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Strukturanalyse

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Auf den ersten Blick wirkt das Stück amorph, da es wie die Penthesilea-Tragödie einfach Auftritte aneinanderreiht. Eine Strukturanalyse vermag indes zu zeigen, daß sich die dreizehn Auftritte in fünf größere, aktähnliche Handlungseinheiten gruppieren. Damit ergibt sich auch eine Basis für die Beurteilung der Weimarer Aufführung des Zerbrochnen Krugs, die zum Zerwürfnis Kleists mit Goethe führte.

Die ersten fünf Auftritte (V. 1 – 413) ordnen sich zur ersten größeren Handlungseinheit zusammen: Auf den klassischen Komödienbeginn der Lever-Szene, deren vertrackte Mühsal sich durch die Nachricht von der Ankunft des inspizierenden Gerichtsrats Walter noch verschlimmert, auf Adams vergebliche Bemühungen in der verkehrten Welt seiner Gerichtskanzlei, auf seine dunklen Ahnungen, Walters Erscheinen und Adams schweren Herzens gefaßten Entschluß, den Gerichtstag wegen der abhandengekommenen Perücke kahlköpfig zu halten, folgt endlich der Eintritt der streitenden Parteien in die Gerichtsstube. Bis zu diesem markanten Einschnitt reicht die Exposition, und damit ist die erste aktähnliche Handlungseinheit abgeschlossen.

Die zweite größere Handlungseinheit umfaßt den sechsten, siebten und achten Auftritt und schürzt den Knoten, den es dann zu lösen gilt. Der Krug ist zerschlagen und also auch der gute Name Eves. Was das in der Dorfwelt bedeutet, zeigt Marthes Krugbeschreibung: der metonymische Mythos vom Wert der Ehre und ihrem Verlust, woran die ganze gesellschaftliche Existenz hängt. „Wer zerbrach den Krug?“ (V. 506) lautet die entscheidende Frage. Marthes Zeugen-Aussage verdächtigt Ruprecht, Ruprecht als zweiter Zeuge erzählt das nächtliche Spektakel in Eves Kammer aus seiner Sicht. Als Richter Adam Evchen, die Kronzeugin, zu ihrer Zeugen-Aussage aufrufen muß, fühlt er seine „Zunge […] sehr trocken“ (V. 1069) – die Reihe der Zeugen-Aussagen in der zweiten Handlungseinheit ist kunstvoll auf diesen Höhepunkt hin gestuft. Umsonst versucht Adam das befürchtete Debakel aufzuhalten, indem er dem Gerichtsrat Walter Wein anbietet. Dieser Höhepunkt der Spannung bringt zugleich einen Handlungseinschnitt.

Die folgende dritte Handlungseinheit umfaßt den großen neunten Auftritt (V. 1072 – 1410) und ist, obwohl sie doch zunächst mit der Zeugenvernehmung fortfährt, von ganz anderer Art. Konnten die Zeugen Marthe und Ruprecht, die nur ein vages oder ausschnitthaftes Wissen vom Vorgang in Evchens Kammer besitzen, mit plastischer Ausführlichkeit berichten, so glaubt nun Evchen, die wirklich wissende Hauptzeugin, unter dem Eindruck von Adams Drohungen die Aussage verweigern zu müssen. Die daraus entstehenden Konflikte füllen die dritte Handlungseinheit, den klassischen Konflikt-Akt im Zentrum des fünfaktigen Dramas. Auf Adams einleitende Versuche, Evchen einzuschüchtern, folgt eine Reihe kunstvoll komponierter Streitszenen. Den Kern bildet Eves empfindsam-komischer Konflikt mit Ruprecht, von dem sie unbedingtes Vertrauen fordern zu können meint. Diesen gefühlshaften Kern-Konflikt umgeben derb-komische Randstücke: Am Anfang gerät Eve mit ihrer Mutter in Streit, am Ende kommt zum erneuten Zank von Mutter und Tochter der Parallel-Zwist Ruprechts mit seinem Vater. Jedem der drei Hauptbetroffenen ordnet sich also eine jeweils charakteristisch abgewandelte Beifigur zu: Zum kraftvoll verschlagenen Adam gehört der geschickt denunzierende Licht, zur gefühlvollen Eve die zeternde Mutter Marthe, zum wackeren Ruprecht der polternde Vater Veit. Nicht zuletzt diese Gruppierungsstrategie erzeugt den Eindruck des Figurenhaften, der zum typisierenden Lustspiel gehört. Mit der Ladung der Muhme Brigitte in den Zeugenstand schließt die dritte Handlungseinheit.

Die vierte Handlungseinheit umfaßt den zehnten Auftritt (V. 1411 – 1606), in dem Walter die Zeit bis zum Erscheinen der Muhme Brigitte benützt, um Adam ins Verhör zu nehmen. An die Stelle der öffentlichen Zeugen-Aussagen, die in der zweiten Handlungseinheit in vage und falsche Verdächtigungen münden (Marthe verdächtigt Ruprecht, Ruprecht den Flickschuster Lebrecht), tritt nun, während der Unterbrechung der öffentlichen Gerichtsverhandlung, Walters private Taterhellung durch Indizien. Erstes Indiz, daß Adam der Täter war, ist sein wunder Kopf, zweites Indiz die fehlende Perücke. Als Walter erfährt, daß Ruprecht auf des flüchtenden Missetäters Haupt zweimal mit Evchens Türklinke losgeschlagen hat, und bemerkt, daß Adam gerade zwei Wunden auf seinem Kahlkopf hat, steht er an der Schwelle der Gewißheit. Während also die Beweisführung durch Zeugen-Aussagen ergebnislos endete, scheint nun die Beweisführung durch Indizien zu gelingen. Noch ein letztes Mal wird Walter unsicher, als er erfährt, Adam besuche so gut wie nie Marthes Haus. Auf diesen neuen Höhepunkt der Spannung folgt wiederum, nach Kleists vollkommen dramatischer Ökonomie, eine Zäsur.

Die fünfte und letzte Handlungseinheit umfaßt den elften, zwölften und dreizehnten Auftritt (V. 1606 – 1974). Mit dem Erscheinen der in der Zwischenzeit herbeigeholten Muhme Brigitte nimmt die Gerichtsverhandlung wieder öffentlichen Charakter an. Aus einer erneuten Zeugen-Aussage, derjenigen der Muhme Brigitte, ergeben sich zugleich die schlüssigen Indizien: die von Muhme Brigitte in Marthes Spalier aufgefundene Perücke und der „Pferdefuß“, dessen Spuren aus Marthes Haus in Adams Gerichtskanzlei führen. Richter Adam ist nun endgültig als Täter entlarvt. Seine Katastrophe verwandelt sich ganz in Handlung: Ruprecht will den Richter prügeln, erwischt aber nur dessen Mantel, während der seiner letzten Deckung Beraubte entkommt und über das winterliche Feld davonstampft. Dieses physische Entkommen entspricht dem immerhin noch glimpflichen Ausgang, den der Inspektor Walter im Hinblick auf Adams bürgerliche Existenz konstatiert – es handelt sich um eine Komödienkatastrophe. Die letzten beiden Auftritte haben Epilog-Charakter. Das Liebespaar, das durch eine Vertrauenskrise hindurchgegangen ist, versöhnt sich und der Adamsfall wird abgemildert. Marthes komisches Beharren darauf, daß dem Krug „sein Recht“ geschehen müsse, rundet diesen Epilog ab.

Heinrich von Kleist

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