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Der König Ödipus des Sophokles als dramaturgisches Muster und die klassische Komödien-Situation der ‚verkehrten Welt‘

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Am Zerbrochnen Krug begann Kleist wahrscheinlich schon während seines ersten Schweizer Aufenthalts im Jahre 1802 zu arbeiten. Im August 1806 schloß er die erste Fassung ab, aber erst nach einer gründlichen Veränderung der Schlußpartie erschien das Lustspiel 1811 im Druck. Über die Entstehung berichtet Kleist in der nur handschriftlich überlieferten, weil von ihm dann doch nicht in Druck gegebenen Vorrede. Darin führt er ein Bild als thematische Hauptanregung an20, und mit dem Hinweis auf den König Ödipus des Sophokles nennt er auch schon sein wichtigstes dramaturgisches Muster:

Diesem Lustspiel liegt wahrscheinlich ein historisches Factum, worüber ich jedoch keine nähere Auskunft habe auffinden können, zum Grunde. Ich nahm die Veranlassung dazu aus einem Kupferstich, den ich vor mehreren Jahren in der Schweiz sah. Man bemerkte darauf – zuerst einen Richter, der gravitätisch auf dem Richterstuhl saß: vor ihm stand eine alte Frau, die einen zerbrochenen Krug hielt, sie schien das Unrecht, das ihm widerfahren war, zu demonstrieren: Beklagter, ein junger Bauerkerl, den der Richter, als überwiesen, andonnerte, vertheidigte sich noch, aber schwach: ein Mädchen, das wahrscheinlich in dieser Sache gezeugt hatte (denn wer weiß, bei welcher Gelegenheit das Delictum geschehen war) spielte sich, in der Mitte zwischen Mutter und Bräutigam, an der Schürze; wer ein falsches Zeugniß abgelegt hätte, könnte nicht zerknirschter dastehn: und der Gerichtsschreiber sah (er hatte vielleicht kurz vorher das Mädchen angesehen) jetzt den Richter mistrauisch zur Seite an, wie Kreon, bei einer ähnlichen Gelegenheit, den Ödip. Darunter stand: der zerbrochene Krug. – Das Original war, wenn ich nicht irre, von einem niederländischen Meister.21

Als Kleist 1811 ein Freiexemplar von der Buchausgabe seines Lustspiels an Fouqué schickte, bemerkte er, es sei „nach dem Tenier gearbeitet“22 , und er meinte damit den Stil niederländischer Genremalerei, wie ihn David Tenier (1610 – 1690) repräsentierte. Von ihm kannte Kleist mehrere Bilder, die in der Dresdner Gemäldegalerie hingen. Auch die Zeitgenossen sprachen immer wieder von Kleists „niederländischem Gemälde“ im Zerbrochnen Krug23 und bezeichneten damit keineswegs bloß das niederländische Milieu des Lustspiels, sondern die Art der künstlerischen Darstellung. Umso erstaunlicher ist es, daß sich Kleist zugleich an dem seit der Aristotelischen Poetik zur klassischen Muster-Tragödie erhobenen König Ödipus orientierte und auch schon in der Vorrede beides, die von ihm auf ein „niederländisches“ Original zurückgeführte Kupferstich-Szene und die sophokleischen Elemente vermischte. Denn in einer bereits festgefügten kunsttheoretischen Tradition fungierten die (klassizistisch verstandenen) Griechen samt den italienischen Malern der Renaissance als Vorbilder des hohen, „idealen“ Stils, während die niederländische Malerei als Inbegriff einer abgewerteten realistischen Kunst galt. Winckelmann hatte diese schon etablierte Opposition an prominenter Stelle, in seinen 1755 erschienenen Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst, exponiert und bekannte Vertreter des Klassizismus wie Karl Philipp Moritz hatten sie weiter propagiert und von ihrem Stilideal her die niederländisch realistische Manier abschätzig beurteilt. Besonders weit ging Schiller von seinem entschieden idealistischen Standpunkt aus. In seinen Gedanken über den Gebrauch des Gemeinen und Niedrigen in der Kunst rechnete er die niederländische Malerei zum Gemeinen und Niedrigen. Auch Jean Paul nimmt in seiner Vorschule der Ästhetik (§ 72) die typologische Entgegensetzung auf. Nachdem bereits die Romantiker und insbesondere Friedrich Schlegel nicht nur der altdeutschen, sondern auch der niederländischen Malerei einen eigenen Reiz abgewonnen hatten, kam es mit der realistischen Wende im 19. Jahrhundert zu einer entschiedenen Umwertung: Im Kunstgespräch seiner Lenz-Novelle zog Büchner die realistische niederländische Malerei der klassischen Kunst der Griechen und ihrem seit Winckelmann gültigen Ideal-Paradigma, dem Apoll von Belvedere, sowie den italienischen Malern der Renaissance, als deren Prototyp Raffael galt24 , entschieden vor. Indem Kleist das „niedere“ niederländische Genre gerade für seine Komödie adaptierte, verstärkte er die Gattungstradition, welche die Komödie dem genus humile zurechnete, weil in ihr nur Personen niederen Standes auftreten durften. Der gleichzeitige Rückgriff auf die griechische Tragödie allerdings hätte einen geradezu parodistischen Bruch mit der Gattungstradition bedeutet, wenn Kleist sich nicht primär am analytischen Verfahren des Sophokles orientiert und im übrigen mit den sophokleischen Elementen frei experimentiert hätte. Daß er immerhin so weit ging, zeugt im Horizont des zeitgenössischen Klassizismus von einer Kühnheit, die er nur noch mit dem entschiedenen Antiklassizismus seiner Penthesilea übertraf.

Einer Eintragung im Entleihbuch der Dresdner Bibliothek zufolge entlieh Kleist eine Übersetzung des König Ödipus25 , dem auch sein Tragödienfragment Robert Guiskard Wesentliches verdankt. Für den Zerbrochnen Krug übernahm er vor allem das dramaturgische Grundschema. Ein Krug ist zerbrochen worden. Wie kam es dazu? ist die Frage, die das Geschehen des Stücks in einem Prozeß der Enthüllung beantwortet, der auf dramatisch spannende Weise aus einem Zustand des Nichtwissens und des Unverständnisses zum Wissen und Verstehen führt. Daraus ergibt sich eine ‚analytische‘ Struktur insofern, als das Rätsel eines zu Beginn der Handlung im Dunkel liegenden Ereignisses seine Auflösung erfährt.

Das am Beginn der dramatischen Darstellung bereits vorhandene „zerscherbte Faktum“ ist als Corpus delicti ein Indiz dafür, daß jemand in Evchens Kammer war. Dabei wird sogleich das symbolische Valeur des zerbrochenen Krugs deutlich: Er steht für Eves gefährdete und vielleicht sogar zerstörte Ehre. Die Suche nach dem Eindringling führt zur Analyse des Vorgefallenen. Frau Marthe erzwingt sie, um Evchen vor der Schande zu bewahren. Auch im König Ödipus des Sophokles steht die Suche nach einem unbekannten Täter am Beginn des Dramas. Während das Zerbrechen des Kruges der Dimension des Lustspiels angemessen ist, handelt es sich in der antiken Tragödie um ein schweres Verbrechen: Der Mörder des ehemaligen Königs von Theben muß ausfindig gemacht und bestraft werden, denn nur dann weicht der wegen dieses noch ungesühnten Mordes auf der Stadt lastende Fluch. Damit der Täter ans Licht kommt, muß alles im Zusammenhang mit dem Königsmord früher Geschehene aufgeklärt werden.

Kleist übernahm aber nicht nur diese analytische Struktur, sondern auch das konkrete Verfahren, das die Analyse leistet: eine von einer Anklage eingeleitete gerichtliche Untersuchung.26 Wie im Ödipus-Drama soll sie auf die Spur des Täters führen und den genauen Hergang des im Dunkel liegenden Geschehens erhellen. Auch die Form dieses gerichtlichen Verfahrens, eine Kombination von Zeugenaussagen und Indizienbeweisen, entspricht derjenigen bei Sophokles. Wie im Ödipus werden mehrere Zeugen vernommen: Frau Marthe, Ruprecht, Muhme Brigitte und nicht zuletzt Evchen selbst, die allein weiß, wer der nächtliche Übeltäter war, aber nicht offen sprechen kann, weil sie vom Richter Adam erpreßt wurde. Und wie im König Ödipus verräterische Indizien gesichert werden, vor allen andern die Tatsache, daß der Täter verkrüppelte Füße hat, so auch im Zerbrochnen Krug. Hier überführen schließlich drei Hauptindizien den Richter Adam. Das erste, der Klumpfuß, dessen Spuren man im Schnee verfolgen kann, stammt direkt aus dem Drama des Sophokles, denn Ödipus hat ja verkrüppelte Füße und sein Name selbst, Ödipus, heißt zu deutsch „Schwellfuß“. Als zweites Hauptindiz, daß Richter Adam selbst in Evchens Kammer eingedrungen ist und den Krug zerbrochen hat, erweist sich seine Perücke. Bei der Flucht durch das Fenster blieb sie im Spalierbaum an Evchens Haus hängen und fehlt ihm nun, weshalb er den Gerichtstag von Anfang an kahlköpfig halten muß. Ein drittes Indiz schließlich ergeben die zwei Löcher auf seinem Kahlkopf – sie rühren von Ruprechts Schlägen mit der Türklinke her.

Auch die Personenkonstellation bildete Kleist weitgehend der Ödipus-Tragödie nach. Vor allem agiert Adam wie Ödipus als Täter und Richter in einem. Ebenso wie Ödipus setzt er die Fahndung nach sich selbst in Gang. Aber während Ödipus nicht ahnt, daß er selbst der Täter ist, weiß Adam dies sehr wohl. Daraus resultiert der weitere Unterschied, daß Adam die Untersuchung gegen seinen eigenen Willen führen muß, während Ödipus sie freiwillig und energisch vorantreibt. Eine nicht so deutliche, aber immerhin noch greifbare Analogie in der Figurenkonstellation: Der zur Inspektion kommende Gerichtsrat Walter, der den wahren Sachverhalt schon bald durchschaut, erinnert an den Seher Teiresias im Ödipus, der die Wahrheit von Anfang an kennt. Dem profanen Inspektor, der das Gerichtsverfahren beaufsichtigt, entspricht in der religiös grundierten Tragödie des Sophokles der Seher.

Wie gelang es Kleist, bei so vielen Analogiebildungen die aus der Tragödie übernommenen Konstellationen ins Komische zu wenden? Seine vorbereitende Grundoperation ist Depotenzierung. Das entspricht dem traditionellen Gattungsunterschied zwischen der hohen Form, dem genus sublime der Tragödie, und der niederen Form, dem genus humile der Komödie. Der Depotenzierung dient schon der Milieuwechsel. Das Pathos der höchsten gesellschaftlichen Ebene – Ödipus ist ja König von Theben – wird mit der Kleinwelt eines niederländischen Dorfes vertauscht. Die Depotenzierung der Handlung beginnt bereits beim Anlaß der rückwärtsgewandten Analyse, denn im König Ödipus geht es um eine schwere Blutschuld und ihre furchtbaren Folgen, bei Kleist dagegen bloß um einen zerbrochenen Krug, womit trotz der symbolischen, durchaus menschlich ernst zu nehmenden Bedeutung des Krugs das letztlich Harmlose des Geschehens bereits feststeht. Der Held des Geschehens im König Ödipus ist denn auch ein tragischer Held, weil er an einem göttlichen Schicksal scheitern muß; Richter Adam dagegen agiert als komischer Held27 , weil er sich mit den Folgen seiner eigenen menschlichen Schwäche herumzuschlagen hat. An die Stelle des vernichtenden göttlichen Schicksals, das zuerst in schwere Blutschuld und dann in den Untergang treibt, tritt das Menschlich-Allzumenschliche einer Verfehlung, aus der es dann doch noch eine leidliche Rettung gibt. Dieser Umorientierung von der Idee eines unentrinnbaren göttlichen Schicksals zum Menschlich-Regulierbaren, vom Absoluten zum Relativen gemäß fungiert an der Systemstelle des Sehers Teiresias bei Kleist der Inspektor Walter. Der Umorientierung vom Göttlichen zum Menschlichen entspricht endlich auch der eigentliche Zweck des dramatischen Geschehens. Die Tragödie des Priester-Dichters Sophokles zielt auf die Enthüllung einer Wahrheit, welche die Autorität des Delphischen Orakels sowie die Unanfechtbarkeit des von Teiresias repräsentierten Sehertums erweisen soll – beide Institutionen waren in der Zeit der griechischen Aufklärung bereits Zweifeln ausgesetzt worden. Der Zweck des Geschehens in Kleists Komödie dagegen ist ganz menschlich: Die Wahrheit, die da enthüllt wird, dient der Wiederherstellung des menschlichen Vertrauens zwischen den Liebenden Ruprecht und Eve.

Auf der Basis dieser Depotenzierung entwickelte Kleist systematisch die klassische Komödien-Situation der ‚verkehrten Welt‘: Der Richter ist selbst der Übeltäter, in der Gerichtsverhandlung soll er etwas aufdecken, das er, eben weil er selbst der Übeltäter ist, zuzudecken sucht, und Eve als Hauptzeugin, die den Hergang und den Täter genau kennt und also am meisten zum Sprechen berufen ist, schweigt; die anderen hingegen, die nichts wissen, Frau Marthe und Ruprecht, reden drauflos und machen so die Verwirrung nur größer. Diejenige, die den letzten und ausschlaggebenden Indizienbeweis erbringt, Muhme Brigitte, die Adams Spuren im Schnee von Evchens Haus zu dem des Richters verfolgt hat und also der Wahrheit buchstäblich auf die Spur gekommen ist, gerät in den groteskesten Irrtum. Denn weil Adams Klumpfuß sich entsprechend in den Schnee eingedrückt hat und Muhme Brigitte weiß, daß der Teufel den sprichwörtlichen Pferdefuß hat, glaubt sie nicht etwa dem Richter Adam, sondern dem Teufel auf die Spur gekommen zu sein. So verkehrt sich die Wahrheit in abergläubischen Irrtum, und die Welt scheint vollends verkehrt. Mit dieser grotesken Episode liefert Kleist zugleich ein komisches Musterbeispiel seiner aufklärerischen Religionskritik, indem er demonstriert, auf welchen Wegen sich Natürliches in Übernatürliches verwandelt. Nicht zuletzt dadurch erscheint die Welt als eine „verkehrte Welt“.

Auch szenisch zeigt sich die komische Grundsituation der „verkehrten Welt“. Das Durcheinander in Adams Gerichtskanzlei repräsentiert schon von Anfang an die verkehrte Welt im Kleinen. Sie ist auch eine aus der Ordnung geratene Welt. In den Grenzen des Komischen bleibt diese Konzeption nur, solange der Irrtum und das Verkehrte die davon betroffenen Menschen nicht zerstört – sonst schlüge das Geschehen ins Tragische um. Es macht den besonderen Reiz dieses Lustspiels aus, daß es gerade bis an die Grenze des Tragischen reicht, ja das Tragische als Möglichkeit spüren läßt, um es dann noch rechtzeitig abzuwenden. Und von vornherein ist eine Sicherung eingebaut, die garantiert, daß alles gut ausgehen wird: Der Inspektor Walter verhindert die Rechtsbeugung.28 Denn es ist das Bedrohliche dieser verkehrten Welt, daß derjenige, der fürs Recht zu sorgen hat, der Richter, gerade Unrecht tut. Schwerer wiegt die Bedrohung des Lustspielcharakters durch die Vertrauenskrise zwischen den beiden Liebesleuten Ruprecht und Eve – ein altes Hauptproblem der Kleist-Forschung. Während manche Interpreten diese Vertrauenskrise verharmlosen, betonen andere sie so stark, daß sie zu der Schlußfolgerung gelangen, Kleist habe die Grenze zum Tragischen überschritten und den Charakter des Lustspiels beeinträchtigt.29 In der Geschichte der Komödie gibt es auch andere Meisterwerke, in die tragische Schatten fallen, so Molières Misanthrope und sein Tartuffe. Es wird noch zu sehen sein, wie Kleist selbst schon das Problem erkannt und gelöst hat.

Heinrich von Kleist

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