital vernetzten Finanzbranche waren der Schwarze Montag 1987 (ein Börsencrash, der durch den automatisierten Aktienhandel ausgelöst wurde), Long-Term Capital Management (LTCM) und Enron. Ich will auf diese Geschichten nicht näher eingehen, die meisten werden Sie kennen. Man kann wohl sagen, dass die Vorfälle von damals bereits alle unsere globalen Probleme von heute vorweggenommen haben.

In allen Fällen war ein Hightech-Netzwerk beteiligt, das Vermögen zu konzentrieren schien, gleichzeitig jedoch für Kursschwankungen und für verheerende Folgen vor allem für die Steuerzahler sorgte, die am Ende die Rettung der Finanzinstitute bezahlen mussten.

Eine wichtige Rolle spielte auch die Deregulierung der Finanzbranche. Es wird noch darüber debattiert, ob die Schwächung der Regulierungen Ursache für die Krise war oder ob die Regulierungen geschwächt wurden, weil die Versuchung, sich über sie hinwegzusetzen, aufgrund der neuen Technologien so groß war, dass die Finanzindustrie verstärkt ihren politischen Einfluss geltend machte.

Doch wie man es auch dreht und wendet, interessant ist in diesem Zusammenhang vor allem, dass viele Regulierungsvorschriften aus einer Zeit stammten, in der die Märkte schon einmal zusammengebrochen waren, vor allem während der Weltwirtschaftskrise in den dreißiger Jahren. Das soll nicht heißen, dass die Gefahren, die mit der Vernetzung der Finanzmärkte entstanden, dieselben waren wie vor der Regulierung. Das würde sonst womöglich bedeuten, dass sich die Regulierungsbehörden nur an der Vergangenheit orientieren.

Ich kenne ein paar Leute, die mit LTCM zu tun hatten, und ich nahm bei einem Startup-Unternehmen die Anrufe von Enron entgegen, als der Energiekonzern die Firma kaufen wollte, die am Ende aber an Google ging. Dabei lernte ich hauptsächlich Sirenenserver der Finanzwelt der zweiten oder dritten Generation kennen.

Ich habe viele Freunde, die als quantitative Analysten arbeiteten, und habe auch einige sehr erfolgreiche Finanzmanager an der Spitze der nach außen abgeschotteten Unternehmen kennengelernt. Ende der neunziger und Anfang der nuller Jahre konnte ich mehrere Schaltstellen der Finanzwelt besuchen und führte lange Gespräche über Statistiken und Netzwerkarchitektur.

Normalerweise gab es ein unauffälliges Technologiezentrum in einem der Bundesstaaten rund um New York City, manchmal auch etwas weiter weg. Dort starrte eine schläfrige Schar Mathematiker und Computerspezialisten, die oft direkt vom MIT oder aus Stanford kamen, auf Bildschirme und nippte an ihrem Espresso.

Die Systeme wiesen eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit den Designs im Silicon Valley auf. Manche nahmen als Input alles, was sie im Internet und anderen, geschützten Netzwerken aufgabeln konnten. Wie in den Rechenzentren von Google brüteten erstaunliche Algorithmen in einer Nacht über den gesamten Daten des Internets und suchten nach Korrelationen. Vielleicht sorgte ein plötzlicher Anstieg bei den Kommentaren über Moskitostiche für eine automatische Investition in ein Unternehmen, das Mückenschutzlotionen verkaufte. Tatsächlich ist das ein erfundenes Beispiel. Die echten Beispiele ergeben für einen Menschen keinen Sinn. Aber damit wurde Geld verdient, und das ziemlich zuverlässig.

In den meisten Fällen stammte der Input nicht aus dem gesamten Netz, sondern bestand aus numerischen Finanzdaten. Signalverarbeitende Algorithmen versuchten, subtile, aber vorhersagbare Schwankungen zu erkennen, die noch nie zuvor bemerkt worden waren. Vielleicht wackelte eine Zahl nur ein bisschen, aber eben nicht völlig zufällig. Indem man rhythmisch auf und gegen die Zahl setzte, ergab sich ein kleiner Gewinn. Wenn das eine Million Mal simultan gemacht wurde, war das eine hübsche Summe.28

Andere Systeme stützten sich weniger auf raffinierte analytische Mathematik, sondern mehr auf die spektakulären logistischen Fähigkeiten digitaler Netzwerke. Zum Beispiel gleichen Banken die Konten zu bestimmten Zeiten am Tag ab. Mit einem ausreichend entwickelten Netzwerk kann Geld zu einem ganz konkreten Zeitpunkt automatisch auf Konten transferiert und wieder abgezogen werden. Dadurch entstehen komplizierte Kreisläufe perfekt getimter Transaktionen, die durch viele Länder gehen. Am Ende jedes Kreislaufs wurde zuverlässig Geld verdient, und zwar nicht, indem man auf die unvorhersehbaren Ereignisse in der Welt wettete, sondern indem man mit Hilfe einer minutiösen Planung die Eigenarten lokaler Regeln weltweit ausnutzte. So konnte beispielsweise dasselbe Geld bei zwei verschiedenen Banken auf entgegengesetzten Seiten der Erdkugel gleichzeitig Zinsen bringen. Und keine der beteiligten Banken ahnte etwas davon.

Dann gab es noch die speziell positionierten Systeme. Besonders berüchtigt sind die Server für den Hochfrequenzhandel. Sie zapfen direkt die Zentren des Börsenhandels an und machen Gewinne, bevor jemand anders auch nur einen Kaufantrag platzieren kann. Dieser Hochfrequenzhandel nahm gerade seinen Anfang, als ich mich von Manhattan verabschiedete. (Meine Wohnung wurde bei den Anschlägen von 2001 beschädigt, daher zog ich ins verrückte Berkeley.)

Soweit ich weiß, war jede Methode, der ich begegnete, völlig legal. Natürlich bleiben Fragen zur Legalität einiger Transaktionen bei den bekanntesten Wall-Street-Firmen offen – ebenjenen Unternehmen, die nach der Finanzkrise 2008 auf Kosten der Steuerzahler gerettet werden mussten.

In der stillen Welt der Finanz-Sirenenserver wurden Summen eingefahren, die man durchaus mit den Gewinnen großer Konzerne vergleichen konnte. Einige Finanzunternehmen überstanden die Rezession sogar sehr gut, andere dagegen nicht.

Die erfolgreichsten Betreiber dieser Sirenenserver waren oft unkonventionelle Typen, oder zumindest erklärten sich die unkonventionellen bereit, sich mit mir zu unterhalten. Einen sah ich nur in Seidengewändern, wenn er im Wellnessbereich seines gigantischen Luxuslofts in Tribeca, in Manhattan, entspannte. Von vielen dieser »Masters of the Universe«, wie sich die Finanzspekulanten gern nennen, hörte ich die immer gleiche Geschichte: Im Grunde geht es darum, einen speziellen Zugang, eine spezielle Verbindung oder spezielle Informationen zu bekommen. Man musste die richtigen Leute kennen, um an die richtigen Daten zu kommen, oder einen speziellen Zugang in die Computer der Finanzmärkte haben oder die Erlaubnis, dass die eigenen Algorithmen automatisch Transaktionen an weit entfernten Orten durchführen dürfen, wo so etwas noch nicht vorgekommen war.

Eigentlich handelte es sich um ganz altmodische Seilschaften, die sich unter dem Kabelgewirr der neumodischen digitalen Netzwerke versteckten.

Es gibt zwar nie so etwas wie absolute Sicherheit, doch manche Methoden, die in den höheren Regionen der Finanzbranche praktiziert werden, sind fast perfekt. Früher haftete der perfekten Investition in aller Regel der Ruch von Korruption an, oder sie war auf ein Schlupfloch im Gesetz angewiesen. Es gibt sicher auch heute noch solche Manöver, ich denke etwa an die Steuerschlupflöcher für Hedgefondsmanager. Doch der Kern dieser gewinnbringenden Geschäfte ist heute oft »organischer«, »sauberer« als früher, wenn man auf ein »todsicheres Geschäft« setzte. Wenn man mit komplizierter Mathematik Geld machen kann, dann kann das Gesetz nicht Schritt halten, selbst wenn man es versuchen würde.

Als ich mein Buch fertig hatte, kamen in Europa Überlegungen zur Regulierung des Hochfrequenzhandels auf. Ich hoffe, den Gesetzgebern ist klar, vor welcher Herausforderung sie stehen. Für einen Algorithmus ist eine Sicherung oder ein Zeitlimit nur eine weitere Eigenschaft, die analysiert und genutzt werden muss. Algorithmen werden »lernen«, in genau der richtigen Millisekunde eine Sicherung zu umgehen, um Gewinn zu machen. Wenn die Frequenz des Handels beschränkt wird, wird ein anderer Parameter, etwa der Zeitraum oder der relative Zeitpunkt der Transaktion, automatisch verfeinert, um einen Vorteil zu finden. Dieses Katz-und-Maus-Spiel kann sich endlos fortsetzen. Der einzige Weg zurück zu einer aufrichtigeren Form des Kapitalismus besteht darin, die Struktur der Sirenenserver aufzubrechen.

Computer haben in einigen Fällen offenbar Folgendes ermöglicht: einen neuen Weg zu einem »todsicheren Geschäft«, der das frühere lästige Umwerben von Politikern überflüssig macht.

Unerlässlich für einen Sirenenserver in der Finanzbranche ist seine Informationsüberlegenheit. Wenn alle wüssten, was Sie tun, könnte man Sie zur Absicherung verbriefen. Wenn jeder Wertpapiere nach einer mathematischen Methode kaufen könnte, die als »todsichere Sache« gilt, würde man die Vorteile kopieren wie eine Musikdatei und überall verteilen, bis der Vorteil nichtig wäre. Also kann in der heutigen Welt Ihr Kredit verbrieft werden – im Geheimbunker eines anderen. Aber von dem Bunker wissen Sie nichts, also können Sie ihn nicht verbriefen. Wenn es diesen Unterschied nicht gäbe, würde diese neue Form des »todsicheren Geschäfts« nicht existieren.

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