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Omen

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Wir litten, und dies war Abenteuer.

Schließlich hatten wir keinen Neckermann-Komfort-Urlaub gebucht. Wer gemeinsam friert, unter allzu gefüllter Blase und allzu leerem Magen gleichermaßen leidet, sicher sein kann, dass der Gesprächspartner das eigene Aussehen ebenso abgerissen und zivilisationsfern findet, wie man selbst das seine, dass der teigig-bleiche Teint nicht nur ein Charakteristikum des eigenen Antlitzes ist, beginnt zu ahnen, was Nächstenliebe bedeutet. Er vergisst dieses Wissen jedoch sofort, sobald Fototasche oder Rucksack vom Fuß eines Nächsten durch den Wagengang befördert wird. Wir fanden immer noch Gründe zum Lachen.

Für ein Frühstück blieb wieder keine Zeit, denn die Fähre wartete nicht.

»Jaja,« äfften wir ungezogen hinter Bert her, »... und blabla ...« Also kein Kaffee, kein Brötchen, allenfalls Nikotin. Immerhin durften wir eine Autobahnraststätte mit Toilette und Waschanlagen aufsuchen, anstatt unsere Notdurft hinter Büschen verrichten und uns aus der Waschflasche das Gesicht befeuchten zu müssen.

Nach dem Halt an der Raststätte brausten wir weiter. Nach etwa zwanzig Kilometern fiel uns auf, dass Sabine, die Krankenschwester, fehlte. Gerade als wir diese Erkenntnis, gefärbt von überraschend stark und unerklärbar aufbrandender Panik durch das Sprachrohr in Bert’s taube Ohren brüllten, überholte ein Italienischer Lastwagen unser eigenes Gefährt. Sabine saß drüben im Führerhaus und winkte uns. Ihr Gesicht war traurig.

Wir hatten sie schlicht auf der Raststätte vergessen.

Als sie bleich, fassungslos und doch lachend wieder unter uns saß, gelobten wir einander, fortan nach jedem Stopp eine Zählung zu machen. Bert würde das nicht tun, wir seien doch kein Kindergarten, hatte er uns angeschnauzt, kein bisschen erleichtert wegen Sabines Wiedererscheinen, sondern zornig über den neuerlichen erzwungenen Aufenthalt. Wir hielten an der neu entwickelten Gewohnheit des akribischen Zählens der Reiseteilnehmer tatsächlich bis ans Ende der Reise fest. Die Sorge um Fotoausrüstung und Gepäck schwebte fortan gleichermaßen unverrückbar wie ein Gespenst über unser aller Köpfen. Die ständige Feuchtigkeit im Wagen machte recht nachdenklich. Wir wagten kaum Vorausschauen auf tropische Gegenden. Und ich hielt an mich, um meine Kamera nicht alle paar Stunden auf ihr Funktionieren hin zu überprüfen.

Armin, mein ständig in Begleitung einer Zigarette befindliches Gegenüber, schien meine Gedanken telepathisch zu verfolgen. Zumindest signalisierte sein ständig auf mein Gesicht fixierter Blick Interesse an meinem Innenleben. Vielleicht hatten es ihm auch bloß meine Wimpern angetan oder meine Oberlippe. Ich hatte mich einigermaßen an sein Starren gewöhnt. In müßigen Stunden dachte ich allerdings darüber nach, wie ich ihm auf mögliche fiese Weise heimzahlen würde können, dass er mich keine Minute lang vergessen ließ, dass ich zu Stressakne neigte und zu Fieberblasen. Mit ihm plaudern zu wollen, hatte ich aufgegeben. Er war bereit zu antworten, was immer ich fragte, blieb aber unfähig, den kleinsten Gesprächsfaden selbst weiterzuknüpfen.

Bert, autark vorne im Führerhaus, mussten die Problemchen der Gefangenen nicht kümmern. Er hatte die Übersicht zu bewahren, und das schien ihm wohl Anforderung genug.

»Geben wir ihm eine Chance,« verlangte Sabine und drehte die Musik in ihrem Walkman lauter, sodass wir alle etwas von dem dämonischen Rauschen hatten. Wegen der Vibrationen und dem Motorlärm waren wir zu Tatenlosigkeit verdammt, jedenfalls aber zu viel Schweigsamkeit. Begnadete Genossen wie Alfi und Luis schienen über einen Schalter zu verfügen, den sie nach Lust und Laune immer und überall betätigen und dadurch einschlafen konnten. Unmöglich, lange zu lesen. Und der Kassettenrecorder zog angeblich die Tonbänder ein. Unmöglich also, ihn zu benutzen.

Zu mittag des dritten Reisetages hatten wir immer noch kaum etwas im Magen ...

... und trotz allem grinsend verließen wir nachmittags die Fähre von Reggio di Calabria nach Messina.

Eine Etappe – geschafft! Wir waren auf Sizilien. Das wurde umgehend mit Butterbroten und Äpfeln gefeiert. Bert spendierte diese üppige Jause. Wir fassten es kaum. Wir hatten gar nichts sagen müssen. Freiwillig hatte er eine Schachtel herbeigeschleppt und Essen ausgeteilt. Sogar Bewegung wurde uns vergönnt, denn alle Rucksäcke mussten zwecks Neuanordnung zu besserer Verteilung der Lasten ausgeladen und wieder eingeräumt werden. Auf Sizilien schien an diesem Tag sogar die Sonne. Und das war schon mehr, als wir uns morgens noch erträumt hatten.

Ungeschlafener Schlaf lässt Beine und Lider bleischwer werden. Wenn dieses Phänomen in Massen auftritt, ist die Kommunikation zwischen den Betroffenen äußerst beschränkt. Sie kam während des dritten Reisetages erst wieder in Gang, als der erste Reifen gewechselt werden musste.

Eine Beule war an einem von »Tarzans« Zwillingsreifen erschienen.

Bert, »Tarzan«, der voran preschte, im Visier, begann wie wild zu hupen und zu beschleunigen. Präventiver Reifenwechsel wurde angeordnet, ehe das wertvolle Stück platzen würde. Brommel verbrachte eine Stunde unter Ächzen und Schnaufen an »Tarzans« Flanke, kaum unterstützt von Gerry und Bert. Und keiner der männlichen Mitreisenden begab sich auch nur in die Nähe des schwer Arbeitenden. Die Schrauben zu lösen brachte Brommel zum Schwitzen und Spucken. Anita und ich trugen uns mit dem Gedanken, ihm unsere Hilfe anzubieten. Karli gab jedoch zu bedenken, dass wir auch Rechte, nicht bloß Pflichten hatten, zum Beispiel das Recht auf ordentliche Reifen und Rastpausen. Türkisblaue Buchten vor suchenden Blicken belohnten uns für die Strapazen der Nacht. Leider gab es keine Möglichkeit, im Meer ein Bad zu nehmen.

»Es gäbe sie schon,« sann Anita, »... aber wie kommen wir über die Böschung und die Steilküste hinunter ... und würde Bert auf uns warten?« Wir ersparten einander die Beantwortung letzterer Frage.

Palermo – Reizwort für alle, die etwas übrig haben für wildromantische, kriminelle Nostalgie, huschte nachts um halb zehn an uns vorbei. Heute frage ich mich, weshalb wir nicht schon vor Antritt der Reise darauf bestanden hatten,wenigsten zwei Tage in Ruhe auf Sizilien zu verbringen, als Einstimmung auf Afrika. Wer von uns würde schon so schnell wieder auf diese Insel kommen? Wenigstens hätten wir, angesichts der ungesunden Eile, die Bert uns wegen seiner eigenen Unfähigkeit, die Reise terminlich zu organisieren, aufzwang, dazu beitragen können, diese eine Fähre eben zu versäumen. Er hätte uns nicht alle einfach stehen lassen können, irgendwo unterwegs in Italien, wie er es mit Elsie vorgehabt hatte. Die Woche auf Sizilien hätte uns gutgetan und uns vielleicht noch vor dem Übersetzen nach Afrika die Augen über unseren Reiseveranstalter geöffnet. Nichts dergleichen geschah. Wir preschten.

Wir waren die Kilometermacher.

Nach heißhungrigem Pizzaessen auf der Straße vor einer im Vorbeifahren auf das Geratewohl erwählten Trattoria ...

»... zehnmal Capricciosa, achtmal Napoli, neunmal Quattro Stagioni ...«

... nächtigten wir in einem Acker nahe Trapani. Selbst diese Nacht gab uns noch nicht genug zu denken.

Ich schlief auf einer Luftmatratze im Führerhaus, denn der ständige Luftzug und die fehlende Heizung zeigten bei einigen von uns, wie auch bei mir, bereits Wirkung. Milan litt unter Angina, ich konnte kaum noch schlucken, fieberte und hatte bereits erbrochen, und einige andere litten unter Hustenanfällen. Auf meine Frage, ob Milan, der zukünftige Mediziner, auch genügend Antibiotika mit sich führte, erfuhr ich:

»Was wir brauchen, ist eine Familienpackung Anti-Idiotika.«

Milan sollte absolut recht behalten.

Der Tag der vermeintlichen Überfahrt begann allzu früh. Es tagte mit dem Prasseln sizilianischen Regens auf das Stoffdach des Führerhauses und einem Scharren am Türgriff. Ilses verzweifeltes »Ach Gott, wer ist denn da drinnen? Bitte aufmachen!« riss mich aus qualvollem Schlaf voller Halsschmerzen und schlechter Träume wegen der Verrenkungen. Es regnete. Wir lagerten mitten in einem Acker und – es regnete tatsächlich! Ich sah die Schatten meiner Kameraden draußen herumirren und samt ihren völlig verdreckten Schlafsäcken Schutz suchen unter dem einsamen Olivenbaum in der Nähe, unter den Lastwagen ... Wer im Wagen keinen Platz gefunden hatte, suchte erbittert dem Durchnässtwerden zu entgehen. Ich schämt mich fast meiner Bevorzugung wegen des glücklichen Umstandes, dass Bert ob meiner Erkrankung Mitleid mit mir gehabt und mir den Platz in der Fahrerkabine geräumt hatte. Ilse brachte einen Gutteil der Schollen des erdigen Ackers zu mir herein, rollte sich dankbar wie ein Hündchen auf dem von mir abgetretenen Matratzenfleckchen neben mir zusammen. Wir zitterten beide wie das sprichwörtliche Espenlaub. Welche Schnapsidee unseres Leiters, ausgerechnet einen frisch geeggten Acker als Lagerplatz zu wählen! Der Erdgrund war auch ohne Regen bereits abends klebrig feucht gewesen war. Aber, erschöpft wie wir waren, hatte uns das kaum gekümmert, vor allem, da die meisten von uns über wasserdichte Unterlagsmatten verfügten und nichts gegen das Nächtigen im Freien hatten. Und finster war es gewesen, sehr, sehr finster und bewölkt, also stern- und mondlos.

Irgendwann öffnete Bert nichtachtend unserer leidlich wohligen Ruhe im Fahrerhaus die Tür, drängte und brachte vollgesogene Decken und erdignasse Jeans in unser »Schlafzimmer«. Draußen stapften die anderen schimpfend und die Schlafsäcke auswringend und beklopfend durch den Acker, bleich, mürrisch, uns im Führerhaus vielsagende Blicke zuwerfend. Die Morgenstimmung dieses neunten Oktober spottet jeglicher Beschreibung.

Vormittags übte ich mich in Egoismus. Ich blieb neben Bert in der Fahrerkabine sitzen. Um nichts auf der Welt hätte ich zu den anderen in die modrige Krisenstimmung zurückkehren wollen. So sehr ich mir auch vornahm, mit Bert im Namen aller über die Missstände zu sprechen – es gelang nicht. Bert nahm mir allen Wind aus den Segeln. Morgen, schwärmte er, morgen würden wir afrikanischen Boden betreten.

»Oh, ja, Afrika,« sagte ich müde, zuckte zusammen vor Halsschmerzen und wusste gar nicht mehr, ob ich mich freuen sollte.

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