Читать книгу Heinrich von Kleist - Jochen Schmidt - Страница 19
Die Zerstörung des Menschlich-Natürlichen als zentrales Thema
ОглавлениеGenerell bildet die am Anfang des dritten Aufzugs plazierte naturhafte Liebesszene einen scharfen Kontrast zur Unnatur des gesellschaftlich entfremdeten Zustands. Denn der aus dem Erbvertrag entspringende Zwist ist nur der Nerv des Geschehens, das sich mit zahlreichen Nebenelementen anreichert, mit Herrschafts-, Unterdrückungs- und Entrechtungsverhältnissen. Rupert, der zu Beginn des Stücks „nichts mehr von Natur“ (V. 42) zu hören wünscht, ist ihr Repräsentant. Sie beginnen in seiner Familie. Rupert mißachtet seine Frau, die mit den Worten „ich, dein unterdrücktes Weib“ Position gegen ihn bezieht (V. 1810), nachdem er den Vermittler Jeronimus heimtückisch hat ermorden lassen. Er verhält sich inhuman, indem er seiner Frau keinen Einfluß auf seine Entscheidungen zubilligt, ihr seine wahren Absichten verheimlicht, sie bewußt täuscht und ihr Vertrauen mißbraucht. Er ist ein Familientyrann. Auch in einer Reihe anderer Werke entfaltet Kleist diese modern anmutende Diagnose des autoritären Charakters im Zusammenhang mit seiner Kritik der patriarchalischen Familienstruktur. Noch mehr leidet der Sohn Ottokar unter ihr – aufgrund seiner Liebe zu Agnes läßt ihn der Vater sogar gefangensetzen. Wie seine Familie, so unterdrückt und demütigt Rupert auch seine Untergebenen. Seine Diener behandelt er nicht als Menschen: wie Hunde pfeift er sie heran. Wiederholt hebt Kleist auf dieses Verhalten gegenüber den Dienern ab.17
In besonderer Weise akzentuiert das Schicksal Johanns, der dem Personenregister zufolge „Ruperts natürlicher Sohn“ ist, den widernatürlichen und unmenschlichen Gesamtzustand. Denn in seinem zur Nebenhandlung ausgeweiteten Fall ist das Entrechtungsverhältnis gesellschaftlich sanktioniert. Es besagt, daß der „natürliche“ Sohn Johann im Gegensatz zum ehelichen Sohn Ottokar keinerlei Rechte und Ansprüche hat. Kleist spielt hier mit dem Begriff des Natürlichen. Denn wenn ein uneheliches Kind traditionell ein ‚natürliches‘ Kind heißt, dann ist die Gesellschaft, die ein solches ‚natürliches‘ Kind benachteiligt und entrechtet, notwendigerweise widernatürlich.18 So bringt Kleist seine rousseauistische Gesellschaftskritik auf den Nenner: Die gesellschaftlichen Normen sind pervers und unmenschlich, da sie das Natürliche brandmarken. Der ‚natürliche‘ Sohn Johann muß das Leben eines outcasts führen, im Verhältnis zum ‚legitimen‘, weil ehelichen Sohn Ottokar befindet er sich mit seinen menschlichen und gesellschaftlichen Ansprüchen in einer aussichtslosen Situation. Die letzte Konsequenz des Paria-Daseins sind seine wiederholten Versuche, in den Tod auszubrechen, und sein Ende im Wahnsinn.
Erbe, Eigentum, Stand und Herrschaft sowie die daraus entspringenden menschlichen und gesellschaftlichen Deformationen bilden also einen großen Themenkomplex. Wie schon der Zwist zwischen den Häusern Rossitz und Warwand symbolisch die Zerstörung des Menschlich-Natürlichen anzeigt, da es sich um eng Verwandte, um von Natur aus Zusammengehörige handelt, so signalisieren auch die anderen Mißverhältnisse die Zerstörung des Menschlich-Natürlichen.
Das Zerstörungsgeschehen gipfelt in der Selbstzerstörung Ruperts. Es ist wohl die größte Leistung Kleists in seinem Erstlingswerk, daß er nicht nur die Zerrüttung aller menschlichen Beziehungen, sondern auch, als äußerste Folge des Abfalls von der Natur, Ruperts zunehmende Selbstentfremdung und Selbstzerstörung gestaltet und ihr eine zwanghafte Eigendynamik verleiht. Rupert selbst bemerkt seinen inneren Niedergang (V. 1918): „selbst ein Eckel bin ich mir“. Auch das Verwechslungsgeschehen des Kindesmords, bei dem jeder der Väter, durch den Kleidertausch der Kinder getäuscht, sein eigenes Kind ermordet, hat seinen tieferen Sinn in der Vernichtung des Eigenen. Ruperts Bosheit gründet in einem geradezu pathologischen Vorurteil und ist verblendeter Eigensinn, der zu keiner menschlichen Öffnung mehr fähig ist und deshalb nur noch unterjochen und zerstören kann. Solcher Eigensinn ist die schlimmste Ausgeburt des Eigentums.
Alles in allem waltet kein dämonisch-unerkennbares Schicksal in dem Geschehen, vielmehr liegen ihm klar erkennbare gesellschaftliche Ursachen zugrunde. Allerdings bestimmen diese gesellschaftlichen Ursachen ihrerseits nicht zwanghaft die Haltung des einzelnen, denn obwohl der Erbvertrag für Sylvester von Schroffenstein nicht minder als für seinen Gegner Rupert von Schroffenstein gilt, widersteht er dem Mißtrauen und dem Vorurteil auch in der engsten Umgebung. Sein Wunsch nach einem „Gespräch“ mit Rupert drückt seine Bereitschaft aus, die Vorurteile abzubauen und das Vertrauen wiederherzustellen. „Wenn ich nur Rupert sprechen könnte“, „wenn ich Rupert sprechen könnte“ – so enden die zweite und die dritte Szene des zweiten Aktes in bedeutungsvoller Parallelität mit einem vergeblichen Wunsch, bevor der nicht gesprächsbereite Rupert die Katastrophe einleitet. Diese individuellen Unterschiede im Verhalten der Personen zeigen, daß die gesellschaftlichen Verhältnisse zwar zerstörerisch wirken, aber nicht schlechthin alles und alle zwanghaft festlegen wie später in den Dramen der Naturalisten.
Im ganzen stuft sich die Begründung der zur Katastrophe drängenden Handlung dreifach: Bloß äußerer Anlaß ist ein Zufall, der abgeschnittene Kindesfinger; tiefere, gesellschaftliche Ursache ist die Ursünde des Erbvertrages: die Fixierung der Menschen auf das Eigentum und das daraus entstehende Potential von Mißtrauen und Aggression; eine individuelle Schuld liegt in der persönlichen Unzulänglichkeit Ruperts. Das Verhältnis der allgemeinen, gesellschaftlichen Ursache der Katastrophe zur individuell-persönlichen Disposition läßt sich so definieren, daß erst durch individuelle Unzulänglichkeit die im Erbvertrag paradigmatisch repräsentierten Mängel ihre Virulenz erhalten, und daß umgekehrt nur aufgrund der gesellschaftlichen Mängel ein so gravierendes individuelles Versagen möglich ist – möglich, nicht notwendig!