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Aufklärung und Romantik

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Kleist schrieb in einer historischen Situation, die geprägt ist von der Erschütterung der alteuropäischen Gesellschafts- und Staatenordnung. Das Jahrhundert der Aufklärung und der krisenhafte Umbruch, der seit der Französischen Revolution und den Napoleonischen Kriegen Europa erfaßte, bestimmt seine Fragestellungen. In den Jahren, in denen er seine Werke schuf, brach das Heilige Römische Reich deutscher Nation zusammen, Preußen wurde vernichtend geschlagen und geriet an den Rand seiner staatlichen Existenz20 , und dies nicht nur, weil Napoleon die Übermacht hatte, sondern auch, weil die Ordnung im Innern, die gesellschaftliche, militärische, wirtschaftliche und staatliche Verfassung des alten Preußen, rückständig und kraftlos war.

Immer wieder setzt sich Kleist mit der Französischen Revolution und ihren enormen Auswirkungen auseinander. Angesichts des Zerfalls der alten Ordnung stellt er sich auch die Frage, wie eine neue Ordnung aussehen könnte. Seit dem Jahre 1807 gerät er in den Bannkreis der preußischen Reformer21 , die eine solche neue Ordnung ohne Revolution, ja zur Vermeidung einer Revolution verwirklichen wollten, und natürlich auch, um die innere Stärke zu gewinnen, die zur Abwehr des äußeren Feindes nötig war.

Obwohl in der Zeit, in der Kleists Dichtungen entstehen, schon die Romantik floriert, ist Preußen bis um das Jahr 1810 noch von der Spätaufklärung geprägt. Tiefer und weiter als sonst irgendwo in Deutschland hatte in Preußen durch Friedrich den Großen die Aufklärung gewirkt, und obwohl unter seinem Nachfolger eine Reaktion eingesetzt hatte22 , war Preußen und speziell Berlin doch ein Zentrum aufgeklärter Geistigkeit geblieben. In seinem kritischen Engagement wandte sich Kleist besonders den französischen Aufklärern zu. Das lag nahe, gehörte doch die französische Aufklärung durch Friedrich den Großen, der sich selbst als Aufklärer verstand, bereits zum Grundbestand des preußischen und insbesondere des Berliner Kulturlebens. Friedrich der Große holte Voltaire als Exponenten der französischen Aufklärung an seinen Hof, ebenso eine Reihe anderer französischer Gelehrter und Philosophen; die Berliner Akademie der Wissenschaften stellte er unter die Leitung eines Franzosen. Mit dem Mittelpunkt Berlin entfaltete sich über Jahrzehnte hinweg eine aufklärerische preußische Kultur, die alle gesellschaftlichen Bereiche durchdrang. Die bedeutendste Aufklärungszeitschrift, die Berlinische Monatsschrift, erschien in der preußischen Hauptstadt, der größte Aufklärungsphilosoph, Immanuel Kant, wirkte im ostpreußischen Königsberg. Zahlreiche populäre Aufklärungsschriftsteller sorgten dafür, daß die geistige Haltung der Aufklärung auch zu allgemeiner Breitenwirkung gelangte. Zusammen mit Lessing und Moses Mendelssohn initiierte der Hauptmatador der Berliner Aufklärung, Friedrich Nicolai, eine Reihe einflußreicher publizistischer Unternehmungen.23 Die drei wichtigsten sind die Bibliothek der schönen Wissenschaften, die Briefe, die neueste Literatur betreffend und schließlich die Allgemeine Deutsche Bibliothek. Auch als Verlagsbuchhändler stellte sich Nicolai ganz in den Dienst seines aufklärerischen Engagements. So gedieh seine große Buchhandlung, die er in Berlin führte, zu einem Mittelpunkt des geistigen Lebens. Die preußische Aufklärung mit Kant als geistiger Autorität und mit Publizisten wie Nicolai wirkte nach dem Tod Friedrichs des Großen im Jahre 1786 und trotz des unter seinem Nachfolger eingeleiteten Richtungswechsels in der Kulturpolitik noch jahrzehntelang außerordentlich intensiv – bis in die Zeit von Kleists geistiger Bildung und bis in die Periode seines literarischen Schaffens.

Die Prägung der preußischen Aufklärung durch die französische Literatur und Philosophie machte es zur Selbstverständlichkeit für den jungen Kleist, gerade nach den Leitfiguren der französischen Aufklärung zu greifen. In seinen Briefen nennt er Voltaire, Helvétius und Rousseau. Der tiefe Eindruck ihrer Schriften läßt sich in einer ganzen Anzahl seiner Werke feststellen. Das gilt vorab für den religiösen Bereich: Auch bei Kleist ist Religions- und Kirchenkritik ein wichtiges Thema. Hinzu kommt die Problematisierung der alten Gesellschaftsordnung, insbesondere ihres ausgeprägten Privilegienwesens. Eine schon bestehende aufklärerische Tradition Preußens, die Justizkritik, die sich in weitreichenden Versuchen zur Reform des korrupten Justizwesens niederschlug, ist Kleists Thema im Michael Kohlhaas. Nicht zuletzt richtet sich sein aufklärerisches Interesse auf die Familie, so wenn er die Rückständigkeit der Gesellschaft am Beispiel der patriarchalisch-autoritär geprägten Familienstruktur thematisiert, wie in der Familie Schroffenstein und in der Erzählung Die Marquise von O… Doch setzt Kleist mit seiner kritischen Durchleuchtung von Familienstruktur, Gesellschaft, Staat, Kirche und Religion nicht einfach die alte Aufklärung fort. Im Bann der Romantik erhält sein Engagement eine neue Tiefendimension, es gerät aber auch in eine Verwerfungszone. Durch die Brechungen von Aufklärung und Romantik, von Auseinandersetzung mit der bestehenden Gesellschaft und vaterländischer Identifikation infolge der Napoleonischen Bedrohung verstärkte sich die schon durch die persönliche Situation gegebene Orientierungsproblematik. Die Verweigerung der gesellschaftlichen Anpassung, die krisenhafte Bindungslosigkeit, die nur im Kampf gegen die Familientradition und den allgemeinen Wertungskodex durchzusetzende Selbstverwirklichung – all das ließ ihn persönlich eine zunächst beinahe anarchistische Position gegenüber den überindividuellen gesellschaftlichen Ordnungen einnehmen. So verbindet sich bei Kleist das aufklärerische preußische Erbe mit dem Bewußtsein der akuten politischen Krise und der radikalen eigenen Ablösung von Autoritäten, Institutionen und Normen. Erst aus dieser Verbindung entstehen die erstaunlichen und oft leidenschaftlichen Intensitäten seiner kritischen Analyse, und erst daraus ergibt sich auch deren komplexe Mehrdimensionalität.

Ein für Kleists ganzes Werk zentrales aufklärerisches Thema fällt schon in den frühen Briefen mehrfach auf, wenn auch meistens auf die persönlichen Probleme bezogen: das Vorurteil.24 „– o über die unglückseeligen Vorurtheile! […] Da dachte ich, weg mit allen Vorurtheilen, weg mit dem Adel, weg mit dem Stande […]“ heißt es in dem Brief an Wilhelmine von Zenge vom 13. November 1800 geradezu programmatisch.25 Immer wieder spricht Kleist von der Notwendigkeit einer entschiedenen Absage an alle Vorurteile. Unter Vorurteilen versteht er konventionelle Wertungen und Haltungen, die vom Standpunkt natürlichen menschlichen Empfindens und individueller Selbstverwirklichung nicht zu legitimieren sind. Vorurteile bestimmen viele von Kleists Gestalten in ihren religiösen, gesellschaftlichen und sonstigen Anschauungen und Wertungen; ganze Geschehenszusammenhänge, wie sich bereits in seinem Erstlingswerk Die Familie Schroffenstein zeigt, unterliegen vorurteilshaften Verhaltensweisen.26 Und diese Vorurteile resultieren mehr aus der strukturbildenden Kraft der äußeren Verhältnisse als aus individuellen Defiziten. Kleist analysiert nicht bloß bestehende äußere Mißstände, sondern dringt weiter vor, indem er die im Menschen verhängnisvoll wirkende Macht solcher Mißstände zeigt. Mit psychologischem Scharfsinn sondiert er die Herausbildung von falschen Bewußtseinsstrukturen und zerstörerischen Verhaltensmustern.

Die Verwurzelung Kleists im aufklärerischen Denken, die ihn sowohl objektive, geschichtlich gewordene Strukturen in Staat und Kirche, Gesellschaft und Religion, wie auch subjektive Dispositionen im Mentalitäts- und Gefühlshaushalt der Menschen kritisch insbesondere auf ihre Vorurteilsbedingtheit hin hinterfragen läßt, schließt irrationale Absolutsetzungen aus. Jede Absolutsetzung relativiert er, alles scheinbar Fraglose hinterfragt er. Abgesehen von seiner aufklärerischen Intellektualität aber, die kein irrationales Apriori gelten läßt, lag für Kleist doch offensichtlich eine große Faszination in der Frage nach den Möglichkeiten und Qualitäten des Irrationalen – die Faszination der jungen romantischen Generation, die im „Gefühl“, im „Gemüt“ und im Unbewußten entscheidende Werte entdeckte. Zwar ist die Romantik keineswegs auf einen Gefühlskult zu reduzieren, aber die Wendung nach Innen, zur poetischen Innerlichkeit, zum Unbewußten, zum Traum, zur Gemütstiefe ist doch charakteristisch für sie. Kleist hat diese wie andere romantische Faszinationen, so diejenige durch die Musik und die katholische Religion, die bis zu den aufsehenerregenden Konversionen einiger Romantiker führte (Reflexe davon finden sich in seiner hintergründigen Erzählung Die heilige Cäcilie oder Die Gewalt der Musik), nachweisbar an sich selbst erfahren. Wesentlich für seine geistige Physiognomie ist es aber, daß er dieser Faszination durch das Irrationale nicht nachgegeben hat, wie es manche Romantiker taten. Kleist setzte sich mit der romantischen Faszination, gerade weil sie auch ihn selbst ergriff, kritisch auseinander. Er analysierte sie psychologisch und historisch aus aufgeklärtem Geist und kam zu dem Ergebnis, daß sie zwar schön, aber trügerisch und deshalb gefährlich sei. Sie führt zur Verfehlung der Wirklichkeit und damit auch der eigenen Situation.

Das prominente Beispiel für eine solche romantische Befangenheit in der eigenen Gefühlssphäre, die Kleist dennoch nicht vom Standpunkt eines pragmatisch-vordergründigen Realismus abwertet, ist der Prinz von Homburg, der durch seinen Traum an den Rand des Grabes gerät, weil er die Ordre für die Schlacht verpaßt, also nicht mehr in der Lage ist, die Wirklichkeit richtig einzuschätzen. Bereits dieses Beispiel zeigt, daß Kleists aufklärerisch desillusionierende Analysen, mit denen er auch gegen seine eigene Illusionsbereitschaft ankämpft, keineswegs epigonale Züge tragen. Weil die Aufklärung durch die Herausforderung der Romantik neue Impulse erhält, ist sie aktuelle Aufklärung und historisch notwendige Aufklärung, nicht bloß ein letzter Ausläufer des 18. Jahrhunderts.

Kleist reflektiert, weshalb gerade der Aufklärung des 18. Jahrhunderts eine romantische Reaktion folgen mußte. In seinen kritisch-psychologischen Sondierungen greift er auf das in der Epoche der Aufklärung ausgebildete Instrumentarium zurück, etwa auf die schon genannte Methode der Vorurteilskritik oder auf die systematische Reduktion von scheinbar Übernatürlichem auf Natürliches, auf die Desillusionierung von Illusionen; aber die von ihm entworfenen Problemkonstellationen sind nun insofern komplexer, als sie nicht mehr bloß der Aufklärung traditioneller, der Vergangenheit verhafteter Vorstellungen gelten, sondern der neuen romantischen Strömung, die sich trotz der historischen Leistung der Aufklärung und zum Teil auch gegen diese Leistung durchsetzte. Das erforderte eine differenziertere Strategie. Sie konnte sich nicht damit begnügen, historisch und kritisch reflektierend Vergangenheitsbestände aufzulösen, vielmehr hatte sie auch den in der Gegenwart virulenten Entstehungsbedingungen solcher Vorstellungen nachzufragen.

Traditionell ordnet man Kleist wie Hölderlin und Jean Paul unter dem nichtssagenden Etikett „zwischen Klassik und Romantik“ literaturgeschichtlich ein. Das ist aber eine bloße Verlegenheitsformel für diese Dichter, die obendrein nur wenige Gemeinsamkeiten aufweisen. Für Kleist trifft am besten eine andere Formel zu: „Aufklärung und Romantik“. Sie bezeichnet nicht ein zeitliches Dazwischenstehen, vielmehr ein dialektisches Verhältnis von romantischer und aufklärerischer Geistesverfassung. Es macht Kleists Größe und Besonderheit aus, daß er in den Jahren romantischer und idealistischer Spekulation, in denen man Märchen und Legenden kultivierte, das Mittelalter wieder in Mode brachte, sich mit Vorliebe auf Traum und Gemüt berief, die Kindheit und das Unbewußte zu höchsten Werten erhob, in denen man nach der großen Entzauberung durch die Aufklärung des 18. Jahrhunderts das Dasein wieder poetisch und religiös, vor allem aber phantastisch zu verzaubern suchte – daß er in diesen Jahren mit Entschiedenheit und preußischer Nüchternheit sich selbst und anderen eine zweite, noch weiterreichende Aufklärung27 zumutete, ohne die romantischen Bedürfnisse des menschlichen Herzens zu verkennen oder gar zu mißachten.

Heinrich von Kleist

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