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Morgenröte

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Sieben Uhr dreißig des ersten Reisetages

Die Kunde von der Öllache unter »Uhurus« Bauch machte ihre Runde unmittelbar nachdem wir uns gegenseitig aus den Wagen gedrängt hatten, steif wie erfrorene Heringe. Einige plötzlich Hellwache hatten Philipp, genannt »Brommel«, auf Knien über den Asphalt rutschend Morgenandacht unter »Uhurus« Bauch betreiben sehen.

»Nichts besonderes«, brummte Brommel, steckte sich mit zitternden Fingern eine geknickte Zigarette zwischen die Lippen und entzündete sie nach fünf, sechs vergeblichen Versuchen mit seinem Feuerzeug, und niemand mochte sich zur frühen Stunde noch eingehender mit einer Lappalie wie etwas, das aussah wie ein Ölfleck befassen. Wir waren auf einer Autobahnraststätte in Arnoldstein, an der Kärntner Grenze zu Italien, gelandet. Meine Füße waren so kalt, dass ich die Zehen nicht bewegen konnte.

Im Gastraum der Raststätte begrüßten wir den modrigen Geruch nach Rauch, Kaffee und Poliermittel als sei es bereits der Duft der warmen Tropen, den abgetretenen Holzboden und das neugierig, dicke Gesicht der Bedienerin als würden wir einen langersehnten, erholsamen Urlaub bei einer wohlmeinenden Tante antreten dürfen. Unsere Gesichter begegneten einander erstmals im unbarmherzigen Tageslicht, ungewaschen, erschöpft, noch schlafgezeichnet, doch lächelnd vor Erleichterung, das verkrampfte Unbehagen fürs erste ausgestanden zu haben. Wir wussten noch nicht, ob wie einander sympathisch finden sollten, bewegten uns langsam, als umschlichen Raubtiere einander, unschlüssig, ob sie zuerst die Artgenossen beschnuppern oder aus nagendem Hunger auf Jagd gehen sollten.

Der erboste Musikkritiker vom Vorabend lehnte, die Hände in den Hosentaschen vergraben, in blauem Anorak etwas abseits an der Theke. Nachdenklich wirkte er nun und ein wenig verlegen.

»Morgen,« krächzte ich, als ich an ihm vorüber schlich. Halsschmerzen kündigten sich an. Er musterte mich, als könnte er nicht fassen, dass jemand das Wort an ihn richtete. Er antwortete mit einem Heben des Kopfes und einem Lächeln, und dieses Lächeln wärmte mich mehr, als die Aussicht auf eine Tasse heißen, sehr, wirklich sehr heißen Kaffees.

Eine Frau mit blonden, mausfellkurzen Haaren beobachtete mich. Ich spürte ihren Blick im Rücken, ehe ich ihn sah, folgte ihm wie am Gängelband, augenblicklich einverstanden mit ihrer Art der Initiative. Irgendwann würde ich ohnehin ausforschen müssen, mit wem genau ich mich in ein Boot gesetzt hatte.

»Ich bin Silvia.« Ihre graublauen Augäpfel hafteten minutenlang an meinen Zügen, ihre Lippen blieben schmal und starr. Als sie mich anlächelte – ich hatte ihr wegen meines Erstaunens über ihren harten Blick nicht zugehört, was sie gesagt hatte –, zwangen ihre scharfen, weißen, fast bedrohlich gebleckten Schneidezähne mich dazu, mich fröstelnd abzuwenden. Eine Lehrerin, wusste ich aus ihren Reiseunterlagen.

Erleichtert entdeckte ich Anita in meiner Nähe. Sie war mir vertraut, als würde ich sie schon lange kennen. Vielleicht war es ihre muntere Aufmerksamkeit für alles und jedes und ihre unbefangene Art, sich unter den fremden Leuten zu bewegen, die mich ermutigte und zugleich beruhigte. Jeder von uns hatte bereits einen Mitreisenden an der Angel, zu dem er – und sei es nur durch die Sitznachbarschaft – einen stabileren Draht hatte als zu den anderen. Nur drei, vier der mitreisenden Burschen kannten einander privat schon länger, und die beiden Pärchen, Inga und Rudi und Dunja und Paul bildeten jeweils ihre eigene kleine Gruppe.

Inga und Rudi pflegten ihre Beziehung auffällig intensiv. Sie agierten, so weit ich das bislang beobachten hatte können, kaum jemals mehr als ein paar Meter voneinander getrennt. Auch während der Pinkelpausen. Inga streichelte Rudi den Rücken, fuhr ihm mit den Fingern durch die strubbelige Frisur. Rudi rieb Ingas Hände, hängte ihr die Jacke um. Ein wenig abseits im Restaurant blieben die beiden doch ständig in Blickkontakt mit dem Rest des Rudels, als wollten sie in stillem Einvernehmen vermeiden, uns den Rücken zuzuwenden.

Eine hübsche, zarte Frau um die vierzig, mit schulterlangem, glatten, dunklen Haar, hatte ihren Platz im »Uhuru« neben dem »Erich, dem jüngeren« (es gab auch einen »älteren«, hatten Anita und ich bereits herausgefunden) gewählt. Auch falls es umgekehrt gewesen sein sollte – die beiden blieben im Restaurant weiter beisammen und unterhielten sich angeregt. Dreister um mich blickend entdeckte ich weitere Gesichter, die mich ebenso neugierig betrachteten, wie ich sie, als versuchten sie, Gesichtszüge, Kleidungsstücke und Namen der neuen Bekannten auswendig zu lernen.

»Ach Gott,« seufzte die Lady im Safarianzug, die im Wagen hinter mir den Platz neben Karli innehatte, im Vorübergehen. Sie lächelte mich an, ein wenig leidend wie die Madonna, hob schwach die Hand und sang, gesenkten Hauptes, leise vor sich hin. Ihre weiße Haarsträhne auf dem Scheitel leuchtete.

»Hallo! Ich bin Dunja!« Ein blonder Lockenschopf umrahmte ein ausgesprochen hübsches, rundliches Gesicht. Von einem dicken Turnschuh auf den anderen hüpfend, ruderte die kleine Mollige mit den Armen und warf die Locken. Sie hatte sicherlich recht, sich durch Turnübungen aufzuwärmen, aber mir fehlte das Selbstbewusstsein, mich zum Amüsement der anderen auszutoben, »... scheußliche Nacht, was?« Der slawische Akzent klang allerliebst. Ehe ich antworten konnte, jubelte sie »Ach, da ist Milan! Kennst du Milan schon? Ach ja, klar kennst du Milan!« Sie fischte sich einen grinsenden, verblüffend attraktiven jungen Mann von seinem Thekenplatz her an ihre Seite und nahm ihn ins Schlepptau durch die morgendliche Versammlung. Ihr Lachen plätscherte unaufhörlich durch Tassenklirren und Gemurmel. Und Paul, seinem Namensvetter Newman nicht unähnlich, folgte ihr geduldig. Ilse schaute ihm versonnen nach. Keiner von uns sollte es je schaffen, der wahren Natur dieser seltsamen Ehebeziehung zwischen der polnischen Architekturstudentin Dunja und dem frischgebackenen Arzt Paul, vielleicht war er ebenfalls Pole, auf die Spur zu kommen. Sicher ist jedenfalls, dass die beiden sich viel Heilsames von dieser gemeinsamen Abenteuerreise versprochen hatten. Wir sollten dieses Ehepärchen lieben lernen und bald verlieren ...

Mein Gegenüber im »Uhuru«, Armin, rauchte auch im Restaurant eine Zigarette nach der anderen. Ich gewann den Eindruck, würde er den Nikotinspiegel in seinem Inneren absinken lassen, könnte der gesamte hagere junge Spund in sich zusammensacken wie ein kaputter Luftballon. Wir grinsten einander an, und ich nahm mir vor, ihm demnächst Schreckliches anzudrohen, würde im Wagen auch nur noch eine der von ihm achtlos produzierten Rauchschwaden mein Gesicht streifen.

Ein gutaussehender, kräftig sportlich gebauter Bursche grinste mit prachtvollem Gebiss, sobald jemand ihm zunickte. Luis. Sein klarer, fröhlicher Blick war an diesem modrig riechenden, klammen Morgen angenehm wie würziger, warmer Seewind. Vielleicht lachte er uns aber auch nur aus.

Gesprächsfetzen schwirrten durch den Raum wie Fledermäuse, deren Flug man niemals ganz zu verfolgen vermag. Wir wollten so vieles voneinander erfahren – wo also sollte man zu fragen beginnen, welches Thema zuerst anschneiden, wen ansprechen?

»Die Heizung muss repariert werden...«

»Jawohl. Darauf müssen wir bestehen.«

» ... dieser Ölfleck ...«

»... wenn jetzt schon eine Leitung morsch ist, ... na, Prost Mahlzeit!«

»Hoffentlich regnet es nicht durch ganz Italien.«

»... wie alt ist unser Bert eigentlich?«

»Welcher Bert?«

»Der Chef ...«

»... wir sind noch nicht einmal über die Grenze ...«

»Und wie geht es dir?«

»... verkühlt, glaube ich.«

»... und mein Hintern ist eine einzige Wunde.«

»Hunger!«

Erich, »der ältere«, lächelte charmant in die Runde, selbstbewusst wie der alternde James Bond, eine Kaffeetasse in der einen Hand, eine Zigarette in der anderen. Sein Wohlstandsbäuchlein würde ihn im Fall des Falles einige karge Wochen in Afrika überstehen lassen. ,Geboren 1926‘, also über sechzig Jahre alt, fiel mir ein, ich kannte seine persönlichen Daten, weil ich für ihn die Visaformalitäten erledigt hatte. Er wirkte so frisch, als hätte er die ganze Nacht lang wunderbar geschlafen. Hatte er auch, informierte er mich später. Wir sollten ihn im Laufe der Reise zu bewundern und nicht zuletzt darum zu beneiden lernen, dass Erich grundsätzlich alles, aber auch wirklich alles leicht und mit Humor nahm. Er war so bescheiden und ausgeglichen, dass selbst in unseren Augen gröbere Mängel ihm nicht als beklagenswert erschienen. Seine optimistische Einstellung mochte in die vielfältigen Erfahrungen eines ereignisreichen, mutigen Lebens und in seine überaus friedfertige, aber erfrischend fröhliche Natur eingebettet sein. Mit ihm ließ sich über alles sprechen. Er blieb immer freundlich, ließ sich nicht von Wut oder Aufbegehren anstecken. Vielleicht war sein entspannter Umgang mit den Widrigkeiten unserer gemeinsamen Reise aber auch zum Teil seiner Schwerhörigkeit zuzuschreiben.

Der zweite Senior des Rudels, Otto, gab sich an diesem ersten Morgen unserer Reise ebenfalls munter wie ein Fisch im Wasser, allerdings mochte seine Wachheit einigem Ärger zuzuschreiben sein. Otto gehörte zu den Passagieren, denen schon am ersten Morgen auffiel, dass niemand und schon gar nicht Bert Anstalten machte, für ein ordentliches Frühstück zu sorgen, für den alten Mann eine Notwendigkeit nach der anstrengenden Nacht. Auch ich dachte nicht daran, dass wir Bert das Essensgeld für die gesamte Reise vom ersten Tag an im voraus gezahlt hatten, und ich kümmerte mich, wie die anderen, selber um meinen Kaffee und ein Sandwich. Ottos faltiges, bleiches Gesicht spiegelte eindeutig sorgenvolle Kritik. Der kleine, rundliche, ziemlich kahle Erich brachte den großen, grauhaarigen Otto aber doch zum Lachen. Beide Herren schienen also gewillt, vorerst noch nicht allzu viele Gedanken an den Ölfleck, die Strapazen der Nacht und die Notwendigkeit, der Fähre entgegen zu preschen, zu verschwenden.

Ein zierlicher, düster spöttisch dreinblickender junger Mann mit kohlschwarzen, kurzen Haaren und grünlich getönter, ansonsten nahezu schneeweißer Gesichtsfarbe, Dietmar, später als »Beinhart« im Reiseprotokoll anzutreffen, trat zu den beiden Senioren.

»Das Adriatief kommt uns entgegen,« hörte ich ihn sagen.

»Nein, nein,« entgegnete Erich, der ältere, stirnrunzelnd, fröhlich, »... gerade erst habe ich ihn im Führerhaus gesehen«.

Der erste Reisetag war angebrochen. Übrigens bezahlte Bert uns an diesem Morgen doch überraschend je eine Tasse Kaffee. Es war das erste und das letzte Mal, dass er dies tun sollte.


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