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5. Zur Kleistforschung
ОглавлениеDie in der älteren Kleistforschung dominierende Absolutsetzung irrationaler Größen wie „Gefühl“ und „Schicksal“ wird Kleists intellektuellem Habitus nicht gerecht. Die 1929 publizierte und das Kleistbild für Jahrzehnte bestimmende Studie von Gerhard Fricke mit dem Titel Gefühl und Schicksal bei Heinrich von Kleist48 geht von solchen irrationalistischen Absolutsetzungen aus. Kleist habe, so Frickes These, das äußere Geschehen zum „Schicksal“ dämonisiert und dagegen in existentialistischer Selbstbehauptung das reine „Gefühl“ gesetzt, das in seiner subjektiven Tiefe eine existentielle Wahrheit enthalte und untrügliche Orientierung verleihe. Für Kleist ist jedoch die äußere Wirklichkeit, obwohl er ihre Zwänge wahrnimmt und auch dem Zufall große Bedeutung beimißt, keineswegs eine unbegreifliche Schicksalsmacht, vielmehr diagnostiziert und problematisiert er sie als das historisch Gewordene und von Menschen Gestaltete. Andererseits erklärt er das „Ich“ und sein „Gefühl“ nicht für unfehlbar, sondern erkennt es oft als Quelle von Irrtümern und Versehen. Er führt es auf historische Formierungen zurück und relativiert es insofern gründlich. Noch über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus erschienen Bücher, die Frickes Schema folgten und es sogar radikalisierten, so Günter Blöckers Buch Heinrich von Kleist oder Das absolute Ich.49 Gerne sprach man auch vom „Dämonischen“ bei Kleist. Seit Beginn der Sechziger Jahre änderte sich allmählich die Blickrichtung50 , indem man nunmehr den geschichtlich interessierten und aufklärerischen Kleist in den Mittelpunkt rückte. Man erkannte jetzt auch den Wert einiger älterer Untersuchungen, die durch genaue philologische Analyse schon auf die richtige Spur geführt hatten, aber durch den irrationalistischen Mode-Trend jahrzehntelang ignoriert worden waren.
In diesem Zusammenhang erhielt die sogenannte Kant-Krise eine forschungsgeschichtliche Schlüsselposition, denn gerade für die irrationalistische Kleist-Interpretation spielte sie eine besondere Rolle. Wenn Kleist, so argumentierte man, durch die Kant-Krise an der Möglichkeit sicherer Erkenntnis durch den Verstand grundsätzlich verzweifelte, dann mußte er sich dem Gefühl als dem einzig Rettenden zuwenden, und das habe er getan, indem er es absolutsetzte. Abgesehen davon, daß die sogenannte Kant-Krise diesen Namen kaum verdient51 , hat die Forschung nachgewiesen, daß Kleist dort, wo er das „Gefühl“ verherrlicht, dieses nicht als eine letzte und rettende Instanz begreift, schon gar nicht als intuitiven Erkenntnisgrund, sondern fern aller kognitiven Qualität und haltgewährenden Substanz als unwiderstehliche Lebensmacht, so etwa bei Penthesilea als Macht der Liebesleidenschaft.52 Es geht also nicht um das Gefühl an sich als Anker der Existenz, sondern immer nur um bestimmte Gefühle. In ihrer Intensität können sie eindrucksvoll sein, aber als sicherer intuitiver Erkenntnisgrund und als Mittel zur Bewältigung der Wirklichkeit taugen sie gerade nicht. Oft führen Gefühle bei Kleist zu Irrtümern und Täuschungen, ja in Gefühlen können sich auch Vorurteile und gesellschaftliche Konventionen äußern, die unter die Schwelle des subjektiven Bewußtseins gelangt sind. Noch weniger ist das Gefühl eine verläßliche Gemeinsamkeit der Menschen. Darin zeigt sich die grundsätzliche Relativität und Bedingtheit des Gefühls. Am 15. August 1801 schreibt Kleist an Wilhelmine von Zenge: „Man sage nicht, daß eine Stimme im Innern uns heimlich u deutlich anvertraue, was Recht sei. Dieselbe Stimme, die dem Christen zuruft, seinem Feinde zu vergeben, ruft dem Seeländer zu, ihn zu braten, u mit Andacht ißt er ihn auf“.53
Unzulässig vereinfachend ist es, wenn man aus einem Brief an den Freund Rühle von Lilienstern vom 31. August 1806 den Satz herausreißt: „Folge Deinem Gefühl“, um ihn im Sinne eines absoluten, existentielle Sicherheit gewährenden Gefühls auszulegen. Der spezifische Kontext der Aufforderung „Folge Deinem Gefühl“ führt zu einem anderen Verständnis. Er lautet:
Jetzt habe ich ein Trauerspiel unter der Feder. – Ich höre, du, mein lieber Junge, beschäfftigst dich auch mit der Kunst? Es gibt nichts Göttlicheres, als sie! Und nichts Leichteres zugleich; und doch, warum ist es so schwer? Jede erste Bewegung, alles Unwillkürliche, ist schön; und schief und verschroben Alles, sobald es sich selbst begreift. O der Verstand! Der unglückseelige Verstand! Studiere nicht zu viel, mein lieber Junge. Deine Übersetzung des Racine hatte treffliche Stellen. Folge Deinem Gefühl. Was dir schön dünkt, das gib uns, auf gut Glück. Es ist ein Wurf, wie mit dem Würfel; aber es giebt nichts anderes.54
Es handelt sich hier um das ästhetische „Gefühl“ für das, was „schön“ ist, für das künstlerisch Gelungene – nicht um ein „absolutes“ Gefühl, das existentielle Sicherheit verleiht. Und selbst noch in dieser sehr eingeschränkten ästhetischen Sphäre setzt Kleist die Aufforderung, dem Gefühl zu folgen, einer Aufforderung zum Glücksspiel gleich!
Nur ein einziges Mal macht Kleist das Gefühl zum sicheren Leitfaden: im Käthchen von Heilbronn. Aber dort taucht er das Geschehen in das Fluidum des Romantisch-Märchenhaften, ja er läßt die Heldin sogar von einem Engel begleiten – als Zeichen dafür, daß er einen schönen Wunschtraum jenseits der menschlichen Wirklichkeit inszeniert. Hingegen zielen die anderen Werke auf die Ohnmacht des Gefühls, auf die Täuschungen und Illusionen, die es umso mehr hervorruft, je stärker es ist. Penthesilea vermag Achills Scheinherausforderung nicht zu durchschauen, Alkmene erliegt dem Trug des Gottes Jupiter, die Marquise von O… täuscht sich gründlich in dem Grafen, der sie vergewaltigt hat, im Zerbrochnen Krug vermag Ruprecht ganz und gar nicht gegen den täuschenden äußeren Schein ein durch innerste Gefühlssicherheit getragenes Vertrauen zu Eve zu bewahren.
Seit etwa 1980 befindet sich die Kleist-Forschung in der Spannung von entschiedener Historisierung und enthistorisierender Dekonstruktion. Die Historisierung steht unter einem doppelten Vorzeichen. Unter dem Eindruck der Konjunktur, welche die Rezeptionsgeschichte allgemein seit den programmatischen Arbeiten von Hans Robert Jauß erfuhr, zog auch die Kleist-Rezeption besondere Aufmerksamkeit auf sich. Zwar waren die Basis-Leistungen in Gestalt vor allem der wertvollen Sammlungen von Zeugnissen, die Helmut Sembdner unter den Titeln Heinrich von Kleists Lebensspuren55 und Heinrich von Kleists Nachruhm56 sowie Peter Goldammer unter dem Titel Schriftsteller über Kleist57 vorgelegt haben, schon sehr viel früher erschienen. Aber auf dieser Grundlage und unter Heranziehung meist schon älterer Untersuchungen zur Bühnengeschichte sowie neuerer Arbeiten zur Filmgeschichte von Kleists Werken gewann die Kleist-Rezeption ein ausgeprägt eigenes und aktuelles Interesse. Seinen Niederschlag fand es nicht zuletzt in der vierbändigen Kleist-Ausgabe des Deutschen Klassiker-Verlags (1987 – 1997)58 , deren Kommentar in einer für derartige Ausgaben ungewöhnlich ausführlichen Weise Wirkung und Rezeption speziell von Kleists Dramen präsentiert. Bis in allerneueste Publikationen und bis hin zu den ‚modernen‘ Kanonisierungsprozessen59 reicht diese rezeptionsgeschichtliche Orientierung.
Eine ganz anders motivierte Tendenz der Historisierung zeichnete sich etwa von 1980 bis gegen Ende des Jahrhunderts ab: in zahlreichen Untersuchungen, die ihr Forum besonders im Kleist-Jahrbuch bis zu dessen dekonstruktivistischer Wende fanden, ergriffen Historiker und rechtsgeschichtlich orientierte Juristen das Wort, um den Hintergrund auszuleuchten, vor dem Kleists Werk in den dramatischen Krisenjahren der Napoleonischen Kriege und der Preußischen Reformen entstand. Zwar konnten dabei nicht mehr so substantiell neue Ergebnisse erzielt werden wie etwa in den älteren Forschungen Richard Samuels60 , immerhin kam aber eine interdisziplinär ausgerichtete Wahrnehmungsweise zur Geltung. Die Stärke dieser Arbeiten lag weniger in der eher lockeren oder marginalen Verbindung der Fragestellung mit Kleists Werk als vielmehr, der originären Kompetenz der Autoren entsprechend, in der Darstellung der historischen Matrix. Nicht zu vergessen bleibt die fortschreitende Quellenforschung, die eine ganze Reihe von neuen, auch historisch aufschlußreichen Funden zeitigte.61
Im Zuge der sich beinahe gleichzeitig mit dem Bedürfnis nach Rückgewinnung des geschichtlichen Horizonts entwickelnden enthistorisierenden ‚Dekonstruktion‘62 wurde Kleists Werk zum bevorzugten Gegenstand antihermeneutischer Text-Lektüren. Kein anderer deutscher Dichter hat den dekonstruktivistischen Impetus so sehr befeuert wie Kleist. Dieser ebenfalls schon rezeptionsgeschichtlich relevante Befund resultiert sowohl aus bestimmten Eigenheiten von Kleists Werk wie aus dem Selbstverständnis der Anhänger der Dekonstruktion. Ansatzpunkte in Kleists Werk bieten seine ironischen und oft auch subversiven Problematisierungen geltender Normen, seine markante Thematisierung von Kontingenz sowie die in den Erzählungen von einer tiefreichenden Skepsis geprägte narrative Strategie, die vom ‚unzuverlässigen Erzähler‘ bis zur Inszenierung von perspektivisch gebrochenen und insofern immer schon relativierten Wertungs- und Deutungsmustern bei den Akteuren des dargestellten Geschehens reicht. Zwar können historische Analysen nachweisen, wie sehr diese Verfahrensweisen Kleists und auch seine entsprechenden thematischen Interessen in den von ihm intensiv rezipierten Denkformen der Aufklärung wurzeln, wie sehr sie aus dem krisenhaften Ordnungs- und Orientierungsverlust der Jahre um 1800 und nicht zuletzt aus den entgrenzenden Faszinationen der Romantik ihren irritierenden Reiz gewinnen. Aber die Analogien zu gegenwärtig aktuellen Vorstellungen, die als solche nicht in ihrer historischen Differenz reflektiert werden, haben – wie schon unter ebenfalls „antilogozentrischen“ Vorzeichen in den Zwanziger Jahren und im Radikalexistentialismus der Fünfziger Jahre – zu dem Eindruck geführt, Kleist sei in einer unmittelbaren Weise und toto modo „unser“. In der Einleitung zu einem Sammelband vorwiegend dekonstruktivistischer Abhandlungen heißt es lapidar: „Kleist ist ein Dichter der Gegenwart.“63
Diese Aktualisierung steht im Zeichen der Dekonstruktion. Man zieht poststrukturalistische Theoriebildungen von Paul de Man und Derrida heran, um sie dem Werk Kleists zu substituieren. Schon Richter Adam ist allem Anschein nach ein Dekonstruktivist. Als der Gerichtsrat Walter ihn fragt: „Habt Ihr ein Urteil schon gefaßt?“, erhält er die Antwort: „Mein Seel! / Wenn ich, da das Gesetz im Stich mich läßt, / Philosophie zu Hülfe nehmen soll, / So war’s – der Leberecht.“ Walter: „Wer?“ Adam: „Oder Ruprecht –“. Walter: „Wer?“ Adam: „Oder Lebrecht, der den Krug zerschlug.“ (V. 1080 – 1084) Bemerkenswert ist hier das postmoderne Prinzip der Beliebigkeit – auch Richter Adam weiß: anything goes. Während diese Dialogpartie aber noch keine Aufmerksamkeit gefunden hat, ist dem Krug sein Recht in einem Maße widerfahren, wie es sich Frau Marthe nicht einmal erträumen konnte. Denn er ist glücklicherweise ein zerbrochener Krug: Fragmentierung, ein Lieblingsthema der Dekonstruktion, ist angesagt, und da infolge der Krugzertrümmerung dort, wo früher ein Bild zu sehen war, sich nur noch ein Loch befindet, mithin der Signifikant auf der Strecke geblieben ist, hat sich auch das Signifikat verflüchtigt – ein Anlaß für mancherlei Spekulationen, wenn nicht gar für den literaturwissenschaftlichen Bruch mit dem „vierfachen Credo der Orthodoxie“ (Harold Bloom): der Anschauung, das Kunstwerk besitze oder erzeuge „Präsenz“ („the religious illusion“), eine bestimmte Einheit („the organic illusion“), eine bestimmte Form („the rhetorical illusion“) oder „Sinn“ („the metaphysical illusion“).64
Um Mißverständnisse zu vermeiden: Problematisiert werden sollen hier nicht philosophische Theoreme von Nietzsche über Heidegger bis zu Derrida, zu kritisieren sind vielmehr deren vordergründige, epigonale Applikationen auf literarische Texte. In den Achtziger Jahren hatte die Dekonstruktion durch ihren Bruch mit traditionellen Interpretationsmustern noch neue Wahrnehmungsmöglichkeiten eröffnet. Inzwischen aber konstituieren die meisten Dekonstruktivisten selbst eine orthodoxe Gemeinde, und dies besonders auffällig in der Kleistforschung. Dem theoretisch vertretenen Prinzip der Selbstreferentialität huldigt diese Gemeinde praktisch in einem abgehobenen ‚Diskurs‘ für Eingeweihte und in einem dekonstruktivistisch markierten Kartell, nicht zuletzt in einem Zitierkartell. Schon früh, bemerkenswerterweise auch von einem bedeutenden amerikanischen Kleistforscher, wurde der autoritative Gestus als charakteristisch diagnostiziert.65 Zu ihm gehört nicht die Argumentation, sondern die apodiktische Peroration.
Das besondere Interesse der dekonstruktivistischen Schule an Kleist wurde durch eine Leitfigur der Dekonstruktion, durch Paul de Man initiiert. Im Gefolge seines einflußreichen dekonstruktivistischen Aufsatzes: ‚Aesthetic Formalization: Kleist’s Über das Marionettentheater‘66 zeichnete sich zunächst die auffällige Konzentration auf diese alte Crux interpretum ab.67 Dabei kam es nicht nur zu Adaptionen, sondern auch zu scharfsinnigen Analysen, die dem dekonstruktivistischen Impuls eine neue Tiefenschärfe verdankten.68 Im Zuge solcher Untersuchungen zeigte sich, daß die Dekonstruktion, so lange sie nicht zu einer postmodernen Beliebigkeitspose degeneriert, eine vertiefende Reflexion der Dimensionen von Skepsis, Subversion, Normenbruch, Kritik und Ironie ermöglicht, die bereits frühere Kleist-Forschungen ein Stück weit erschlossen hatten.69 Die vielleicht interessanteste Frage in diesem Zusammenhang ist die nach dem virtuellen Umschlag eines genuin aufklärerischen, „kritischen“ und experimentellen Denkens sowie einer entsprechenden künstlerischen Verfahrensweise in ein suspensives, vielleicht sogar chaotisches Arrangement. Der Grenzwert scheint dort erreicht, wo Kleists Werk durch Inszenierung von widersprüchlichen Konstellationen, perspektivischen Brechungen, provozierend fragwürdigen Wertungen und sogar durch Implementierung von Leerstellen den Leser in Suchbewegungen treibt, die ihr Ziel nicht mehr innerhalb des Werks finden. Um in diese Grenzzone zu gelangen, bedarf es aber zuallererst einer möglichst genauen Text-Analyse, und es sollte auch nicht vergessen werden, daß Kleist mit manifestem Engagement bestimmte Ziele verfolgt hat, seien sie kritischer oder konstruktiver Art.
Methodisch bedient sich der literaturwissenschaftliche Dekonstruktivismus eines bereits stereotypisierten Repertoires, wie sich auch in der Kleist-Forschung zeigt. Erstens gibt er Komplexitäten als Inkonsistenzen aus.70 Zweitens dekontextualisiert er einzelne Elemente, um sie entweder werksprengend absolutzusetzen oder sie mittels assoziativ mobilisierter ‚Diskurse‘ dekonstruktivistisch umzukodieren.71 Damit unterliegt der Dekonstruktivismus einer methodisch umgesetzten petitio principii: Er zerreißt Textzusammenhänge, um dann anschließend festzustellen, daß der Text keinen Zusammenhang besitze. Eine dritte Methode läßt sich als hermeneutischer Kurzschluß charakterisieren: Aussagen werden von der Inhaltsebene eines Werkes, sofern sie eine semantische Affinität zu dekonstruktiven Vorstellungen – meist nur zu Vorstellungen von Destruktion – aufweisen, auf die Darstellungsebene kategorisch generalisierend übertragen. Wenn also z. B. im Verlauf einer Handlung etwas zerbricht (Marthes Krug), wenn ein „Körper“ zerrissen wird (Achill in der Penthesilea) oder von Zerstörung die Rede ist (im Erdbeben in Chili), wird dies als Zeichen dafür gewertet, daß auch der Text und sein „Sinn“ immer schon zerbrochen seien. Ein inhaltliches Element wird erst allegorisiert und dann zum Signifikanten für die ihm als Signifikat unterschobene Darstellung deklariert.72 Da nahezu jedes Werk inhaltliche Elemente solcher Art enthält, sind diesem Verfahren kaum Grenzen gesetzt, und nicht zuletzt dies hat zur Expansion des Dekonstruktivismus beigetragen. Zum manipulativen Repertoire des Dekonstruktivismus gehört viertens die Auflösung von Korrelationsgefügen mit der Absicht, relative Differenzen und operationelle Widersprüche zu absoluten Differenzen und prinzipiellen Gegensätzen zu radikalisieren, um davon ausgehend die – in diesem Fall nicht strukturelle, sondern konzeptionelle – Inkohärenz eines Werkes zu behaupten.
Abgesehen von derartigen stereotypisierten und manchmal auch unverkennbar mit einer alerten Nonchalance als Trickmuster inszenierten ‚Methoden‘ hat sich der Dekonstruktivismus zu einem eigenen Darstellungsmodus entwickelt, der implizit den wissenschaftlichen Diskurs als einen „logozentrischen“ zu dekonstruieren unternimmt. Auf den Schein fröhlicher Unwissenschaftlichkeit, wenn nicht superiorer Metawissenschaftlichkeit bedacht, bewegt er sich gleichwohl noch auf dem Kothurn beachtlicher Anmerkungsapparate. Im übrigen changiert das denkerische Konzept der Dekonstruktion in ein Verlaufsmuster, das im Gegensatz zur beharrlichen Analyse und zur fixierenden ‚Erörterung‘ als rasch gleitendes Signifikantenspiel den Leser auch um den Preis von Fehlinformationen73 in Atem hält. Bewußt inkonsistent, vorzugsweise als Collage, durch zahlreiche Theorie-Anschnitte zu souveräner Anspruchs-Attitüde stilisiert, mit permanent wechselnden Assoziationen sowie forciertem name-dropping kaleidoskopisch buntgemacht, theatralisiert diese Abhandlungsform sich selbst als ein eigenes Genre postmoderner ‚Performanz‘.