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Kleists aufklärerische Kritik an Kirche und Religion

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Während die Mehrheit der Romantiker in den Jahren nach 1800 neureligiösen Tendenzen folgt, verschreibt sich Kleist der Kirchenkritik und einer psychologisch vertieften Religionskritik. Er steht damit in einer unter Friedrich dem Großen begründeten und bis in die preußische Spätaufklärung reichenden Tradition. Wie schon Friedrich der Große selbst greift Kleist auf die großen französischen Aufklärer zurück, vor allem auf Voltaire und Helvétius. Am 15. August 1801 schreibt er an Wilhelmine von Zenge: „Zuweilen, wenn ich die Bibliotheken ansehe, wo in prächtigen Sälen u in prächtigen Bänden die Werke Rousseaus, Helvetius‘, Voltaires stehen, so denke ich, was haben sie genutzt? Hat ein einziges seinen Zweck erreicht?“ (259f.) Die „Zwecke“ der großen Aufklärer also sieht er mit melancholischer Skepsis immer noch als unerfüllt an. Für seine Gesellschaftskritik orientiert sich Kleist an Rousseau, für seine Justizkritik ist eine schon etablierte preußische Aufklärungstradition maßgebend28 , für seine Kirchen- und Religionskritik schließlich wählt er als Leitfiguren Voltaire und Helvétius. Daneben wirkte auch schon eine durch Friedrich den Großen repräsentierte eigengewichtige preußische, speziell kirchen- und religionskritisch profilierte Aufklärung weiter.

Die Kritik der aufklärerischen Schriftsteller und Philosophen richtete sich gegen Intoleranz, Fanatismus und Dogmatismus, gegen Hexen- und Ketzerprozesse sowie die Verfolgung der Juden, nicht zuletzt gegen den Machtanspruch und die Privilegien der Kirche. Sie kämpften für Toleranz, Humanität, für die genuinen Rechte der menschlichen Natur und für die Freiheit des Geistes. An der Religion ließen sie all das nicht mehr gelten, was der Erfahrung und der Vernunft widersprach: den Wunderglauben, den Glauben an das direkte Eingreifen Gottes in das Weltgeschehen sowie die Annahme, der Mensch könne Gott durch Gebete oder irgendwelche Verhaltensweisen beeinflussen. Im Medium des Pantheismus, der zur Weltanschauung der Gebildeten wurde, führte die Aufklärungsbewegung noch weiter: Sie suspendierte das christlich-dualistische Weltbild und damit überhaupt die Vorstellung eines transzendenten Gottes. Wer von Gott sprach, meinte oft bloß noch ein einheitstiftendes Prinzip im Weltgeschehen, den ‚Geist der Natur‘. So löste sich das christlich-dualistische Weltbild zugunsten eines säkular-monistischen auf. Für die kirchen- und religionskritische Aufklärungsbewegung, in deren Bahn Kleist weiterschritt, waren drei historische Entwicklungen von grundsätzlicher Bedeutung: die negative Erfahrung der auf die Reformation folgenden und im Dreißigjährigen Krieg gipfelnden europäischen Religionskriege sowie die von Dogmatismus und Teufelswahn ausgelösten Ketzer- und Hexenverfolgungen; der rasche Fortschritt der modernen Naturwissenschaften, der eine Erosion des überlieferten Weltbildes zur Folge hatte; schließlich die Entstehung der historischen Bibelkritik, welche die Autorität der Bibel erschütterte, da sie das bisher als „Gotteswort“ Geglaubte in seiner geschichtlichen Entstehung und damit als Menschenwort erklärte.

Für Kleist wurde vor allem Voltaire wichtig29 , sowohl durch seine publizistischen Feldzüge gegen die von der Kirche begangenen oder angestifteten Verbrechen als auch durch seinen prinzipiellen Kampf gegen die verhängnisvollen Auswirkungen von Vorurteilen, Heuchelei und religiösem Fanatismus. Besonders den Kampf gegen den religiösen Fanatismus konnte Kleist bei Voltaire in eindrucksvoller Weise finden. Immer wieder prangerte Voltaire die Kirche an, weil sie Menschen folterte und auf den Scheiterhaufen brachte. Er evozierte die Prozessionen von Mönchen und frommen Bruderschaften, welche die meist wegen einer menschlich-natürlichen Handlung oder einer harmlosen Abweichung von der Norm zum Tode Verurteilten auf öffentliche Plätze führten, wo sich das fromme Volk an dem grausamen Schauspiel erfreute. Zwar kam dies im 18. Jahrhundert nur noch selten vor, aber fanatische Intoleranz wirkte sich doch überall noch in Verfolgungs- und Unterdrückungsmaßnahmen aus, so daß es sich keineswegs um ein schriftstellerisches Nachhutsgefecht handelt, wenn Lessing im Nathan den Patriarchen als Vertreter der Kirche stereotyp sagen läßt: „Der Jude wird verbrannt“. Den Aufklärern kam es nicht bloß auf die kirchliche Institution an, sondern mindestens ebensosehr auf die Vorurteile, die Intoleranz und den Fanatismus der gläubigen Menge, in deren Verhalten die Erziehung durch Kirche und Religion eine fortdauernde Breitenwirkung erzeugte. Auch dies übernimmt Kleist, wie besonders das Erdbeben in Chili zeigt.

Durch Voltaires publizistisches Engagement avancierten zwei Beispiele von Intoleranz und Fanatismus zu den berühmtesten Skandalen des 18. Jahrhunderts. Voltaire machte sie zum Grundbestand des aufklärerischen Bewußtseins, ja zum Bewußtsein des Zeitalters. Den ersten der beiden Skandale, den Fall Calas, in dem ein alter, gänzlich unschuldiger Mann aus religiösem Fanatismus zu Tode gefoltert wurde, behandelte er in seiner klassisch gewordenen Abhandlung Über die Toleranz, veranlaßt durch die Hinrichtung des Johann Calas im Jahre 1762 (Traité sur la tolérance). Die Klage gegen religiöse Intoleranz im Fall Calas nahm Voltaire zum Anlaß, Toleranz in allen Bereichen zu fordern, nicht zuletzt verlangte er die Abschaffung der Zensur, die ja auf der Intoleranz gegenüber abweichenden Meinungen beruht. Gewissensfreiheit, Freiheit des Denkens und Meinungsfreiheit waren seine Hauptforderungen, und all dies sah er gerade durch Religion und Kirche am meisten bedroht. Voltaire nutzte jede Gelegenheit, um Kirche und Religion unglaubwürdig zu machen, indem er Märtyrergeschichten und Legenden ins Licht der Vernunft stellte, so daß sie als absurd oder sogar lächerlich erscheinen. Auch Kleist destruiert Wunderglauben und Legenden, so in der Erzählung Die heilige Cäcilie oder Die Gewalt der Musik und in seiner wohl letzten Erzählung, die den Titel Der Zweikampf trägt. Allerdings geht er tiefer, weil ihm nicht mehr bloß an der Kritik liegt, sondern auch an der Antwort auf die Frage, wie sich Legenden überhaupt bilden können.

Das andere durch Voltaire berühmt gewordene Beispiel von Fanatismus und Intoleranz ist durch eine seiner eigenen Schriften mitverursacht: durch seinen Dictionnaire philosophique portatif.30 Dieses „philosophische Wörterbuch“ war die erste offene und wirkungsmächtige Kampfansage an die Kirche. Ursprünglich wollte Voltaire, wie er in einem Brief berichtet, sein Wörterbuch nur zum eigenen Gebrauch schreiben, wahrscheinlich aus Sorge vor Verfolgungen. Nach dem aus religiösem Fanatismus begangenen Justizverbrechen an Jean Calas aber gab er jede Rücksicht auf und ging in die Offensive. Der Skandal war ungeheuer. Noch im Erscheinungsjahr 1764 wurde der Dictionnaire philosophique in Genf von der Hand des Henkers verbrannt, im März 1765 folgte die Verdammung durch das französische Parlament, im Juli wurde er auf den Index gesetzt. Dennoch war der Erfolg nicht aufzuhalten. Bis 1766, also in zwei Jahren, erschienen 17 Auflagen. Im Gegensatz zu der großen und unerschwinglich teuren Enzyklopädie von Diderot und d’Alembert handelte es sich um ein kleines, billiges Buch, das Voltaire bewußt von gelehrtem Ballast frei gehalten und in einem populären Stil geschrieben hatte, mit vielen eingestreuten Anekdoten. Denn er wußte, daß er nur so publizistisch in die Breite wirken konnte. Nach ‚Philosophie‘ sucht man in diesem Büchlein vergebens, obwohl es „philosophisches Wörterbuch“ heißt. Und doch ist dies keine Irreführung. Denn die Aufklärer nannten sich philosophes, ohne damit einen besonderen theoretischen Anspruch zu verbinden. Sich als ‚Philosoph‘ deklarieren hieß nicht mehr und nicht weniger als vom Standpunkt der Erfahrung und der Vernunft aus schreiben, also nicht von einer metaphysischen Voraussetzung aus oder gar in einem theologisch-dogmatischen Horizont. Voltaires vom Anliegen der Toleranz bestimmter Dictionnaire philosophique portatif trug dazu bei, daß zwei Jahre nach seinem Erscheinen, am 1. Juli 1766, der neunzehnjährige Chevalier de la Barre hingerichtet wurde. Sein Verbrechen bestand darin, daß er angeblich respektloses Verhalten bei religiösen Zeremonien an den Tag gelegt und ein paar liederliche Reden geführt hatte, aber auch daß er einige angeblich unsittliche Bücher besaß, darunter Voltaires Philosophisches Wörterbuch. Man zerbrach ihm auf der Folter die Beine, enthauptete ihn, und in den Scheiterhaufen, auf dem sein Leichnam verbrannt wurde, warf man das Exemplar des Philosophischen Wörterbuchs, das man bei ihm gefunden hatte.

Voltaire, tief erschüttert über dieses durch das Urteil des höchsten französischen Gerichtshofs gedeckte Verbrechen, verfaßte darauf eine Anklage mit dem Titel Nachricht vom Tod des Chevalier de la Barre, um die Öffentlichkeit zu alarmieren – eine ebenso aufrüttelnde wie aufschlußreiche Schrift. Sie gibt viele Züge aus der gesellschaftlichen und religiösen Wirklichkeit, vor allem aber aus der Welt einer korrupten Justiz wieder, Züge, die das Engagement der aufklärerischen und insbesondere der religionskritischen Literatur in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erst verständlich machen. Unter dem Eindruck der Tragödie des Chevalier de la Barre faßte Voltaire den Plan, zusammen mit den Enzyklopädisten nach Kleve im damals zu Preußen gehörenden Rheinland auszuwandern, um dort unter dem Schutz Friedrichs des Großen eine philosophische Kolonie zu begründen. Aber weder Diderot noch d’Alembert wollten sich aus ihren Pariser Verhältnissen lösen.

Friedrich der Große selbst, das Zentrum des aufgeklärten Preußen, an den nicht umsonst Kant, der Philosoph einer universellen Aufklärung, noch im Jahre 1784 seine Schrift Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? adressierte, schrieb am 18. Oktober 1770 an d’Alembert: „Erlauben Sie mir, Ihnen zu sagen, daß unsere heutigen Religionen [gemeint sind die christlichen Konfessionen] ebensowenig derjenigen Christi wie der Irokesischen gleichen. Jesus war ein Jude, und wir verbrennen die Juden. Jesus predigte Duldung, und wir verfolgen. Jesus predigte eine gute Sittenlehre, und wir üben sie nicht aus. Jesus hat keine Dogmen aufgestellt, und die Konzile haben reichlich dafür gesorgt“.31 An Voltaire schrieb er im Dezember 1766: „Ich halte die Arbeiten unserer jetzigen Philosophen für sehr nützlich, weil man den Menschen Scham über Fanatismus und Intoleranz vermitteln muß und weil es der Menschheit nutzt, wenn man diese grausamen und schrecklichen Tollheiten bekämpft, die unsere Vorväter zu reißenden Tieren machten“.32 Das große Thema der Vorurteile greift er in einem Brief an d’Alembert vom 25. November 1769 mit Formulierungen auf, die eine theoretische Vorüberlegung zu einer ganzen Reihe von Kleists Werken bilden könnten: „Wie soll man so viele Vorurteile besiegen, die schon mit der Muttermilch eingesogen sind? Wie soll man gegen die Gewohnheit kämpfen, welche die Vernunft der Dummköpfe ist, und wie soll man aus dem menschlichen Herzen den Samen des Aberglaubens reißen, den die Natur hineingelegt hat und den das Gefühl der eigenen Schwäche nährt?“33

Romantik und Idealismus unterbrachen trotz mancher Amalgamierungen die Aufklärungsbewegung, seit etwa 1830 aber setzte sie sich umso entschiedener und mit einer deutlichen Tendenz zur Radikalisierung fort, vor allem bei Heine, Büchner und den Linkshegelianern, die nun schon auf Romantik und Idealismus reagierten. Diese zweite Aufklärungsbewegung ist bis zu einem gewissen Grade bereits bei Kleist zu beobachten, der angesichts der heraufkommenden Romantik nicht einfach die Aufklärung fortsetzte, sondern aus aufklärerischem Geist die Romantik, auch die eigene, kritisch ins Visier nahm. Während sich die Generation von Schriftstellern nach 1830 mit der zurückliegenden Epoche von Romantik und Idealismus auseinandersetzte, bezog Kleist bereits am Beginn dieser Epoche kritisch Stellung, wie dies auch Goethe tat. Und weil Kleist in dieser Zeit steht und romantische Anwandlungen an sich selbst erfuhr, erhält die dennoch aufklärerisch-kritische Auseinandersetzung mit ihr eine existentielle Intensität. Denn es handelt sich ja nicht um eine Aufklärung gewissermaßen von außen gegen das Andere, vielmehr um eine Aufklärung, die er sich selbst gegen die eigenen romantisch-regressiven Neigungen zumutet. Aufschlußreich zeigt dies schon eine frühe Äußerung, die sich auf ein Reise-Erlebnis in Dresden bezieht. „Nirgends“, schreibt Kleist in seinem Brief an Wilhelmine von Zenge vom 21. Mai 1801,

Nirgends fand ich mich aber tiefer in meinem Innersten gerührt, als in der Katholischen Kirche, wo die größte, erhabenste Musik noch zu den andern Künsten tritt, das Herz gewaltsam zu bewegen. Ach, Wilhelmine, unser Gottesdienst [gemeint ist der protestantische] ist keiner. Er spricht nur zu dem kalten Verstande, aber zu allen Sinnen ein katholisches Fest. Mitten vor dem Altar, an seinen untersten Stufen, kniete jedesmal, ganz isolirt von den Andern, ein gemeiner Mensch, das Haupt auf die höheren Stufen gebückt, betend mit Innbrunst. Ihn quälte kein Zweifel, er glaubt – Ich hatte eine unbeschreibliche Sehnsucht mich neben ihm niederzuwerfen, u zu weinen – Ach, nur einen Tropfen Vergessenheit, und mit Wollust würde ich katholisch werden.34

Aber eben diesen „Tropfen Vergessenheit“ verbietet sich Kleist. Er geht nicht den Weg so vieler anderer Romantiker, die zum Katholizismus konvertieren und ihr Heil im Schoß der Kirche suchen. Gerade weil er die Versuchung zum sacrificium intellectus spürt, mobilisiert er die aufklärerischen Energien umso entschiedener.

Heinrich von Kleist

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