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Vorurteil und Voreiligkeit als strukturbildende Elemente

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Kleist inszeniert das aufklärerische Grundanliegen der Vorurteilskritik in strukturbildender Weise. Aus der gesellschaftlichen Ursünde der Eigentumsfixierung entspringt ein Vorurteil, das alle Verhältnisse zerrüttet – zuerst produziert es falsches Gerücht und Gerede, und schließlich artet es in Mord und Totschlag aus. Zahlreiche aufklärerische Untersuchungen hatten die verschiedenen Arten von Vorurteilen klassifiziert.15 Obenan steht das für Kleists spätere Werke besonders wichtige Vorurteil aus falscher Autoritätsgläubigkeit: praeiudicium auctoritatis; weitere Vorurteilsarten sind das Vorurteil aus zu großer Vertrauensseligkeit (praeiudicium nimiae confidentiae) und das entgegengesetzte Vorurteil aus zu großem Mißtrauen: praeiudicium nimiae diffidentiae, das zu einem Leitmotiv der Familie Schroffenstein wurde. Die „schwarze Sucht des Mißtrauens“, das „Gespenst des Mißtrauens“ (V. 1340) sucht alle heim.

Mit sämtlichen Vorurteilsarten verbindet sich, eben weil es sich um Vor-Urteile handelt, die Struktur der Voreiligkeit. Dieses generelle Charakteristikum faßten die Analytiker des achtzehnten Jahrhunderts unter einem eigenen Begriff zusammen, unter dem des ‚Vorurteils aus zu großer Voreiligkeit‘ (praeiudicium nimiae praecipitantiae). Gerade die zeitliche Qualität der Voreiligkeit eignete sich für die dramatische Gestaltung, und Kleists Grundmanöver in der Familie Schroffenstein besteht tatsächlich darin, daß er die Voreiligkeit auf zweifache Weise dramatisch umsetzt: in die Voreiligkeit des Redens, das sich zur wahnhaften Scheinrealität des Gerüchts auswächst, und in die Vor-Eiligkeit des Handelns. Was bisher in den Schriften der Aufklärung gegen die Vorurteile immer nur theoretisch abgehandelt worden war, hat Kleist dramatisch gestaltet.

Da das Vorurteil zum voreiligen Reden und Handeln hinreißt, bemächtigt es sich auch der Zufälle, und erst damit – indem es sie falsch ausdeutet oder gar zum Vorwand nimmt – werden die Zufälle zum Verhängnis. Schließlich erhält das Vorurteil die Funktion einer self-fulfilling prophecy, denn es wirkt sich auf den vorurteilshaft Betrachteten negativ aus und verändert sein Verhalten in einer Weise, die das Vorurteil zu bestätigen scheint. Im übrigen zeigt Kleist aber auch in ungemein dramatischer Manier, daß die Tat-Sphäre immer mehr eine autonome Dynamik gewinnt, denn nachdem das Vorurteil zur ersten schlimmen Tat geführt hat, verfällt alles Geschehen dem Mechanismus der Reaktion und der Rache.

Das aus der Eigentumsfixierung entstehende und sich immer mehr verfestigende Vorurteil fordert die Frage heraus, wie die Vorurteilsstruktur zu durchbrechen wäre. Kleist entwirft zwei verschiedene Möglichkeiten. Zunächst bietet es sich an, durch Kommunikation das Vorurteil zu beseitigen und damit auch seine negativen Folgen zu vermeiden. Deshalb tritt in der Gestalt des Jeronimus ein Vermittler auf. Doch mißlingt die von ihm geplante Vermittlung zwischen den Häusern Rossitz und Warwand, ja er selbst fällt seiner Vermittlungsbereitschaft zum Opfer, weil das Vorurteil schon so tief eingefressen ist, daß es nicht nur jede Kommunikation und also auch jede Vermittlung vereitelt, sondern sogar denjenigen vernichtet, der zu vermitteln sucht. Dieses Problem der Vermittlung und entsprechend die Mittlerfigur erhält für eine ganze Reihe von Kleists Werken, bis hin zum Michael Kohlhaas und zum Prinzen Friedrich von Homburg, große Bedeutung, ebenso das Problem der gelingenden oder mißlingenden Kommunikation überhaupt. In der Familie Schroffenstein ergibt sich daraus ein weiteres Leitmotiv: Immer wieder wollen diejenigen, die nicht dem Vorurteil verfallen, so vor allem der Vermittler Jeronimus und Sylvester, der Chef des Hauses Warwand, mit der anderen Partei ins Gespräch kommen. In V. 1022 sagt Sylvester: „Wenn ich nur Rupert sprechen könnte“, und fast gleichlautend in V. 1216: „wenn ich Rupert sprechen könnte“, und entsprechend berichtet der Vermittler Jeronimus auf Schloß Rossitz (V. 1718): „Sylvester will dich sprechen“, um dann noch einmal eindringlich zu versichern (V. 1733): „nur ein Gespräch“ wünsche Sylvester. Aber der völlig vom Vorurteil okkupierte Rupert geht gar nicht erst auf das Angebot ein, sondern läßt den Vermittler umbringen. Der Vorurteilsbesessene tut nicht nur nichts, um sein Vorurteil zu überwinden, er hält daran fest, um sich nicht eingestehen zu müssen, daß er im Unrecht ist. So scheitert die prinzipiell bestehende Möglichkeit, das Vorurteil durch Kommunikation aufzulösen, wenn nur einer der Kontrahenten das Gespräch verweigert.

Besonderen Rang verleiht Kleist der Liebe als der zweiten Möglichkeit, das Vorurteil zu überwinden. In der zentralen Szene (III, 1)16 treffen sich die beiden Liebenden, Ottokar aus dem Hause Rossitz und Agnes aus dem Hause Warwand, bezeichnenderweise fern von den Orten gesellschaftlicher Entfremdung, in der freien Natur. Als Träger von Namen, die ihre gesellschaftliche Identität signalisieren, sind sie allerdings doch nicht ganz frei – das vorurteilsbedingte Mißtrauen zwischen den beiden Häusern fixiert ihre Namen schon zum voraus negativ. Beide sprechen deshalb zunächst so, als seien ihnen ihre Namen unbekannt. Ottokar nennt Agnes „Maria“, um alles Störende fernzuhalten. Die Spaltung der Identität in eine verdrängte Schicht eigentlichen Wissens und in eine andere des Als-ob führt aber nicht zum Vertrauen und zur gemeinsamen Überwindung des Vorurteils, sondern erzeugt Beklemmung. Von den entfremdenden Zwängen befreien sich die Liebenden erst, als sie sich das Wissen ihrer wahren Namen gegenseitig gestehen. Dieser fundamentale Akt des Vertrauens ermöglicht erst die große Aussprache, in deren Verlauf sich Irrtum und Vorurteil auflösen.

Indem Agnes auf Ottokars Namensfrage lapidar antwortet, er sei „Ottokar von Schroffenstein“ (V. 1326), ereignet sich der entscheidende Durchbruch zum Vertrauen. Kleist gestaltete damit ein traditionelles Element des Dramas, die ‚Anagnorisis‘, in neuartiger Weise aus. Als Anagnorisis im engeren Sinn bezeichnet die Aristotelische Poetik (Kap. 11) eine Situation, in der sich zwei Personen, die sich bisher unbekannt gegenüberstanden, aufgrund bestimmter Erkennungszeichen, zu denen auch der Name gehören kann, einander erkennen oder nach langer Trennung wiedererkennen. In der Antike gehört eine solche Anagnorisis-Szene zum feststehenden Dramenrepertoire. Indem Ottokar und Agnes als Kinder aus zwei miteinander verfeindeten Häusern sich zwar kennen, aber ihre Namen verdrängen, bis sie sich dann doch in vorbehaltloser Liebe zu ihnen bekennen, steigert sich die Anagnorisis zu einer neuen Qualität. Liebe und Vertrauen heben die gesellschaftlich negative Festlegung auf.

In ihrer großen Aussprache überwinden Ottokar und Agnes dann auch vollständig die wahnhaften Feindbilder ihrer Elternhäuser. Die Liebesszene gipfelt in der Erkenntnis, daß es sich nur um Irrtümer und Vorurteile handelt. Agnes stellt fest (V. 1472f.): „O / Mein Gott, was ist das für ein Irrtum“, und Ottokar antwortet zuversichtlich (V. 1477f.): „So wie einer, / Kann auch der andre Irrtum schwinden“. Der nicht mehr von Vorurteilen getrübte Blick läßt ihn auch klar das vermeintliche Indiz als unsinnig erkennen. „Mördern“, so sagt er im Hinblick auf den tot aufgefundenen jüngeren Bruder, „Mördern, denk / Ich, müßte jedes andre Glied fast wichtger / Doch sein, als just der kleine Finger“ (V. 1482 – 84). Erst das menschlich vollkommene und reine Gefühl der Liebe führt zur Erkenntnis und vollendet die Anagnorisis. Denn Anagnorisis meint nur in engerer Bedeutung ein Sich-Erkennen oder Wieder-Erkennen von Personen, in der weiteren Bedeutung aber, wie sie Aristoteles in seiner Poetik definiert, den Übergang von einem Zustand des Nichtwissens und Nichterkennens in den des Wissens und Erkennens. Kleist gestaltete in der zentralen Szene diese Anagnorisis als Übergang vom Vorurteil, mit dem sich notwendig das Nicht-Erkennen verbindet, in einen vorurteilsfreien Zustand, der erst die Möglichkeit klarer Erkenntnis schafft. Im Handlungsverlauf allerdings vermögen Liebe, Vertrauen und Erkenntnis nichts zu bewirken, weil die Gegenkräfte den Gang der Welt bestimmen, und so kommt es zur tragischen Zuspitzung, daß gerade diejenigen, die sich vom Ungeist frei machen, ihm zum Opfer fallen müssen.

Kleist verlieh dem Geschehen in der zentralen Szene das Pathos des Symbolischen. Noch bevor sich die beiden Liebenden einander rückhaltlos offenbaren, reicht Ottokar Agnes eine Schale mit Quellwasser. Indem Agnes die Feindschaft zwischen den beiden Häusern bedenkt, kommt ihr der Verdacht, es könnte Gift sein; dennoch trinkt sie aus der Schale, sie riskiert sich in ihrer Liebe ganz und wird dabei inne, daß es sich nicht um Gift handelt. Der Trank reinen Wassers, den sie von Ottokar entgegennimmt, symbolisiert das natürliche, reine Gefühl, das die beiden Liebenden füreinander hegen. Diese Szene steht in einem markant kontrastiven Bezug zu der Abendmahl-Szene am Beginn des Dramas, wo das kirchliche Abendmahl in der Rossitzer Schloßkapelle den Haß befeuert. Ganz dem Geist der Aufklärung entsprechend wird die befleckte institutionelle Religion, die sich auf Jenseitiges ausrichtet und in dessen Namen das Diesseits mißachtet oder verkennt, durch eine ‚natürliche‘ Religion abgelöst: ein Bekenntnis zur Natur und zum menschlich-natürlichen Gefühl.

Heinrich von Kleist

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