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3. Kleist und Rousseau: Naturkult und Zivilisationskritik
ОглавлениеMit dem Namen Rousseau35 verband sich zunächst eine weitreichende Zivilisationskritik. Rousseau formulierte sie erstmals öffentlich in dem berühmt gewordenen Discours sur les sciences et les arts (1750), später dann in einer ganzen Reihe von anderen Werken, vor allem in seinem Erziehungsroman Émile ou de l’éducation (1762). Neben der Zivilisationskritik war das Bekenntnis zur natürlichen Gleichheit aller Menschen ein Grundelement im Denken Rousseaus. In seinem auf eine antik-stoische Konzeption zurückgreifenden, aber modern wirkungsvollen Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes von 1755 hatte er die Ungleichheit der Menschen und damit die gesellschaftlichen Konflikte auf die Eigentumsbildung zurückgeführt. Eigentum und Besitzgier bezeichnete er als Grundübel der Menschheitsgeschichte. Auch die Eigentumskritik wird zu einem entscheidenden Thema für Kleist, von seinem Erstlingswerk Die Familie Schroffenstein bis zu seiner letzten Erzählung Der Zweikampf. Rousseau formulierte drittens die Lehre vom Gesellschaftsvertrag. Er verkündete sie in seiner zwar schon 1762 erschienenen, aber erst in den Revolutionsjahren zu größerer Bedeutung gelangten Abhandlung Du Contrat social. Im Mittelpunkt der Erörterungen stehen die Souveränität des Volkes und der den Individualinteressen übergeordnete Gemeinwille, die „volonté générale“. Dieses abstrakte und zum Teil widersprüchliche Werk blieb für Kleist eher marginal. Über Rousseaus Theorien hinaus wirkte seine Lebenshaltung auf Kleist. Rousseau, der bekanntlich sogar von Verfolgungswahn geplagt wurde, aber aufgrund seiner freimütigen Kritik auch tatsächlichen Verfolgungen ausgesetzt war, hatte durch sein Einsiedler-Leben auf der Peters-Insel im Bieler See einen halb melancholischen, halb idyllischen Rückzug aus der Gesellschaft vorgelebt. Davon zeugen seine Rêveries du promeneur solitaire36 , die im Jahre 1782 postum erschienen und wie die ebenfalls erst postum veröffentlichten autobiographischen Confessions großes Aufsehen erregten. Gerade Rousseaus Gesellschaftsscheu und die nicht zuletzt von seinen persönlichen Schwierigkeiten herrührende Gesellschafts- und Zivilisationskritik mußten bei dem unter ähnlichen Problemen leidenden Kleist auch eine existentiell begründete Sympathie für Rousseau zur Folge haben. Er lebte sich für längere Zeit in eine regelrechte Rousseau-Nachfolge hinein. Während seines Schweizer Aufenthalts im Jahr 1802 ging er sogar so weit, wie Rousseau auf einer Insel zu wohnen: auf der Delosea-Insel, die in der Mündung der Aare in den Thuner See liegt. Von dort schrieb er am 1. Mai 1802 den schon zitierten Brief über das „Mädeli“ und das Schreckhorn.
Bevor aber Kleist mit seinem idyllisierenden Rückzug aus der Gesellschaft Rousseau imitierte, stilisierte er auch seine Zivilisationskritik am Beispiel der Stadt Paris mit ihrem Luxus und ihrer Sittenverderbnis ganz in der Nachfolge Rousseaus. Im Sommer 1801 war er für mehrere Monate nach Paris gereist. Von dort schrieb er Briefe, die nicht als authentische Reise-Berichte, sondern als Briefpoesie zu werten sind. Kleist bezieht zwar reale Eindrücke von einer durch die langen Jahre der Revolution und die daran anschließenden Revolutionskriege verrohten Gesellschaft ein, sein eigentliches Thema ist aber ganz in Rousseaus Sinn die Negativität der Zivilisation überhaupt. Paris erscheint ihm geradezu als Zivilisationsungeheuer. „Mit allen seinen Greueln und sogenannten Freuden“ habe er Paris kennengelernt, schreibt er in dem langen Brief vom 28. und 29. Juli 1801 an Adolfine von Werdeck: „Es ist kein sinnliches Bedürfniß, das hier nicht bis zum Ekel befriedigt, keine Tugend, die hier nicht mit Frechheit verspottet, keine Infamie, die hier nicht nach Principien begangen würde“ (255) – schwungvolle Antizivilisationsrhetorik, wie sie nicht bloß ihrem Gehalt nach, sondern bis in den rhetorischen Duktus hinein direkt an Rousseaus Vorbild anknüpft. Kleist wird nicht müde, in diesem Ton fortzufahren. In einem Brief aus Paris vom 16. August 1801 an Louise von Zenge, die Schwester seiner Braut, heißt es über das moderne Babylon: „Verrath, Mord u Diebstahl sind hier ganz unbedeutende Dinge, deren Nachricht niemanden afficiert. Ein Ehebruch des Vaters mit der Tochter, des Sohnes mit der Mutter, ein Todtschlag unter Freunden u Anverwandten sind Dinge, dont on a eu d’exemple, u die der Nachbar kaum des Anhörens würdigt“ (264).
In seiner Zivilisationskritik hatte sich Rousseau auch über die vermeintlich negative Wirkung der Künste und insbesondere der Wissenschaften ereifert. Das war schon das Thema seines Erstlingswerks, des Discours sur les sciences et les arts von 1750. Nach Rousseau entfremden Kunst und Wissenschaft den Menschen seiner ursprünglichen Natur, sie verführen ihn zu Luxus und Laster. Vor allem aber deformiert die Wissenschaft und die von der Wissenschaft geprägte Zivilisation den Menschen, da sie ihn einseitig macht und an der Stelle des ganzheitlichen Menschen den kümmerlichen Spezialisten hervorbringt. Genau diesen Gedanken adaptiert Kleist in dem schon zitierten Brief vom 28. und 29. Juli 1801 an Adolfine von Werdeck. „Einseitigkeit“ der Wissenschaften lautet dort das Rousseausche Stichwort. „Ich mögte“, schreibt Kleist, „so gern in einer rein-menschlichen Bildung fortschreiten, aber das Wissen macht uns weder besser, noch glücklicher. Ja, wenn wir den ganzen Zusammenhang der Dinge einsehen könnten! […] Ach, mich ekelt vor dieser Einseitigkeit! Ich glaube, daß Newton an dem Busen eines Mädchens nichts anderes sah, als seine krumme Linie, u daß ihm an ihrem Herzen nichts merkwürdig war, als sein Cubikinhalt. Bei den Küssen seines Weibes denkt ein ächter Chemiker nichts, als daß ihr Athem Stickgas u Kohlenstoffgas ist“ (257). Und weiter heißt es von dem in seiner wissenschaftlichen Einseitigkeit verkümmerten Spezialisten in poetischer Metaphorik: „Er sieht bloß das Insect, nicht die Erde, die es trägt, und wenn der bunte Holzspecht an die Fichte klopft, oder im Wipfel der Eiche die wilde Taube zärtlich girrt, so fällt ihm bloß ein, wie gut sie sich ausnehmen würden, wenn sie ausgestopft wären. Die ganze Erde ist dem Botaniker nur ein großes Herbarium, u an der wehmütigen Trauerbirke, wie an dem Veilchen, das unter ihrem Schatten blüht, ist ihm nichts merkwürdig, als ihr linnéischer Name. Dagegen ist die Gegend dem Mineralogen nur schön, wenn sie steinig ist, und wenn der alpinische Granit von ihm bis in die Wolken strebt, so thut es ihm nur leid, daß er ihn nicht in die Tasche stecken kann, um ihn in den Glasschrank neben die andern Fossile zu setzen“. Schließlich ruft er aus: „O wie traurig ist diese cyklopische Einseitigkeit!“ (ebd.) – ein verballhorntes Kant-Zitat, denn in Anlehnung an Rousseaus Polemik gegen die Einseitigkeit hatte Kant, auf den einäugigen Zyklopen Polyphem in Homers Odyssee anspielend, von der „zyklopischen Einäugigkeit“ gesprochen.37
Wie sehr Kleist auf Rousseau eingeschworen war, zeigt schon ein Brief vom 22. März 1801 an Wilhelmine von Zenge. „Es hätte sich nicht leicht ein Umstand ereignen können“, schreibt er in diesem Brief, „der imstande wäre, Dich so schnell auf eine höhere Stufe zu führen, als Deine Neigung für Rousseau. Ich finde in Deinem ganzen Briefe schon etwas von seinem Geiste – das zweite Geschenk, das ich Dir, von heute an gerechnet, machen werde, wird das Geschenk von Rousseaus sämmtlichen Werken sein. Ich werde Dir dann auch die Ordnung seiner Lesung bezeichnen – für jetzt laß Dich nicht stören, den ‚Emil‘ ganz zu beendigen“ (203). Auf dem Hintergrund dieses vor dem Aufbruch nach Frankreich geschriebenen Briefes läßt sich die Inszenierung Rousseauscher Sicht- und Denkweisen in den Briefen aus Paris als Erfüllung eines ideologischen Programms verstehen, das auch eine ganze Reihe von Dichtungen Kleists strukturiert. Insofern sind diese Briefe bereits dichterische Zeugnisse, nicht bloß biographische im engeren Sinn.38 Zur selben Zeit schreibt Kleist schon an seinen ersten Dramen, ohne darüber allerdings zu berichten.
Dichterischer Rousseauismus ist es, wenn er den zitierten Brief an Louise von Zenge vom 16. August 1801 in einen großen Naturhymnus einmünden läßt. In den beiden ersten Partien des kunstvoll komponierten Briefs entwirft Kleist das Bild der Stadt Paris und eine Charakteristik der Bewohner. Wie die Stadt als Unnatur erscheint, so auch die Lebensart ihrer Bewohner, die allen ursprünglichen und wahren Bedürfnissen des menschlichen Wesens entfremdet sind. In einer dritten Partie steigert sich diese Darstellung zivilisierter Unnatur: Sie erreicht für Kleist ihr nur noch pervers zu nennendes Maximum, wo die Stadtbewohner Natur künstlich inszenieren!
Von Zeit zu Zeit verläßt man die matte, fade, stinkende Stadt, und geht in die – Vorstadt, die große, einfältige, rührende Natur zu genießen. Man bezahlt (im hameau de Chantilly) am Eingange 20 sols für die Erlaubniß, einen Tag in patriarchalischer Simplicität zu durchleben. Arm in Arm wandert man, so natürlich wie möglich, über Wiesen, an dem Ufer der Seen, unter dem Schatten der Erlen, hundert Schritte lang, bis an die Mauer, wo die Unnatur anfängt – dann kehrt man wieder um. Gegen die Mittagszeit (das heißt um 5 Uhr) sucht jeder sich eine Hütte, der eine die Hütte eines Fischers, der Andere die eines Jägers, Schiffers, Schäfers etc. etc. jede mit den Insignien der Arbeit und einem Namen bezeichnet, welchen der Bewohner führt, so lange er sich darin aufhält. Funfzig Laquaien, aber ganz natürlich gekleidet, springen umher, die Schäfer- oder die Fischerfamilie zu bedienen. Die raffinirtesten Speisen u die feinsten Weine werden aufgetragen, aber in hölzernen Näpfen u in irdenen Gefäßen […].39
Kleist beendet diese eindrucksvolle Darstellung, indem er die Rückkehr in die Stadt mit folgenden Worten schildert: „und jeder eilt nun aus der Natur wieder in die Unnatur hinein“. Die künstlich hergestellte Natur erweist sich als ein Produkt des Entfremdungsleidens in der modernen Zivilisation. „Natürliches“ Dasein ist nur noch als falscher Schein, als Theater in einer Welt möglich, die schon längst nicht mehr Natur, sondern Zivilisation ist. Diese Zivilisation, als deren Inbegriff die Großstadt Paris figuriert, weckt zwar das Bedürfnis, ihr zu entkommen und „Natur“ zu suchen, aber eben deshalb kann sie nicht gefunden und authentisch erlebt, sondern nur noch in der Form einer künstlichen Veranstaltung inszeniert werden.
Diesen kunstvoll aufeinander aufbauenden zivilisationskritischen Partien des Briefes, der sich nach und nach als kulturphilosophische Dichtung aus dem Geiste Rousseaus entpuppt, folgt ein hochpoetischer Naturhymnus. Der zivilisatorischen Unnatur setzt Kleist eine Vision der Natur entgegen, die wie kaum ein anderer Text den zeitgenössischen Naturkult zum Ausdruck bringt:
Große, stille, feierliche Natur, Du, die Cathedrale der Gottheit, deren Gewölbe der Himmel, deren Säulen die Alpen, deren Kronleuchter die Sterne, deren Chorknaben die Jahreszeiten sind, welche Düfte schwingen in den Rauchfässern der Blumen, gegen die Altäre der Felder, an welchen Gott Messe lieset u Freuden austheilt zum Abendmahl unter der Kirchenmusik, welche die Ströme u die Gewitter rauschen, indessen die Seelen entzückt ihre Genüsse an dem Rosenkranze der Erinnerung zählen – so spielt man mit dir –?40
Dieser Naturkult, der sich in der systematischen Transponierung der ganzen Natur in das kultische Arrangement einer Kathedrale präzise fassen läßt und seine Vorbilder in den pseudoreligiösen Feiern der Natur während der Zeit der Französischen Revolution hat41 , ist nicht zuletzt unter dem Aspekt der Säkularisation interessant. Das Jahrhundert der Aufklärung hatte die Offenbarungsreligion und damit die religiös-metaphysische Orientierung mindestens der gebildeten Schicht weitgehend aufgehoben. Soweit man noch von Religion sprach, ließ man sie, wie Kant demonstrierte, nur in den Grenzen der Vernunft und des natürlichen Empfindens gelten. Sie verlor damit ihre transzendente Dimension und wurde mehr oder weniger eine ‚weltliche‘ Religion. Das war der entscheidende Schritt der Säkularisierung. Auch wenn man das Übernatürliche zum Natürlichen depotenzierte, blieb allerdings doch das Bedürfnis, der Immanenz des natürlichen Daseins noch etwas von der Erhabenheit des entschwundenen Übernatürlichen zu erhalten. Mit der Abwertung der jenseitigen Übernatur verband sich eine entschiedene Aufwertung der diesseitigen Natur. So kam es zu einem spezifischen Naturkult.
Reiche Nahrung erhielt der Kult der Natur, von dem Kleists Brief ein beredtes Zeugnis ablegt, durch den zeitgenössischen Spinozismus, dessen Kardinalformel „deus sive natura“ Gott mit der Natur gleichsetzte. Infolgedessen löste sich das christlich-dualistische Modell zugunsten eines modern-monistischen Weltbildes auf. Zwar gibt es bei Kleist keinerlei eindeutige Aussagen wie etwa bei Goethe und Hölderlin, die sich dem Spinozismus und damit der pantheistischen Naturvorstellung zuwandten. Aber der zitierte briefliche Naturhymnus scheint doch in diese Richtung zu weisen. Der traditionellen religiösen Haltung und der ihr zugeordneten Kulthandlung entspräche es, wenn der Mensch in der „Kathedrale der Gottheit“ als Priester fungieren würde. Kleist aber läßt Gott in der Kathedrale, welche die Natur ist, Messe lesen. In diesem scheinbar so verunglückten Bild kommt zum Ausdruck, daß nicht etwa Mensch und Natur auf eine transzendente Gottheit bezogen sind, vielmehr daß Gott diesem Raum der Natur immanent ist, der nur insofern „Kathedrale der Gottheit“ heißen kann. Die Gottheit ist nur noch der personifizierte Mittelpunkt des Geschehens in der Natur.
Abschließend behauptet Kleist in seiner Briefdichtung, er habe bei seinem Ausflug zum Hameau de Chantilly abseits des perversen, sich in einer erkünstelten „Natur“ abspielenden Treibens der Städter ein Liebespaar beobachtet, das sich der wahren Natur eines echten Liebesgefühls überließ. Das ist das eigentliche, wiederum ganz nach Rousseau entworfene Ziel der Briefdichtung. Rousseau verherrlicht die Natur nicht bloß als äußere Natur, sondern auch als unentstellte Natürlichkeit des Gefühls, die der zivilisatorisch deformierte Mensch zu verlieren droht. So verschmilzt bei ihm der Naturkult mit einem Gefühlskult, den der Liebesroman Julie ou la Nouvelle Héloïse (1761) eindrucksvoll entfaltet. Kleist kommt es vor allem auf das naturhafte Liebesgefühl an, das wahre Humanität ausdrückt, während die denaturierte Gesellschaft für ihn etwas spezifisch Inhumanes hat. Überall, wo in seinen Werken wahre Liebe im Spiele ist, repräsentiert sie die gegengesellschaftliche Sphäre authentischen, natürlichen Menschentums.
Wenige Monate nach dieser Briefpoesie treibt Kleist seine Rousseau-Nachfolge auf die Spitze. Er reist aus der Großstadt Paris in die Schweiz, um „im eigentlichsten Verstande ein Bauer“ zu werden, wie er im Brief an die Braut vom 10. Oktober 1801 schreibt.42 Er versucht Rousseaus Ideal des homme naturel zu realisieren. Daß er dieses Ideal gerade in der Schweiz verwirklichen will, ist bezeichnend, denn Rousseau, der gebürtige Genfer, der einen großen Teil seines Lebens in der Schweiz verbrachte, begeisterte durch die malerischen Schilderungen der Schweizer Seen- und Gebirgslandschaft in seinem Roman La Nouvelle Héloïse und in seinen autobiographischen Schriften, vor allem in den Rêveries du promeneur solitaire, das Publikum für diese bis dahin kaum beachtete Landschaft. Sein Zeitgenosse Samuel Johnson, ein eingefleischter Großstädter aus London, bezeichnete die Berge noch als „Auswüchse und unnatürliche Beulen auf der Erdoberfläche“. Der sentimentalische Wanderer und Spaziergänger Rousseau dagegen pries die ursprüngliche und wilde Natur. Er wurde damit zum Wegbereiter des Alpinismus und überhaupt des Natur-Tourismus. Kein anderer hat so viel dazu beigetragen, die Schweizer Berge zum Gegenstand der europäischen Naturbegeisterung zu machen, wie Rousseau. In die Alpen reisen, hieß dem berühmten Ruf Rousseaus „zurück zur Natur“ folgen. Goethe, Hölderlin, Kleist und viele andere Zeitgenossen begaben sich in die Schweiz, um sie im Zeichen Rousseaus zu erleben. Zahlreiche rousseauistisch gefärbte Reisebeschreibungen und Landschaftsdarstellungen entstanden, auch Dichtungen, die von diesem Geist beseelt sind und die Schweizer Landschaft mit ihren hohen Bergen, den Seen und dem Rheinstrom als Szenerie benutzen. Zu den bedeutendsten dichterischen Beispielen gehören Hölderlins Ode Unter den Alpen gesungen und seine große, ebenfalls im Jahr 1801 entstandene Hymne Der Rhein, in der er direkt Rousseau nennt.
Kleists Rousseau-Nachfolge ist demnach nicht irgendein zufälliger Bestandteil seiner Biographie, vielmehr inszeniert er das Leben bewußt nach einem geistig-literarischen Muster. Rousseau war schon zur Kultfigur geworden. In besonderem Maße diente er der ideologischen Identitätsbildung, wenn – wie bei Hölderlin und Kleist – die individuelle Lage, das Außenseitertum und die Schwierigkeiten der Anpassung an Konvention und Gesellschaft schon entsprechende Affinitäten boten. Der tiefere Grund für die Rousseau-Attitüde, mit der sich Kleist zum homme naturel stilisierte, kommt im Brief vom 10. Oktober 1801 an Wilhelmine von Zenge in einem jähen Geständnis zum Vorschein. Er fühle sich, schreibt Kleist an die Braut, „ganz unfähig“, sich „in irgend ein conventionelles Verhältniß der Welt zu passen“ (272).
Im darauffolgenden Brief vom 27. Oktober 1801, wiederum an Wilhelmine, setzt Kleist nach alter literarischer Idyllen-Manier das „Landleben“ dem „Stadtleben“ entgegen. Rousseau hatte diesen Idyllen-Topos zu einem Grundelement seiner Zivilisationskritik gemacht. Immer von neuem kontrastierte er die korrupte und korrumpierende Zivilisation des Stadtlebens mit dem reinen, natürlichen Landleben, das fern aller Gesellschaft die einzige Möglichkeit wahrhaft menschlicher Erfüllung biete. In seinem Roman Émile, dessen Fernwirkungen bis in die moderne Landschulpädagogik reichen, sieht er es sogar als eine wichtige Aufgabe der Erziehung an, die jungen Menschen aus der Stadt auf das Land zu schicken, wo allein die Segnungen natürlichen Lebens zu erfahren seien. „Die Städte“, schreibt Rousseau, „sind Abgründe für das Menschengeschlecht. Nach Verlauf einiger Generationen gehen die Stämme zu Ende oder sie entarten; man muß sie veredeln, und diese Veredelung geht immer vom Lande aus. Laßt also eure Kinder auf dem Lande die Kraft wieder gewinnen […]“.43 Mit großer Rhetorik gestaltet Rousseau immer wieder den Zivilisationsekel, den er angesichts des korrumpierenden Gesellschaftslebens empfindet, einen Ekel, der die Sehnsucht nach dem Landleben, nach Natur und natürlichem Empfinden übermächtig werden läßt:
Ich war so gelangweilt von Salons, Springbrunnen, Bosketts, Gartenbeeten und den noch langweiligeren Besitzern alles dessen; ich war so übersättigt von Broschüren, Klavieren, L’Hombre-Spiel, Theaterverwicklungen, törichten Bonmots, fader Ziererei, kleinen Schwätzern und großen Soupers. Wenn ich einen verstohlenen Seitenblick auf einen einfachen, armseligen Dornbusch, eine Hecke, eine Scheune, eine Wiese warf, wenn ich durch ein Dörfchen kam und den Duft eines Omeletts roch, wenn ich von weitem den ländlichen Kehrreim der Lieder der Ziegenhirtinnen hörte, dann wünschte ich Schminke, Bänder und Ambra zum Teufel […].44
Schon in der deutschen Geniezeit, um 1770, gelangte das Rousseausche Muster des sentimentalisch-melancholischen Rückzugs aufs Land zu literarischer Breitenwirkung. Ein berühmtes Beispiel ist Goethes Werther. „Die Stadt selbst ist unangenehm“, heißt es schon im ersten Brief. Werther geht aufs Land, in den Bereich der Natur und des einfachen Volkes, um möglichst ungebunden sein Ich entfalten zu können und sich ganz seinen Empfindungen und Stimmungen hinzugeben. So verläßt Kleist Paris, das er ganz nach den vorgegebenen Mustern als unangenehm, ja als „ekelhaft“ empfindet, wie er in deutlicher Adaption des Rousseauschen Kulturekels an einer Stelle sagt. In der Schweiz bezieht er, wie schon erwähnt, ein Häuschen auf einer Insel in der Aare-Mündung am Thuner See, um Rousseaus Idylle auf der Peters-Insel im Bieler See nachzuleben. Das ist der Moment, in dem sich Kleist erstmals ganz zum Schriftsteller-Beruf bekennt. In demselben Brief (20. Mai 1802), in dem er dies tut, löst er sich endgültig von seiner Braut, mit den Worten: „Liebes Mädchen, schreibe mir nicht mehr“ (309).
Rousseaus Bedeutung für Kleists Dichtungen ist oft hervorgehoben worden. Vor der genaueren Analyse im Zusammenhang mit der Darstellung der jeweiligen Werke kann ein vorgreifender Überblick das Koordinatensystem deutlich machen, in dem sie sich bewegen. Wie nicht anders zu erwarten, ist das gleichzeitig mit den brieflichen Rousseau-Bekenntnissen entstandene Erstlingsdrama Die Familie Schroffenstein am intensivsten von der Vorstellungswelt Rousseaus geprägt. Ins Zentrum seines Dramas stellt Kleist die menschliche Ursünde nach Rousseau: die Bildung des Eigentums. Die Fixierung auf das Eigentum führt zu Streit und einem Mißtrauen, das alle menschlichen Verhältnisse zerrüttet: das Verhältnis von Verwandten zueinander, vom Mann zur Frau, vom Vater zu den Kindern, ja das Verhältnis des Menschen zu sich selbst. Auch alle einzelnen Konstellationen des Erstlingswerks sind nach Rousseau konstruiert, und dies bis ins Szenische. Während sich im Bereich des Gesellschaftlichen blutige Greuel ereignen, entfaltet sich die reine Menschlichkeit der Liebe in gesellschaftsferner Gebirgsnatur.
Auch Kleists erste Erzählung, Das Erdbeben in Chili (1807), führt die Opposition von gesellschaftlich formierter, inhumaner Welt und einer wahrhaft menschlichen, weil vom Druck gesellschaftlicher Institutionen und Konventionen befreiten Welt vor. Wer gegen die Vorurteile der Gesellschaft verstößt, wie das Liebespaar Jeronimo und Josephe, das die Standesgrenzen überwindet, wird von den Agenturen der gesellschaftlichen Interessen, von Kirche und Staat, verdammt und verurteilt. Unmittelbar vor der Hinrichtung der beiden Liebenden bricht nun aber das Erdbeben los: Die gesamte gesellschaftliche Ordnung löst sich auf, Staat und Kirche verlieren vorübergehend ihre Macht, weil das Erdbeben in buchstäblichem Sinne alles zum Einsturz bringt. Ein sich frei von gesellschaftlichen Institutionen entfaltendes Leben in paradiesischer Natur ermöglicht ein menschliches Zusammensein, in dem nur die natürlichen Gefühle gelten und nur das elementare menschliche Miteinander von Belang ist. Es scheint, als seien die Liebenden nun in eine wahrhafte Gemeinschaft aufgenommen und als habe alle Bedrängnis ein Ende. Aber dieser Zustand erweist sich als Utopie, denn, so gibt Kleist zu verstehen, auf Dauer sind institutionenfreie Räume nicht vorstellbar. Aufgehetzt von einem fanatischen Priester, formiert sich die Gesellschaft wieder zu ihren alten Vorurteilen. Das Ergebnis ist ein Blutbad, dem das Liebespaar zum Opfer fällt.
Im großen Maßstab einer heroischen Tragödie bestimmen die Rousseauschen Grundwertungen Kleists Penthesilea. Der Amazonenstaat repräsentiert eine gesellschaftliche Ordnung, die das Individuum seiner natürlichen menschlichen Entfaltungsmöglichkeit beraubt. Er beruht auf einem Gesetz, das es den Frauen – und dieser Staat besteht nur aus Frauen – verbietet, in dauernder ehelicher Gemeinschaft zu leben, denn durch Männer hatten die Frauen einst Unterdrückung und Gewalt erfahren. In exzessiver Gegenreaktion erzwingt das Gesetz des Amazonenstaates nunmehr die totale Emanzipation: Männer dürfen nur noch zur Sicherung des Nachwuchses, von dem ja der Bestand des Staates abhängt, ‚verwendet‘ werden. Deshalb ist es den Amazonen untersagt, eine persönliche Liebeswahl zu treffen – sie könnte zum Wunsch nach dauernder Verbindung führen. Wenn wieder Bedarf an Nachwuchs besteht, müssen die Amazonen ausziehen, um Männer für kurze Zeit zum Zweck der Fortpflanzung gefangenzunehmen. Dieser Frauenstaat repräsentiert das Gegenteil von Emanzipation: die organisierte Repression der individuellen Rechte und der natürlichen Gefühle des Menschen. Nur durch die Unterdrückung des Liebesgefühls und das Verbot einer persönlichen Liebesbindung kann das gesellschaftliche System des Amazonenstaates aufrechterhalten werden. Selbstverständlich nahm Kleist die exotische Amazonensage nicht an sich ernst, vielmehr verwendete er den Amazonenstaat als ein extremes Symbol für den von ihm mit Rousseau grundsätzlich als negativ bewerteten gesellschaftlichen Repressionsmechanismus, der im Staat seine übergreifende Organisationsform findet. Krass kommt die Denaturierung durch gesellschaftlichen Zwang in einem anderen Zug zum Ausdruck. Die Amazonen, so berichtet die Sage, mußten als ganz auf sich gestelltes und deshalb auch zum Kriegsdienst gezwungenes Frauenvolk fähig sein, den Bogen zu spannen. Um dies bewerkstelligen zu können, mußten sie sich eine Brust abreißen. Der Name A-mazone heißt wörtlich ins Deutsche übersetzt: die Busenlose. Diese Überlieferung greift Kleist auf, um die Denaturierung, ja Mißhandlung der menschlichen Natur sinnfällig zu machen. Wie im Erdbeben in Chili und schon vorher in der Familie Schroffenstein erhalten auch in der Penthesilea Religion und Kirche die Funktion, gesellschaftliche Interessen und Zwänge ideologisch zu legitimieren. Da das Drama in der vorchristlichen Antike spielt, konnte Kleist nicht christliche Priester als Vertreter einer öffentlichen ‚Moral‘ auftreten lassen. Aber es ist durchsichtig, was er meint, wenn er einer heidnischen Oberpriesterin die Funktion ideologischer Normensetzung und Normenkontrolle überträgt.
In der großen, starken und gefühlsechten Menschen-Natur, wie sie Penthesilea repräsentiert, läßt sich das natürliche Gefühl nicht auf Dauer unterdrücken. Deshalb kommt es zum Konflikt, und damit verwandelt sich das Geschehen in ein tragisches. Doppelt tragisch ist es, weil es sich nicht nur um einen äußeren, sondern auch um einen inneren Konflikt handelt. Denn – und das wird die Analyse des Dramas genauer zeigen – Penthesilea hat die gesellschaftlichen Normen unbewußt internalisiert, weil sie mit ihnen aufgewachsen ist, und so liegt sie auch mit sich selbst im Kampfe. Das ist die tiefste und schlimmste Wirkung der gesellschaftlichen Entfremdung, der die ursprüngliche Menschennatur unterworfen wird: Nicht nur äußerlich wirken die gesellschaftlichen Normen zerstörerisch auf sie ein, schlimmer noch ist ihr Zerstörungswerk im Innern. Erst damit wird die Entfremdung zur Selbstentfremdung.
Schon diese vorläufige Skizze erlaubt es, eine kurze Synthese zum Thema ‚Kleist und Rousseau‘ zu formulieren. Der gemeinsame Nenner ist eine grundsätzlich negative Wertung des gesellschaftlichen Lebens. Daraus folgt eine radikale Kritik der Institutionen, in denen sich dieses gesellschaftliche Leben am stärksten formiert: Staat und Kirche. Für Kleist sind sie Unnatur und Widernatur. Da aber menschliches Leben nur gesellschaftlich denkbar ist und immer Institutionen wie Staat und Kirche die Macht- und Besitzinteressen sowie die Vorurteile der Gesellschaft organisieren, folglich das Natur-Widrige unaufhebbar bleibt, haben die wenigen Menschen, die wahrhaft human leben wollen und aus innerstem Antrieb leben müssen, notwendigerweise ein tragisches Los. So ergibt sich Kleists Konzeption des Tragischen. Das Tragische ist in dieser Sicht geradezu unvermeidbar.