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Goethes Beurteilung der Amphitryon-Gestaltungen und Molières Amphitryon

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Goethes berühmte Unterscheidung der Amphitryon-Dramen von Plautus, Molière und Kleist lautet:

Der antike Sinn in Behandlung des Amphitryons ging auf Verwirrung der Sinne, auf den Zwiespalt der Sinne mit der Überzeugung […] Molière läßt den Unterschied zwischen Gemahl und Liebhaber vortreten, also eigentlich nur ein Gegenstand des Geistes, des Witzes und zarter Weltbemerkung […] Der gegenwärtige, Kleist, geht bei den Hauptpersonen auf die Verwirrung des Gefühls hinaus.46

„Sinne“ – „Geist“ – „Gefühl“, so ist Goethes Schema von der Antike bis zur Moderne. In der Tat kommt es bei Plautus hauptsächlich auf die Täuschung der Sinne an, denn sein Jupiter begehrt die schöne Menschenfrau Alkmene nur körperlich. Dennoch geraten Alkmene und vor allem Amphitryon schon bei Plautus durch das Spiel des Gottes in schweres Leid, Amphitryon gerät sogar bis an die Schwelle des Wahnsinns – die Täuschung der Sinne, von der Goethe spricht, bleibt zwar für Jupiter, nicht aber für die davon betroffenen Menschen im Sinnlich-Äußeren. Auch mit seiner Charakterisierung von Molières Amphitryon erfaßt Goethe Wesentliches, aber anderes geht verloren. Die Bestimmungen „Geist“, „Witz“ und „zarte Weltbemerkung“ treffen den Charakter der geistreichen, auf das Konversations-Spiel der hohen Gesellschaft ausgehenden Komödie. Als Publikum hat man sich die adlige Gesellschaft am Hofe Ludwigs XIV. vorzustellen, deren Geschmack nicht eine grob-sinnliche Täuschung wie bei Plautus entsprochen hätte, und deshalb gibt es auch keine derben Witze mehr; der „Witz“, von dem Goethe spricht, ist vielmehr der „esprit“ der galanten höfischen Gesellschaft. Er drückt sich in dem von Jupiter an Alkmene herangetragenen Wunsch aus, sie möge zwischen dem Liebhaber (amant) und dem Ehemann (époux) unterscheiden. Indem Jupiter, wenn auch in der Gestalt des Ehemanns Amphitryon, als Liebhaber auftritt, will er Alkmene nicht bloß sinnlich besitzen. Er möchte geliebt werden.47 Diese Unterscheidung zwischen Ehemann und Geliebtem, die dann Kleist auf seine Weise übernimmt, läßt sich nur auf dem historischen Hintergrund verstehen. Es handelt sich um ein etabliertes galantes Thema der sogenannten Preziösen, das Molière durchaus nicht ernst nimmt, vielmehr – und das scheint Goethe entgangen zu sein – lächerlich macht. Molières Stück Les précieuses ridicules (1659) nimmt gerade die exaltierten Finessen und die hohlen Redensarten der Preziösen aufs Korn, und so verfährt er auch in seinem Amphitryon. Er ironisiert den preziösen Gemeinplatz, demzufolge die Liebe sich von der Ehe dadurch unterscheide, daß in ihr alles freie Wahl und pure Herzensneigung ohne Rücksicht auf äußere Verhältnisse wie Vermögen und gesellschaftlichen Rang sei. Alkmene macht diese spitzfindige Unterscheidung nicht mit, denn wie später bei Kleist sind für sie Geliebter und Gemahl eins, weil sie ihren Ehemann Amphitryon wirklich liebt. So wird an Alkmenes Herz Jupiters preziöses Ansinnen zuschanden, auch wenn es ihm gelingt, sie sinnlich zu betrügen. Dieser Betrug bleibt nur ein äußerlicher, und Molière kann den Lustspielton insofern durchhalten, als er Alkmene den Betrug nicht wahrnehmen läßt, so daß sie nicht in die Peinlichkeit und in die innere Zerreißprobe gerät wie dann später bei Kleist.

Zu dem von Goethe festgestellten gesellschaftlichen Charakter von Molières Stück trägt in besonderer Weise die Jupiter-Gestalt bei, und dies nicht nur aufgrund des preziösen Gesellschaftsspiels. Jupiter ist bei Molière nicht mehr wie bei Plautus ein Gott, der mit den Menschen sein fragwürdiges Spiel treibt, vielmehr bloß noch eine mythologische Verkleidung des absolutistischen Herrschers, genauer noch: des Sonnenkönigs Ludwigs XIV. mit seinen verliebten Launen gegenüber den Hofdamen. Insofern hält Molière mit seiner Komödie der höfischen Gesellschaft einen Spiegel vor. Aber, und das kommt in Goethes Charakterisierung nicht zum Vorschein, dieser Spiegel sollte nicht bloß die höfisch-gesellschaftlichen Verhältnisse amüsant widerspiegeln. Ziemlich unverblümt übt Molière auch Kritik – durch die in seinem Stück entscheidend wichtige Diener-Rolle des Sosias. Als Jupiter am Ende sich in seiner göttlichen Gestalt offenbart und den Menschen und somit auch Alkmene und Amphitryon beizubringen versucht, daß „ein Teilen [der Liebesgunst] mit Jupiter nichts Entehrendes hat“, vielmehr zur Ehre gereiche, bemerkt Sosias sarkastisch: „Der Herr Jupiter weiß die Pille zu vergolden“ („Le Seigneur Jupiter sait dorer la pilule“). Auch Amphitryon, der nicht ausschließlich als lächerlicher Hahnrei erscheint, macht das menschlich Fragwürdige solch herrschaftlichen Handelns deutlich. Der letzte Akt zielt auf den Versailler Jupiter, vor allem auf die herrschaftlichen Demütigungen, die sich noch mit dem Schein der Gnade vergolden. Nicht zufällig legte Molière die einschlägigen Formulierungen in den Mund des Dieners, den er bezeichnenderweise selbst spielte. Die niedrigste Rolle ist die Rolle der Wahrheit.

Der immer wieder unternommene Versuch, eine moderne Identitätsproblematik in Molières Stück hineinzulesen48 , ist schon vom Ansatz her fragwürdig. Denn bei Molière gründet Jupiters Wunsch, Alkmene möge ihn nicht bloß erhören, weil er ihr in der Gestalt und folglich in der Rolle des Ehemanns erscheint, sondern aus Liebesleidenschaft und als Person lieben (V. 573), vor allem in dem schon erwähnten Gesellschaftsspiel. Bei ihm schlägt der Versuch, die „Rolle“ des Ehemanns von der „Person“ des Liebhabers zu trennen, fehl, weil er von vornherein verfehlt ist. Molière stellt dieses Gesellschaftsspiel als Preziösentum bloß, indem er es an Alkmenes einfacher, nicht sophistisch zu unterminierender Liebe zuschanden werden läßt. Damit entwickelt er gerade nicht eine tiefsinnige Identitätsproblematik, vielmehr ironisiert er die Finasserie der höfischen Gesellschaft. Wenn etwas über diese geistreich „zarte Weltbemerkung“ hinaus interessant ist, dann die Einsicht, daß die höfische Gesellschaft mit ihrem in Rollenspielen aufgehenden Dasein in eine selbstproduzierte Entfremdung zu geraten droht, aus der auszubrechen ihr zum notwendigen, aber vergeblichen Reflex wird. Sie muß ihre auf äußere, rollenhafte Repräsentation ausgerichtete Lebensweise mit einer vergeblichen Sehnsucht nach Herzensunmittelbarkeit bezahlen – vergeblich deshalb, weil sie dazu selbst nicht mehr fähig ist. Paradigmatisch repräsentiert der absolutistische Herrscher in der Gestalt Jupiters mit seinem Verlangen nach einer ganz persönlichen, unmittelbaren Liebeserfahrung diese Fatalität der höfischen Gesellschaft. Demnach geht es nicht um eine prinzipielle Identitätsproblematik, sondern um eine gesellschaftliche Entfremdungsproblematik mit einem spezifischen historischen Hintergrund – all dies hat Molière freilich in seinem poetischen Spiel graziös angedeutet.

Nur eine Gestalt leidet nicht an einem entfremdeten Dasein: Amphitryons Diener Sosias. Die Freiheit des Dieners von Ehrbegriffen und Standesrücksichten, nicht zuletzt seine Freiheit von Vorurteilen, disponiert ihn zur Ungeniertheit und auch zu einer amüsanten Wendigkeit und Schlagfertigkeit. Weil er nicht so viel Scheinhaftes und Rollenhaftes zu verlieren hat wie die Vertreter der höheren Stände, muß er bei der Anfechtung durch den Doppelgänger auch nicht um so viel kämpfen und nicht so viel leiden wie sein Herr Amphitryon. Vor allem: Aus dieser inneren Freiheit gerade des nach seiner Standesdefinition als Diener äußerlich nicht freien Sosias ergibt sich etwas, wodurch der Sosias des Plautus noch keineswegs glänzte – der klare Verstand. Da Molières Sosias in keinerlei Standesvorurteilen, Besitzansprüchen und Ehrbegriffen befangen ist, vermag er in der Situation der Anfechtung durch den Doppelgänger eine illusionslose, unbefangene und überlegene Logik zu entfalten, die seinem göttlichen Doppelgänger wie seinem Herrn Amphitryon nur noch die Möglichkeit der blanken Gewalt läßt. Damit sind sie aber blamiert, denn so erscheinen sie bloß als die primitiv Überlegenen, vom Standpunkt der Vernunft aus aber als die Unterlegenen. Mehr und mehr entpuppt sich Sosias als der innerlich Freie und geistig Überlegene. So kehrt Molière in einem intellektuell brillanten Manöver das Verhältnis von Herr und Diener um. Maßgebend ist letztlich die Einsicht in den menschlichen Unwert all dessen, was die Herren-Figuren für wert halten. Molières Stück läuft auf die Unterscheidung von Schein und Sein hinaus, wobei der Schein als solcher ad absurdum geführt, die Frage aber nach dem wahrhaften Sein des Menschen, nach seiner „Identität“, gar nicht erst zum Problem wird. Sie erhält nur eine empirisch-pragmatische Antwort. In der Liebe, wie sie Alkmene bezeugt, und in der klaren Vernunft, wie sie Sosias bewährt, vermag der Mensch allein sein Menschsein gültig zu leben. Nur insofern vermag er sich selbst auch in stärksten Anfechtungen zu bewahren.

Schon Kleists Untertitel: Ein Lustspiel nach Molière legt es nahe, zunächst nach den Gemeinsamkeiten und den Unterschieden im Vergleich mit Molières Amphitryon zu fragen. Große Partien übernahm Kleist beinahe wörtlich von Molière. Auch alle wesentlichen Personenkonstellationen gleichen sich: auf der Ebene der Götter Jupiter und Merkur, auf der Ebene der Herrscher Amphitryon und Alkmene, auf der Ebene der Diener Sosias und sein zänkisches Weib Charis, das bei Molière Cléanthis heißt. Auch einige thematische Grundelemente Molières bezog Kleist ein, so die Zumutung Jupiters an Alkmene, Geliebten und Gemahl zu unterscheiden, sowie die generelle und besonders im Ausspielen des Dieners gegen den Herrn vollzogene Differenzierung von Schein und Sein. Markant sind aber auch die Unterschiede. Kleist fügte im zweiten Akt eine neue und eigene Szenensequenz ein: die vierte, fünfte und sechste Szene des zweiten Aktes, wobei die fünfte Szene zentral für das Verständnis des ganzen Dramas ist49; außerdem gestaltete er die Schluß-Szene mit der Verkündigung von der Geburt des Herakles neu aus. Entscheidend sind die konzeptionellen Änderungen und Neuerungen: Alkmene, die in Molières Stück von nachgeordneter Bedeutung ist, keine Anfechtung erfährt und im Schlußakt bezeichnenderweise nicht mehr auftritt, machte Kleist zur Hauptgestalt des Stücks. Alles wichtige Geschehen entwickelt sich aus der gefühlshaften Innerlichkeit dieser Frau. In der Konsequenz dieser Neukonzeption liegt es, daß Kleist der Komödie den Charakter des Molièreschen Gesellschaftsstückes nahm. Er löste das Geschehen aus dem gesellschaftlichen Bezugssystem und transponierte es in eine spezifische Innerlichkeit. Überzeugend hat Peter Szondi nachgewiesen, daß Kleist bis in einzelne Redepartien, ja Redewendungen hinein das gesellschaftliche Element Molières eliminierte.50

Heinrich von Kleist

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