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Vorwort
ОглавлениеAfrika macht traurig. Dann nämlich, wenn man verliebt daraus zurückgekehrt ist. Damit ist nicht der Safari-Tourist gemeint, der kam, um auch einmal in seinem Leben Löwen, Giraffen und Zebras in natura zu fotografieren und mit plötzlicher Vorliebe für Großwild zu Hund und Katz’ nach Hause fuhr. Auch schwarzgebrannte Sonnenurlauber mit Flirt-Nostalgie im Herzen sind nicht gemeint. Ebensowenig Historienfreaks oder Sex-Touristen, die als weiße Genießer tiefe Eindrücke mit sich genommen wie auch hinterlassen haben.
Verliebt in Afrika zu sein, ist schmerzhafter als all das. Aber es ist auch unvergleichlich süßer. Denn die Erinnerung wartet zu allen Zeiten, an allen Orten im Heimatland oder anderswo mit winzigen Nadelstichen in Form bunter Bilder auf. Sie peinigt die Vernunft mit Sehnsucht nach der Luft, dem Licht, dem warmen oder feuchten Boden im Schwarzen Kontinent. Sie quält mit aufsteigendem Verlangen, den Blick wieder über endlose sandige Ödländer, dampfend grüne Tropenkessel und windgestreichelte, gelbe Steppen streifen lassen zu dürfen.
Sie narrt die Sinne mit flüchtigem Duft der Holzkohlenfeuer und gebratenen Ziegenfleisches, mit dem Geschmack exotischer Früchte. Sie lässt das Herz mitten im Gedränge der U-Bahn heftiger schlagen, weil alles Denken unerwartet für Sekunden von jener Ahnung einer scheinbar unberührten Art von Freiheit »dort unten« durchdrungen ist, ... so fern im wilden Dickicht der Geheimnisse, Freiheit, wie sie der Europäer meint, wenn er es schafft, seinem zivilisierten Gefängnis aus Regeln und Pflichten einmal den Rücken zu kehren.
Von einem Gefühl, etwas unaussprechlich Großes, Schönes in Afrika zurückgelassen zu haben, einen Schatz, den man berührt hat, der zu fühlen, zu schmecken und zu atmen gewesen ist, wird der oder die Verliebte gequält. Was genau den reisenden Europäer von heute dermaßen faszinieren kann am Schwarzen Kontinent, dass die Erinnerung nicht nur süß ist, sondern schmerzt, scheint schwer ergründlich. In nicht allzu fernen Epochen der Menschheitsgeschichte hat Europa Afrika schon mit begehrlichem Blick gestreift – und einfach genommen, was immer gerade am erstrebenswertesten schien. Reisende von heute sehen den Schwarzen Kontinent und seine Menschen zwar anders motiviert – jedenfalls aber ebenfalls begehrlich. Hier Fuß zu fassen wäre trotz aller Begeisterung schwer (nicht einmal in den afrikanischen Metropolen wäre es leicht), denn auf Reisen merkt der Weiße unweigerlich, wieviel ihn von »schwarzer« Lebensart trennt: Generationen von Erziehung. Respekt und schlechtes Gewissen machen Weiße vorsichtig, selten noch überheblich, aber nichtsdestotrotz kann viele nichts davon abhalten, in Afrika eine Ahnung des Paradieses ursprünglicher Natürlichkeit an Umwelt und Lebensform kosten zu wollen. Mancheiner der Aufgeschlossensten unter ihnen mag, unterwegs in den Dörfern, wo die Menschen heute der Hilfe bedürfen, um auch nur an lebensnotwendiges Wasser zu kommen, mit Grauen daran denken, welche Katastrophe es einst allein bedeutet haben muss, dass weiße Kolonialherren die genügsamen einheimischen Selbstversorger mittels Steuervorschreibungen zum Produzieren exportierbaren Überflusses gezwungen haben.
So ist alles Alte, Sinnige ins wanken gekommen. Es ist die Sonne, die Szenerien alter Dramen trügerisch beruhigend erhellt, als wäre nie etwas geschehen, was Menschen und so manches Tier (fast) entwurzelt hat. Ein Wunder, wahrhaftig, dass Afrika immer noch soviel für den Reisenden Lockendes besitzt, hat doch kein Kolonialherr der Vergangenheit viel darauf geachtet, das Schöne zu erhalten. Vielleicht trachtet der eine oder andere weiße Besucher ja ein wenig bange danach, den Kontinent weniger verwüstet vorzufinden, als befürchtet, sucht er, stets rückzugsbereit, nach Beweisen, dass nicht so schlimm ist, was geschichtlich gesehen und gedenk moderner politischer und ethnischer Katastrophen furchtbar klingt, vielleicht will er aber auch bloß all das Schöne erhaschen, das Weiße vor ihm übrig gelassen haben, und das sensible Zeitgenossen sehr wohl erahnen.
Die afrikanische Persönlichkeit, Weißen vertraut, auch wenn diese das Schlagwort des schwarzen Widerstandes kontra Überfremdung durch die Kulturen der Kolonialherren und pro Rückbesinnung auf die eigene Identität gar nicht kennen, strahlt nicht nur aus den Menschen – sie ist das Land an sich, wo immer Bürgerkriege, Armut, Verödung und Industrialisierung die alte schwarze Welt noch durchschimmern lassen. Danach suchen Reisende.
Unfassbar fern klettern auch in den Momenten der schwellenden Nostalgie die Ölfruchtpflücker auf Palmen, laufen halbnackte Kinder der Steppe und des Waldes vielleicht schreiend und winkend an ein paar grinsende »Wazungu« (Suaheli: weiße Fremde) heran, die auf schmutzbedeckten Gefährten durch winzige Hüttendörfer im Regenwald holpern. Millionen frischgeschlagener Bananenbüschel liegen neben den Hütten, frei zum Feilschen um lächerliche Summen für alle, die hungrig vorüberkommen. Und graue Schwaden, die am flachen, verschwimmenden Horizont über den hitzeflirrenden Wüstenboden treiben, die selbst den Skorpionen und Wüstenfüchsen einen besorgten Blick wert sind und die menschliche Wüstenbewohner verharren und sinnend Ausschau halten lassen, kündigen einen Sandsturm an ...
Grausam für jene Verliebte, mitansehen zu müssen, wie heute noch (oder erst recht) das »Paradies« mit Blut getränkt wird ...
... und am Ufer eines Dschungelflusses in Kamerun eilen auch zu dieser Stunde tausende braune Weberameisen die saftigen Stengel dunkelgrüner Gewächse auf und ab, ständig in Bewegung ... das Hindernis aus Blattfasern, das ich vor Ewigkeiten um den Stiel einer hohen, saftiggrünen Pflanze gebunden habe, um sie zu necken, ist längst zerfallen.
Nichts hat sich verändert in Afrika durch meinen Besuch. Doch in mir, wie in so vielen, die diesen Kontinent gekostet haben und süchtig geworden sind, hat Afrika eine Saite erklingen lassen, von deren Existenz ich nie erfahren hätte, wäre mir nicht irgendwann zur Winterzeit im Herzen Zentralafrikas aufgegangen, dass dieses Land um mich herum wahrhaftig das Afrika meiner Träume sei. Nach ihm hat es Herrscherhäuser einst verlangt. Es hat Sklaverei und Naturkatastrophen ertragen müssen, den Hochmut der Völker fern seiner Küsten, aber dennoch sucht es kraftvoll durchzuatmen und birgt Wunder, die endlich, endlich ein bisschen unbenannte Sehnsucht im weißen Herzen zu stillen vermögen. Die vielerorts durchaus erfolgreiche Demokratie-Bewegung als Kontrast zu hartnäckigen diktatorischen Systemen nur vage im Kopf, sah ich unterwegs vielfach einfach nur das Fremde, Faszinierende, dachte gar nicht daran, die Menschen der einzelnen Länder als Betroffene gewaltiger Umstürze und Revolutionsmühen anzusehen, sie waren für ich einfach nur – geduldige Gastgeber. Österreich war in Momenten meiner sinnenden Vereinigung mit dem Dunklen, dem Grellen, dem Stillen, Schreienden, Undurchschaubaren und Heißen so fern, dass selbst die Erinnerung an das Daheim der Kinderzeit schwerfiel.
Im Jahr 1855 lenkte der Forscher David Livingstone mit der Entdeckung der Viktoriafälle und seiner Suche nach den Quellen des Nil die Augen der Weltöffentlichkeit auf Leben und Sterben im Schwarzen Kontinent. Seit damals reißt der Zustrom jener, die kommen, die Wiege der Menschheit auf eigene Faust oder bequem gegängelt durch die Tourismusindustrie zu entdecken, nicht mehr ab, war auch die Afrikaberichterstattung über die Jahrhunderte durch unverständige oder von unlauteren Interessen getriebene Besucher zuweilen alles andere als schmeichelhaft für Afrika an sich: »... kulturlos ...«, »... wild ...«, »... grausam ...«, »... ungebildet ...«, »... unzugänglich«. Mittlerweile ist der Rest der Welt reif genug, Afrikas Leistungen als Kontinent uralter Kulturentfaltung anzuerkennen, – afrikanische Geschichte und Kunst »verkaufen sich« gut, schon gar afrikanische Landschaft, allenfalls haben die Ziele der Besucher sich an neue Plätze verschieben lassen müssen, bedingt durch Völkerkriege, deren Ursachen der Besucher zuweilen immer noch zu begreifen verweigert. Beispielsweise sind die ostafrikanischen Tutsi, ehemals ein Hirtenvolk, schon vor gut vierhundert Jahren ins Land der Hutu-Bauern eingezogen und haben mit ihnen jahrhundertelang in guter Partnerschaft gelebt – bis ihnen Kolonialherren gedenk ihrer politischen Organisationsfähigkeit weismachten, Tutsi seien allemal »wertvoller«, als Hutu und sollten eigentlich herrschen ... Der Konflikt, möglicherweise bislang beherrschbar schwelend, wurde bedenkenlos von fremder Hand aufgerührt ... Die Erste Welt beklagt den Völkermord in Ostafrika und anderswo, ihre Fehlleistungen in puncto hilfreiches Einschreiten wie auch ihr ignorantes Missachten des eigenen Mitverschuldens erscheinen durchaus sträflich.
Der amerikanische Journalist Henry Morton Stanley fand den später verschollenen Livingstone unter damals haarsträubenden Abenteuern – aber finden die Afrikareisenden heute den Kontinent so vor, wie es ihrer romantischen Vorstellung entspricht?
Ja, vielleicht geographisch und atmosphärisch – was das tiefste Landesinnere der einzelnen Staaten betrifft. Wer bedenkt, dass das »unterentwickelte« Afrika den Industriestaaten über Jahre Entwicklungshilfe gezahlt hat, indem es seine Rohstoffe verschleuderte und so der Ersten Welt zu Wohlstand verhalf, während es selber darbte, wird vielerart erstaunt sein über die freundliche Gleichmut der Afrikaner, die die Ausrüstung der Wazungu bewundern, freilich auch begehren, aber nicht wirklich ernsthaft. Vieles, was Weiße besitzen oder verkörpern passt nicht einmal annähernd in afrikanische Vorstellungen. Und auch wenn unbedarfte Dorfbewohner die geschenkmäßige Herausgabe von Kameras und derlei teurem Zeug fordern und zu glauben scheinen, alle Weißen seien reich, gleicht das Betrachten und Begehren von Fremdem einem Spiel der provokanten Dreistigkeit, wie das Geschenkeinfordern allgemein im Grunde ist, und selbst wenn sie könnten, würden viele Afrikaner Afrika wohl nie für Europa verlassen. Wie kämen sie auch dazu, sich mir nichts dir nichts in die so fremde, so eigentümlich streng reglementierte Welt der Weißen zu drängen? Wie würden sie sich da fühlen, bedrängt von einer völlig anders »gewachsenen« Mehrheit? Oh ja, Afrikaner können sich köstlich amüsieren über Weiße, egal, welcher Herkunft. Sich wahrhaftig mit ihnen zu befreunden, ist ihnen nicht wirklich ein Bedürfnis.
... und romantisch? Afrika ist kein riesiger Pfuhl aus abwechselnd Urwald und Steppe, in dem es unaufhörlich trommelt und lacht, über dem es abwechselnd glüht und gießt und wo die Kinder nackt mit den Ziegen in der sicheren Umarmung der Dorfgemeinschaften zwischen Lehmhütten spielen. Afrika besteht aus Organen, die nur dem unbedarften Reisenden als einander ähnlich oder nicht einmal unterscheidbar erscheinen. Und begreift der geographisch und politisch immerhin leidlich orientierte Besucher, dass weniger die Grenzbalken die einzelnen »Welten« innerhalb des Kontinents teilen, sondern jahrtausendealte kulturelle (beispielsweise) Abgründe, wird er beunruhigt ob seiner eigenen Abstammung nach Hause fahren und alle sogenannte »Zivilisation« einmal mehr verfluchen.
Weiße neigen immer noch dazu, das Merkmal »schwarze Haut« als Vorwand zu missbrauchen, alle »Afrikaner« als gleich aussehend und seiend zu befinden (was gleich aussieht, kann wohl recht individuell geprägt nicht sein). Was haben aber ein Wolof, ein Tuareg, ein Yoruba, ein Mbuti-Pygmäe, ein Herero, ein Maure und ein Zulu wirklich gemeinsam? Jawohl, – sie leben auf einer Kontinentalscholle, genannt »Afrika«. Aber um einander nur zu grüßen, müssen sie die Hand heben, um einander zu verstehen ... wie auch ein Schwede, ein Spanier, ein Russe, ein Korse und ein Pole.
Doch insgeheim wird Afrika für den Besucher auf ewig eines bleiben: das Land der Schwarzen, parfümiert mit dem Rauchduft der Holzkohlenfeuer. Das mögen ihm die »Afrikaner« verzeihen. Es ist gar nicht böse gemeint. Es ist nur die Unlust der Besucher, Reiseeindrücke und romantische Mitbringsel der Seele in der überschwänglichen Erinnerung nach kulturellen, politischen und soziobiologischen Aspekten zu sortieren. Und sagt er »Schwarzer«, kann er sich darauf verlassen, dass der Wolof-Restaurantbesitzer in Dakar, bei dem er oft zu Reis und scharfem Fisch eingekehrt ist, ihn schlicht »Toubab« nennt, »Weißer«, ungeachtet dessen, woher er stammt und ob er Flämisch spricht oder Portugiesisch.
Unter »Afrika« versteht jeder, der eine Reise »hinunter« plant, wohl zunächst »wildes Abenteuer« und »exotische Lebensart«. Und kaum jemand betrachtet als Afrikaneuling die Bewohner der einzelnen Landstriche nicht als Sehenswürdigkeiten wie uralte Bäume, Baurelikte oder seltene Tiere. Aber jeder zivilisierte Mensch sollte sich doch zu benehmen wissen und könnte sich jederzeit über politische, ethnologische und geographische Zustände auf der afrikanischen Kontinentalscholle informieren. Und umgekehrt? Umgekehrt ist die Welt der Weißen für viele Bürger afrikanischer Staaten ein riesiger, blitzsauberer Pfuhl aus Autobahnen, Geld und technischen Wunderwerken, wo man ständig Schirme schwingt und Pommes Frites isst. Ein anderer Teil der Afrikaner hält Weiße pauschal für verschlagene Ausbeuter ohne Familiensinn (wie sonst könnten so viele unverheiratete weiße Frauen durch Afrika reisen?), ein wieder anderer Teil für Angeber ohne Benehmen, für bewunderungswürdige Neureiche, generöse Retter aus wirtschaftlicher Not, militärisch potente Technokraten oder für die Schuldigen an der eigenen Misere. Aber kaum jemals erkennt der Schwarze den Weißen als »ebenbürtig« an, weder im guten noch im schlechten. Das erfährt der Reisende sehr wohl auch. Missverständnisse blühen an allen Ufern prächtig.
Vermutlich nehmen Afrikaner das »Du bist ein Schwarzer« gleichmütiger hin, als Weiße das schlicht »Weißer« Genanntwerden und das achtlose Abwinken der Versuche auseinanderzusetzen, dass Portugal wahrhaftig nicht gleich Österreich und schon gar nicht Australien oder Kanada ist.
Die Eindrücke und Erinnerung, die jeder einzelne Abenteurer mit sich nach Hause nimmt, hängen freilich davon ab, welche Art von Reise aus dem ursprünglichen Plan, »Afrika« zu sehen, entstanden ist. Wer, wie wir es versucht haben, in der Gruppe reist, ahnt zunächst nicht, welche sozialen Problematiken allein unter den Reisenden auf ihn zukommen. Sein Erleben Afrikas ist das, was übrig bleibt, wenn das Leben in der Gemeinschaft ihm Luft zum Atmen und Umsichblicken lässt. Persönliche Vorlieben, Auffassungen von Komfort und wahrem Abenteuer prägen das Afrika-Erlebnis.
An der Wende der achtziger zu den neunziger Jahren brach eine Gruppe zivilisierter Österreicher also auf, um die Freiheit unter afrikanischem Himmel zu suchen, und ich war dabei. Diese Zivilisierten haben sich im Laufe der Reise von ihren afrikanischen Gastgebern allerdings immer wieder einen beschämend unbarmherzigen Spiegel vorhalten lassen müssen, und wir haben einander nicht zuletzt als chaotische, emotional grüne Monstren kennengelernt ... eben zivilisierte Leute. Grandios ist unsere Erwartung vor dem Aufbruch gewesen, gigantisch und niemals dieserart erahnt hat sich später die Erfahrung wahrer, vielfach gut getarnter menschlicher Natur über der altbackenen Ignoranz aufgetürmt.
Siebenundzwanzig Abenteurer aller Altersklassen saßen wochenlang (nur die Hälfte von ihnen monatelang bis ans Ziel) in Sardinenmanier im zum Bus umgebauten 13-Tonner M.A.N.-Diesellaster »Uhuru«. »Tarzan«, der Brudertruck, mit aufmontierter Galerie, führte Zelte, Lebensmittel, Werkzeug, Sandbleche, Filteranlage, Koch- und Lagerutensilien mit. Es galt zu erproben, ob das Afrika von heute noch Abenteuer birgt, und wie zivilisierte Menschen darin zurechtkommen – fern vom Tourismus organisierter Reisen. Der älteste Teilnehmer an unserem Abenteuer war über sechzig, die jüngste kaum zwanzig Jahre alt. Ein Pionierprojekt ist es gewesen, denn der Organisator hatte keine komfortable Safari geplant, sondern zwei Lastwagen nach Kenya zu überstellen. Um die Tour zu finanzieren, hatte er waghalsige Abenteuerlustige eingeladen, die Wagen für ein paar Monate zu besiedeln und das Reisendenglück zu versuchen. (Anmerkung: Ich habe alle Namen geändert.)
Die Waghalsigen sollten erst erfahren, wie es um Ausrüstung und Afrikaerfahrung des Leiters wirklich bestellt war, als es zu spät gewesen ist, auf das Abenteuer zu verzichten. Sie stiegen einfach ein und fuhren los, ohne Furcht und Hirn. Dreizehn von ihnen erreichten das Ziel nahe Mombasa in Kenya, die Twiga-Lodge in Tiwi.
Vier Monate lang kämpfte der kleine Konvoi sich durch Wüste, Regenwald, Busch und Savanne, frei nach dem Motto: Der Weg ist das Ziel. Die Routen durch Tunesien, Algerien, Niger, Nigeria, Kamerun, Zentralafrika, Zaire, Rwanda, Tansania und Kenya mussten besprochen und verworfen, Besichtigungsstopps und Lagerplätze festgelegt, die Reisegeschwindigkeit ausdiskutiert werden. Pannen waren in Gebieten, wo »Wellblechpisten« oder Schlammgruben Fahrzeuge und Insassen erschütterten, an der Tagesordnung. Auch wer bislang keine Ambitionen als Kfz-Mechaniker gezeigt hatte, lernte, Reifen zu wechseln, erfuhr nach und nach, wo Benzinfilter, Kardanantrieb und Ölleitung zu finden sind.
Wasser- und Nahrungsmittelmangel erwiesen sich in der erlebten Realität als weitaus problematischer als in gemütlicher Plauderrunde in heimatlichen Gefilden ... Unser Tour-Leader ließ uns mitten in Zaire mit einem kaputten Wagen sitzen, wir machten Bekanntschaft mit Pygmäen und Guerillas, Löwen, Gorillas und Vulkanen, Schlamm und Glut ... Ich will berichten, wie wir kamen, sahen und letztendlich doch siegten – über unsere eigene hilflose Überheblichkeit. Aber vieles, das uns erwartete, hatten wir nicht einmal befürchtet, geschweige denn waren wir dafür ausgerüstet, es gut zu überstehen ... Wir hatten viel Glück an unserer Seite. (Im übrigen war allen ReiseteilnehmerInnen bekannt, dass ich ein Buch über das Abenteuer schreiben würde, und man sah mich ständig beim Tagebuchschreiben; In diesem Buch erscheinen immer wieder Tagebuch-Passagen, in den Text eingebettet oder separat als Kapitel.)
Unter all den Erfahrungen, die wir machten, trafen einige wenige Erkenntnisse und Erlebnisse unsere materialistischen, verschwendungssüchtigen Europäerseelen tiefer, als glühende Sonne und prasselnder Regen.
Nichts verkommt im tiefen Afrika, und mit Beschämung bezeugten wir zuweilen wahre Raufhändel um von uns weggeworfene Fischgerippe, Konservendosen, Obstschalen oder Knochen. Die Leute sind imstande, einfache Haushaltsgeräte wie Löffel, Spachteln, kleine Schaufeln und Messer aus dem biegsamen Aluminium von Konservendosen zu basteln – und auch wenn niemand von uns gedenk materiellen Überflusses das nötig hätte, empfanden wir dennoch so etwas wie Neid darum, dass in unseren Gefilden derlei Beweise von Geschick und Findigkeit einfach nicht gefragt sind. Sardinen- und Tomatenmarkbüchsen dienen von Niger bis Kenya als Messbecher im Handel mit Erdnüssen und Getreidesorten. Kein zerfetzter Autoreifen bleibt liegen in den Gebieten kaum merklichen Verkehrsaufkommens, denn geschickte Hände fertigen erstaunlich funktionelle Sandalen mit Riemen für großen Zeh’ und Widerrist. Gebietsweise erschien es mir allerdings äußerst befremdlich, viele Menschen (sofern sie nicht den Barfußgang vorzogen, denn Afrikaner sind geschickt genug, sich nicht die Zehen an Wurzeln zu brechen oder auf Dornen zu treten) in durchsichtigen Plastikschuhen zu sehen. Spottbillig, Badeschuhen zum Verwechseln ähnlich und seltsam fehl am Platz inmitten einfachster Infrastruktur zwischen nackten Kindern, Ziegen und Bananenpalmen, sind sie wohl ein markantes Zeichen eigentümlicher Auffassung von Entwicklungshilfe.
Hand in Hand damit geht das Tragen von T-Shirts aus den Beständen von Hilfsorganisationen oder tauschwütigen Touristen. Wildäugige Bantu mit Popeye, the sailor auf der Brust, halbwüchsige Pygmäen, die mit blauen Alpenseen, schneebedeckten Bergen und »Urlaub bei Freunden« am Leib, Pfeil und Bogen in der Hand auf Antilopenjagd ausziehen, bieten durchaus Anlass zu Lachlust und Kopfschütteln. Ob allerdings diese Komik wirklich so sehr zum Lachen ist, blieb fraglich angesichts von in Erwartung der Beschneidungszeremonie mit Asche bedeckter Pygmäenjungen am Iturifluss, mitten in Zaire, die um einen Chirurgenmundschutz als begehrten Kopfschmuck rauften. Ihnen hingen Fetzen ehemaliger T-Shirts von den zarten Körpern, während Berge von in Europa gnädig für die tropischen Gebiete gespendeten Kleidungsstücken auf den Märkten relativ teuer feilgeboten werden und – auf den Verkaufsrosten überquellend – verrotten. Tropisches Klima ist nicht dazu angetan, Textilien, die für unsere Breiten und überdies zum alsbaldigen Ersatz durch neue Produkte unserer Konsumgesellschaft konzipiert wurden, lange zu erhalten. Die Zivilisation schickt Kleider in heiße Gegenden, wo die Menschen seit Jahrhunderten ihre eigenen Mittel und Wege pflegen, sich zu bekleiden. Hier ist von den Gebieten relativ unberührten Dorflebens die Rede. In Metropolen wie Nairobi, Johannesburg, Windhoek oder Dakar hat sich längst eine Art Zwischenkultur entwickelt: Nicht mehr afrikanisch und noch nicht ganz anderswie. T-Shirts und Plastiksandalen sind aber zum Beispiel in den ländlichen Gebieten Nordkameruns noch ebenso sinnvoll wie Palmblattröckchen und Fußbedeckungen aus Riemchen bei uns im Jänner.
Allzu oft hörte ich beim Gespräch mit jungen Afrikanern vieler Länder, die privilegiert genug gewesen sind, Grundschulen und sogar höhere Lehrgänge zu besuchen und von Studenten, vom brennenden Wunsch, Europa zu bereisen. Oft ist dieses Streben geprägt von der Bewunderung für den vermeintlichen Reichtum der »Wazungu«. Und selbst sehr gebildete, junge Afrikaner geben zuweilen der hartnäckig gepflegten Ansicht ihrer Verwandten Ausdruck, alle Weißen seien unermesslich reich, da sie es sich doch leisten können, per Flugzeug nach Afrika in Urlaub zu reisen und weil sie Wunderwerke wie Automatikkameras und sündteure Sportschuhe spazierentragen. Zumindest aber müsse es sehr einfach sein, schnell zu viel Geld zu kommen!
Diese rührende und zuweilen ausgesprochen nervende Art der Bewunderung, vermischt mit harmloser Neugier und durchaus verständnisloser, trotziger Ignoranz, erfahren Weiße heute noch, wenn sie hoch auf ihren Geländefahrzeugen durch die Dörfer brausen. (Allerdings ist es mir passiert, dass ein junger Sénégalese, nach seinen Zukunftsplänen befragt, mir allen Ernstes und bar jeglicher Zurückhaltung erzählt hat, sein Traum sei, in Europa mit Drogen zu handeln, denn damit sei immer noch das meiste Geld zu machen, nur Reisepass und Visum müsste er sich erst im Heimatland erarbeiten; dann stünde seinem Reichtum und guten Ansehen nichts mehr im Wege ... Er ist kein Einzelfall mit solchen Ansichten.)
Horden schreiender, lachender Kinder lassen heute noch alles liegen und stehen beim Anblick der Wazungu, laufen herbei und winken und winken. Und man winkt zurück, fühlt ein wenig den Entdeckern früherer Zeiten nach, wie sie in alten Hollywoodfilmen und vermutlich auch in Wirklichkeit ebenso unbefangen willkommen geheißen worden sind, als sie kamen, das Land für ihre Regierungen zu erobern und die Bewohner zu unterjochen. Von Niger bis Kenya begrüßten sie uns, toll vor Begeisterung über die Abwechslung im Dorfleben und die Chance, weiße Haut zu sehen oder vielleicht gar zu berühren und vielleicht das eine oder andere Souvenir zu erbetteln. Dort aber, wo weiße Herrschaften es allzu bunt getrieben haben, wie in der heutigen Republik Zentralafrika, ist das Entgegenkommen deutlich gedämpfter. Zuweilen verging uns gar das Lachen angesichts machetenbewehrter Drohgebärden und offener Anfeindung, und wir duckten uns vor fliegenden Steinen, übersahen grässlich höhnische Kindergrimassen und bekämpften das flaue Gefühl in der Magengrube und freuten uns, wenn wieder ein Einheimischer lachend den grünlich Fahlen winkte.
Die Intensität der Bindungen der Reisemitglieder zu Land und Leuten erfuhr im Reiseverlauf tagtäglich neue Aspekte. Und trotz aller Widrigkeiten und Abenteuer, die wir zu bestehen hatten, ist das Afrika ringsumher letztendlich doch das Afrika sehnsüchtiger Träume gewesen, als das es die Erinnerung viel später wiedergeben sollte, Jahr für Jahr ein wenig stärker rosa gefärbt ...