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Der umgekehrte Markt

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Ghardaia ist eine riesige Siedlung, deren türkis und weiß gestrichene Fassaden zwischen drei Hügel hineingegossen scheinen. Als sie im Mittagslicht vor uns auftauchte, streckten wir – nicht achtend der Erschütterungen durch Schlaglöcher – die Köpfe aus den Fenstern und starrten mit offenen Mündern in die flirrende Wüste hinaus. Der herrliche Ausblick von einer Anhöhe der Zufahrtsstraße aus ließ wahre Begeisterungskaskaden unseren sonnentrockenen Lippen entsprudeln.

Genaugenommen besteht Ghardaia aus fünf einzelnen Städten, Ghardaia, Melika, Beni Isguen, Ben Noura und El Affeuf. Die ganze Siedlung, ganz besonders aber Beni Isguen, ist Lebensraum einer strenggläubigen Moslemsekte, der Mozabiten. Der Stamm hat sich vor etwa 900 Jahren von der Hauptrichtung des Islam abgespalten und ist zu einer Extremistenfraktion, sozusagen, mutiert. Wie unter einer Dunstglocke im tiefen Schlaf liegend, breiten die Städte sich über den Hügeln aus, bilden weißleuchtende Fassadenmeere aus lichten Spielzeugwürfeln mit hellblauen und türkisfarbenen Krönchen.

Nach einer Führung in Beni Isguen und anschließendem Museumsbesuch, wo wir über die strengen Gesetze der Mozabiten, in die der Führer uns einweihte, zu staunen lernten, streiften wir in kleinen Gruppen durch Ghardaia. Am Marktplatz Beni Isguens würde um vier Uhr nachmittags buntes Treiben besonderer Art beginnen, endlich etwas, auf das wir uns freuen konnten.

Karli, Anita und ich nahmen den einstündigen Fußmarsch durch glühende Hitze in das etwa fünf Kilometer entfernte Zentrum von Ghardaia auf uns, notdürftig geschützt durch Strohsonnenhüte und Tücher. Das Erlebnis von Hitze beeindruckte uns immer wieder auf neu, machte uns aber noch nicht schlau genug, sie zu meiden, sodass wir uns japsend immer wieder unter Kopfschmerzen und großem Durst im Schatten von Bäumen und Ladenverschlägen wiederfanden.

Beeindruckt vom Los der mozabitischen Frauen betrachteten wir die Männer ringsumher mit gehörigem Missbehagen.

»Stell’ dir vor,« sinnierte Anita, »... du darfst nur ein halbes Auge herzeigen!«

»Ich würde nicht weit kommen, kurzsichtig wie ich bin.« Wir lachten, aber lustig fanden wir das Leben der Mozabitenfrauen keineswegs. Wer wagte, ergründen zu wollen, ob diese Frauen sich den absonderlichen Regeln ihres Glaubens auch heute noch freiwillig unterwerfen oder ob die präpotente Männerwelt darin immer noch grausam den Stock schwingt? Bis Einsetzen der Pubertät dürfen die Mozabitenmädchen unverschleiert und überhaupt frei herumlaufen, allerdings nur innerhalb Beni Isguens. Sobald sie zur Frau geworden sind, wird es ihnen nicht bloß untersagt, sich öffentlich unverschleiert zu zeigen – sie dürfen nur ein halbes Auge unbedeckt lassen und müssen sich ansonsten vollständig verhüllen. Das Haus zu verlassen ist nur für Notwendigkeiten wie Einkauf, Arztbesuch oder Begräbnis erlaubt und nur, sofern der Ehemann derlei vergnügliche Ausgänge billigt.

»Besser wäre doch, die Mädchen dürften sich gleich gar nie frei bewegen,« Karli zuckte regelrecht zusammen beim Anblick der Wesen, die wie Mumien umher wandelten und doch lebende Frauen sein sollten mit ihren wehenden Kochtüchern und dem Gesichtsfez, den sie so streng vor ihre Züge drapieren und festhalten müssen, dass der Betrachter tatsächlich nichts als ein halbes, blitzendes Auge erkennen kann, »... nach dem Motto ,Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß‘.«

Um ihren Weg über die tausenden Treppen von Beni Isguen, das auf einem steilen Hügel liegt, zu erkennen oder andere Leute, drehen die Frauen ihre Köpfe in absonderlich anmutende Positionen. Unser Führer hatte beim Spaziergang durch die wunderschöne Stadt streng darauf geachtet, dass niemand von uns irgendeine Person in diesem Ort zu fotografieren versuchte, Mauern, Tiere und die Aussicht – ja, aber Menschen ... niemals! Mir schien allerdings einige Male, als näherten sich uns die mumifizierten Wesen, die uns zufällig in den engen Gässchen über den Weg liefen, durchaus verhalten neugierig. Es machte mich traurig, die fröhlichen, hübschen Gesichter der kleinen Mädchen von Beni Isguen zu sehen, die mit Eseln und Hunden über die Stufen in den engen, schattigen Gässchen tollten. Bald würde keine dieser Mauern ihr Gesicht je wiedersehen. Den Mozabiten gehören Menschen verschiedenster Volksstämme an, und die Kindergesichter leuchteten in dunklem Schokoladenbraun ebenso wie in rötlichem Umbra und in hellstem Ocker. Mozabiten zu fotografieren gilt als Frevel und wird streng bestraft, erklärte man uns, und unter gewissem Gruseln schlichen wir durch die Gassen davon den Hügel hinab. Wir durften ein Musterhaus der Mozabiten betreten, und ihre Kunst, Teppiche zu weben, die sie von ihren Vorfahren, den Berbern übernommen haben, beeindruckte uns tief. Außerdem wurde uns gestattet, eine Frauenkammer einzusehen, ein Raum ohne Fenster, dick mit Teppichen und Decken ausgelegt, als einzige Möbel fanden sich Schminktisch und Bett ...

Anita schüttelte sich vielsagend beim Hinausgehen ...

Am staubigheißen Marktplatz von Ghardaia beginnt wie in allen heißen Gegenden alles Leben nachmittags erst nach der Siestazeit um etwa drei Uhr. Wir verbrachten einige Zeit im Gassengewirr beim Feilschen um Turbanstoffe und Früchte, konnten uns nicht sattsehen an den Leuten und den alten Mauern, den farbstrotzenden Bergen von Obst und Gemüse und dem blauen Himmel, als seien wir wochenlang lebendig begraben gewesen. Wir streiften durch die nur meterbreiten Gänge zwischen den kühlen Lehm- und Ziegelmauern. Alfi und Luis begegneten uns, und wir nutzten die Gelegenheit, einander als Reisekameraden erstmals bei Spaß und Geplauder ein wenig auf den Zahn zu fühlen. Ich stellte fest, dass Alfi nicht nur nett war, sondern wunderschöne Augen und einen feinen, sanften Mund besaß ... Und Luis gab sich hemdsärmelig gewitzt und freundlich, dass man nicht anders konnte, als ihn zu mögen.

Am alten Eingangstor in der hohen Stadtmauer Beni Isguens besagt ein Schild sehr deutlich, welcher Wert hier auf Sittlichkeit gelegt wird. Gezeichnet und in knappen Worten, damit wirklich jedermann die Botschaft der Strenge begreifen solle, wird Rauchen, Fotografieren, Händchenhalten, Radiospielen, Hinsetzen in den Gassen, lautes Sprechen und anderes mehr schlichtweg bei schlimmer Strafe verboten.

Auf dem Marktplatz wogte es von einheimischen Männern, die in langen Gewändern, mit bestickten Käppchen die älteren, vielfach westlich gekleidet die jüngeren, lustwandelten. Nur wenige verschleierte Frauen sah man und eine stattliche Anzahl von Touristen. Im Zentrum des Marktplatzes standen alte Federbetten, frisch gezimmerte Möbel wie Stühle, Tischchen und Kommoden sowie riesige Krüge. Ringsumher an den kühlen, dicken Hausmauern saßen oder lehnten die Leute, rauchend, plaudernd oder einfach ins Gewühl blickend. Lautes Stimmengewirr und Rufe mochten selbst auf dem Gipfel des Hügels, über den der Ort sich breitete, am großen Lehmziegelturm, noch zu hören sein. Ich war sicher, Kinder, Esel und Frauen, die über die tausenden Steintreppen der schmalen, schattigen Gassen huschten, wo jeder Schritt wie innerhalb eines Gewölbe nahezu hallt, würden innehalten und heimlich lauschen ...

Zahllose Händler schlenderten oder liefen eilig mit verschiedensten Waren in den Händen an den Reihen der Sitzenden vorbei, priesen Konsistenz, Form, Preis und Verwendbarkeit ihrer Krüge, Werkzeuge und Haushaltsgeräte. Sie prahlten mit Geschmack, Frische und Gediegenheit der Essbarkeiten, gestikulierten lebhaft und zogen bis zu zehn Runden mit ein und demselben Stück, ehe sie auf kurze Zeit verschwanden und die Wanderung mit einer neuen Ware wieder aufnahmen, wenn niemand die alte gekauft hatte.

Wer Interesse an diesem oder jenem fand, hob die Hand. Die Adleraugen der Händler erspähten jede noch so kleine Bewegung. Eilfertigst und leicht gebückt kamen sie heran, sich verneigend, mit oft zahnlosem Mund verbindlich lächelnd, und sofort begann leidenschaftliches Feilschen und schlaues Handeln.

Wir verstanden natürlich kein Wort, die Gestik dieser Leute aber sagte alles. Sogar Kinder liefen mit Kleidungsstücken, Tabak und kleinem Spielzeug herum, feilschten mit hellen Stimmen und geschäftstüchtig blitzenden Augen. Ein Händler bot mit Pailletten, Glasperlen oder Lurexborten bestickte Kleider feil, prächtig anzusehen mit vielen Rüschen, Ärmelmanschetten und Korsetts in Pistaziengrün, Rosa und Goldgelb, und keinesfalls stammte diese Mode aus afrikanischer Kultur. Dem Äußeren nach zu schließen wohlhabende Herren in buntschillernden Kaftans und typischen kappenartigen Kopfbedeckungen, nicht selten von enormer Leibesfülle, besahen die Roben mit Kennerblick, beifällig oder zweifelnd, befühlten die Stoffe, breiteten, die Röcke aus. Ich konnte nicht verfolgen, ob einer von ihnen ein solches Kleid für seine Angetraute kaufte, fragte mich aber, bei welchen Gelegenheiten die »gefangenen« Frauen derartige Kostbarkeiten wohl stolz vorführen würden können und ob sie nicht am liebsten selbst derlei aussuchen würden ...

Plötzlich kam eine kleine Person in höchst sonderbarem Aufzug über den Platz marschiert: Das Gesicht fast völlig von einem weißen Fez wie bandagiert bedeckt, trug sie dunkle Sonnenbrillen, darüber eine ausladende Schildmütze mit Gummiband, den Hals mit einem bestickten Tuch fest umwickelt, rote Hosen und dazu in jeder Hand einen weißen Plastikkanister. Ihre offenbar schwere Last zwang sie in leicht gebückte Haltung, trotzdem kam sie in drolligem Entengang schnell inmitten all der dunkelhäutigen, rufenden und gestikulierenden Händler auf uns zu getrabt. Wir saßen unter den Einheimischen an der Mauer und schauten zu, was geschah.

Ein übereifriger Händler? Was wollte der von uns? Sahen wir so aus, als wollten wir Plastikkanister kaufen? Wir erkannten – Gerda.

Armin erstickte fast vor Lachen. Silvia musste sich abwenden, um nicht durch ihre Erheiterung Gerda, die schnaufend die Kanister anstellte, uns fragte, wie es uns gehe und wann das Treffen zur Weiterfahrt angesetzt sei, zu kränken oder in tödliche Verlegenheit zu bringen. Ich würgte und hustete und tat schnell einen Schluck aus meinem Plastikbeutel mit der köstlich würzigen, fettigen Kamelmilch, die ich eben erst erstanden hatte und die noch wunderbar kühl war. Karli vergrub das Gesicht in den Händen, und was die anderen taten, verfolgte ich nicht, denn ich konnte mein Kichern kaum bezähmen, betrachtete die staubigen Bänder meiner Sandalen. Die Männer um uns bestaunten freundlich lächelnd die allen Indizien nach europäische Frau, von der jedoch kaum mehr als die Hände und ein brünetter Rossschwanz im Nacken zu sehen waren und die sich verhielt, als sei sie eine Targia, oder, noch besser, eine mystische Einsiedlerin unbestimmter Volkszugehörigkeit. Gerda, wie sie leibte und lebte, ein Original der Wüste, die sie so liebt. Ihr sollte die Reise allerdings kein Glück bringen,

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