Читать книгу Big Ideas. Das Mathematik-Buch - John Farndon - Страница 4
ОглавлениеEINLEITUNG
Die Anfänge der Mathematik liegen in der Frühgeschichte, als die Menschen begannen, Dinge zu zählen und zu messen. Dabei erkannten sie Muster und Regeln in den Vorstellungen von Zahlen, Maßen und Formen. Sie entdeckten die Prinzipien der Addition und Subtraktion – wenn man etwa zwei Dinge (ob Steine, Beeren oder Mammuts) zu zwei weiteren hinzufügt, hat man stets vier Dinge. Solche Gedanken erscheinen uns heute offensichtlich, waren damals aber tiefgründige Einsichten. Sie zeigen, dass die Geschichte der Mathematik nicht nur eine Geschichte der Erfindungen, sondern auch der Entdeckungen, ist. Zwar waren es menschliche Neugier und Intuition, die mathematische Grundsätze erkannten, und der Erfindungsreichtum lieferte später Methoden zur Notation (der Beschreibung durch Symbole) sowie Manipulation, aber die Prinzipien selbst sind nicht menschengemacht. 2 + 2 = 4 ist eine Tatsache, die unabhängig vom Menschen wahr ist. Die Gesetze der Mathematik sind wie die der Physik universell, ewig und unveränderlich. Als Mathematiker erstmals zeigten, dass die Innenwinkelsumme eines Dreiecks in der Ebene 180 ° ist, war das nicht ihre Erfindung. Sie hatten lediglich eine Tatsache entdeckt, die immer schon wahr war und ewig wahr bleiben wird.
»Es ist unmöglich, Mathematiker zu sein, ohne die Seele eines Dichters zu haben.«
Karl Weierstraß Deutscher Mathematiker zitiert von Sofja Kowalewskaja Russische Mathematikerin Brief, Herbst 1890
Frühe Anwendungen
Die Entdeckung der Mathematik begann in der Frühgeschichte mit der Notwendigkeit, Dinge zu zählen. Im einfachsten Fall legte man Strichlisten auf Knochen oder Holzstäben an – ein einfacher, aber zuverlässiger Weg, die Anzahl von Dingen festzuhalten. Später wurden den Zahlen Namen und Symbole zugeordnet, und die ersten Zahlensysteme entstanden, die auch Operationen wie hinzufügen oder wegnehmen von Mengen ermöglichten, also die einfachsten Rechenregeln.
Als die Jäger und Sammler Handel trieben, mit dem Ackerbau sesshaft und die Gesellschaften komplexer wurden, stellten Rechenregeln und Zahlensysteme unverzichtbare Hilfsmittel für alle Geschäftsvorgänge dar. Für den Handel, die Inventur und die Besteuerung von nicht zählbaren Gütern wie Öl, Getreide oder Grundstücken wurden Messsysteme entwickelt, die Größen wie Gewicht oder Länge einen numerischen Wert zuwiesen. Berechnungen wurden komplexer, und das Konzept der Multiplikation und Division wurde aus der Addition und Subtraktion abgeleitet, um damit etwa Grundstücksflächen zu berechnen.
In den frühen Zivilisationen wurden die neuen Entdeckungen, insbesondere die Messung von Objekten im Raum, die Grundlage der Geometrie, in der Architektur und anderen Handwerken anwendbar. Dabei erkannte man einige Muster, die sich als nützlich erwiesen. Braucht ein Baumeister etwa einen rechten Winkel, kann er ihn einfach (aber genau) mit einem Dreieck der Seitenlängen drei, vier und fünf Einheiten erhalten. Ohne derartige genaue Hilfsmittel und Kenntnisse hätte man die Straßen, Kanäle, Zikkurate und Pyramiden Mesopotamiens und Ägyptens nicht bauen können.
Als man neue Anwendungen der mathematischen Entdeckungen vor allem in der Astronomie, aber auch der Navigation, Buchhaltung, im Steuerwesen und vielen anderen Bereichen fand, tauchten weitere Muster und Ideen auf. Die einzelnen antiken Kulturen trieben die Mathematik durch dieses Wechselspiel zwischen Anwendung und Entdeckung voran, entwickelten aber auch eine Faszination für mathematische Konzepte an sich, die »reine Mathematik«. Ab Mitte des ersten Jahrtausends v. Chr. kam die reine Mathematik in Griechenland und etwas später in Indien und China auf. Sie beruht auf dem Erbe praktischer Pioniere: den Baumeistern, Astronomen und Entdeckern einstiger Kulturen.
Zwar waren diese frühen »reinen« Mathematiker weniger an den praktischen Anwendungen interessiert, dennoch beschränkten sie sich nicht auf Mathematik. Bei der Erforschung der Eigenschaften von Zahlen, Formen und Methoden entdeckten sie allgemeingültige Regeln und Muster, die metaphysische Fragen über die Natur des Kosmos aufwarfen oder sogar vermuten ließen, dass diese Muster mystische Eigenschaften hätten. Daher wurde die Mathematik oft als ergänzende Disziplin zur Philosophie gesehen. Viele der großen Mathematiker waren auch Philosophen, und umgekehrt. Die Verbindung der beiden Disziplinen besteht auch heute noch.
»Geometrie ist Erkenntnis des immer unveränderlichen Seins.«
Platon Antiker griechischer Philosoph Politeia (»Der Staat«), Buch VII
Arithmetik und Algebra
Damit begann die Geschichte der Mathematik, wie wir sie heute kennen. Diese Entdeckungen, Vermutungen und Einsichten von Mathematikern bilden einen Großteil dieses Buchs. Neben einzelnen Denkern und deren Ideen beschreibt es einen sich stetig fortentwickelnden Gedankengang in der Geschichte der Gesellschaften und Kulturen. Er reicht von den antiken Zivilisationen Mesopotamiens und Ägyptens über Griechenland, China, Indien ins islamische Reich bis zum Europa der Renaissance und schließlich zur modernen Welt. Im Laufe der Zeit teilte man die Mathematik dabei in mehrere separate, aber miteinander verknüpfte Teilgebiete auf.
Das früheste und in vielerlei Hinsicht das fundamentalste Teilgebiet nennen wir heute Arithmetik, nach dem griechischen Wort arithmos (»Zahl«). Im einfachsten Fall geht es um das Abzählen und um die Zuordnung numerischer Werte und auch um Rechenregeln, also Operationen wie Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division, die man auf Zahlen anwenden kann. Aus dem einfachen Zahlbegriff entstand das Studium ihrer Eigenschaften und des Konzepts der Zahlen selbst – die Zahlentheorie. Bestimmte Zahlen – etwa die Konstanten π und e, die Primzahlen oder die irrationalen Zahlen faszinierten die Mathematiker seit jeher. Daher studierte man sie umso ausgiebiger.
Ein weiteres großes Teilgebiet ist Algebra, die sich mit der Struktur und Ordnung der Mathematik beschäftigt und damit für jedes andere Gebiet relevant ist. Die Algebra unterschiedet sich von der Arithmetik u. a. durch die Verwendung von Symbolen, etwa Buchstaben, für Variablen (unbekannte Zahlen). Einfach gesagt erforscht die Algebra die zugrundeliegenden Regeln, wie die Symbole verwendet werden, etwa in Gleichungen. Methoden zur Lösung von sogar ziemlich komplizierten quadratischen Gleichungen entdeckten in der Antike schon die Babylonier. Aber die Begründer der Algebra waren mittelalterliche Gelehrte im goldenen Zeitalter des Islam. Sie verwendeten Symbole, um Rechnungen zu vereinfachen. Aus ihrem Wort al-Dschabr (wörtlich: »die Einrenkung [gebrochener Teile]«) entstand der Name Algebra. Neuere Entwicklungen abstrahieren selbst die Strukturen der Algebra, genannt »abstrakte Algebra«.
Geometrie und Analysis
Ein weiterer großer Teilbereich, die Geometrie, beschäftigt sich mit dem Konzept des Raums und der Beziehung von Objekten in diesem: also ihrer Form, Größe und Lage. Die Geometrie entstand aus dem Problem, physische Dimensionen zu beschreiben, etwa von Dingen in der Technik und Bauprojekten, der Vermessung und Verwaltung von Land oder bei astronomischen Beobachtungen für die Navigation und die Kalenderberechnung. Ein Zweig der Geometrie, die Trigonometrie (das Untersuchen von Dreiecken), erwies sich als besonders nützlich. Wohl wegen ihres konsequent logischen Aufbaus galt die Geometrie in vielen antiken Kulturen als Grundstein der Mathematik. Sie lieferte die Methoden der Problemlösung und Beweisführung in anderen Teilgebieten.
»In der Mathematik muss die Kunst, eine Frage zu stellen, höher bewertet werden als die Kunst, diese Frage zu lösen.«
Georg Cantor Deutscher Mathematiker Dissertation, Berlin 1867
Das galt besonders für das antike Griechenland, wo Geometrie und Mathematik fast als Synonyme galten. Das Erbe der großen Mathematiker wie Pythagoras, Platon und Aristoteles wurde von Euklid gefestigt. Seine Prinzipien der Mathematik, basierend auf einer Kombination von Geometrie und Logik, bildeten etwa zwei Jahrtausende lang das anerkannte Fundament der Disziplin. Im 19. Jahrhundert schuf man Alternativen zur euklidischen Geometrie und entwickelte neue Bereiche wie die Topologie, die nicht nur Eigenschaften von Objekten im Raum, sondern den Raum selbst erforscht.
Seit der Antike hatte sich die Mathematik mit statischen Situationen beschäftigt oder Dinge zu einem festen Zeitpunkt beschrieben. Es gab aber noch kein Mittel, um kontinuierliche Veränderungen zu messen oder zu berechnen. Die Infinitesimalrechnung, die im 17. Jahrhundert von Gottfried Leibniz und Isaac Newton unabhängig voneinander entwickelt wurde, lieferte Antworten. Ihre zwei Teilgebiete, die Differenzial- und Integralrechnung, analysierten Merkmale wie die Steigung oder die Fläche unter einer Kurve. Damit konnten sie Veränderungen beschreiben.
Die Entdeckung der Infinitesimalrechnung begründete die Analysis, die im 20. Jahrhundert besonders wichtig für etwa die Quantenmechanik oder Chaostheorie wurde.
Neue Grundlagen
Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert entstand ein neuer Teilbereich: die Grundlagen der Mathematik. Dieses Gebiet begutachtete die Verbindung zwischen Philosophie und Mathematik. Wie schon Euklid im 3. Jahrhundert v. Chr. wollten Gelehrte wie Gottlob Frege und Bertrand Russell die logischen Grundlagen mathematischer Prinzipien entdecken. Das regte eine Neubeurteilung der Natur der Mathematik selbst an: Wie funktioniert sie und wo sind ihre Grenzen? Die Erforschung der grundlegenden mathematischen Konzepte ist wohl das abstrakteste Teilgebiet, eine Art von Metamathematik, jedoch eine unerlässliche Ergänzung jedes anderen Gebiets der modernen Mathematik.
Neue Technik, neue Ideen
Die verschiedenen Gebiete der Mathematik – Arithmetik bzw. Zahlentheorie, Algebra, Geometrie, Analysis, Logik, Wahrscheinlichkeitsrechnung und Statistik – sind um ihrer selbst Willen würdige Studiengebiete, und das gängige Bild der akademischen Mathematik ist die nahezu unbegreifliche Abstraktion. Aber meist haben sie auch praktische Anwendungen, und umgekehrt treiben Fortschritte in Wissenschaft und Technik das mathematische Denken voran.
Ein wichtiges Beispiel ist das symbiotische Verhältnis zwischen Mathematik und Computertechnik. Computer wurden ursprünglich als Werkzeug für Routinearbeiten entwickelt: die Berechnung von Tabellen für Mathematiker oder Astronomen. Doch ihre Konstruktion erforderte neue mathematische Denkmodelle. Daher waren es Mathematiker ebenso wie Techniker, die die Grundlagen von erst mechanischen und dann elektronischen Rechenmaschinen lieferten, die dann wieder Hilfsmittel zur Entdeckung neuer Konzepte waren. Zweifellos werden auch in Zukunft neue Anwendungen für mathematische Lehrsätze gefunden – und da noch zahllose Probleme ungelöst sind, ist auch für mathematische Entdeckungen kein Ende in Sicht.
Die Geschichte der Mathematik ist die Erkundung von Teilgebieten und Entdeckung neuer. Aber sie ist auch die Geschichte der Entdecker, der Mathematiker, die ein festes Ziel hatten, etwa ein ungelöstes Problem zu lösen oder in unbekannten Territorien nach neuen Ideen zu suchen. Oder andere, die bei ihrer Arbeit über eine neue Idee stolperten und sie verfolgten, um zu sehen, wo sie hinführt. Manche Entdeckungen waren bahnbrechende Erkenntnisse, die den Weg in neue, unbekannte Bereiche öffneten, andere waren von »Zwergen auf den Schultern von Riesen«: die Fortentwicklung oder Anwendung der Arbeiten früherer Denkergenerationen.
Dieses Buch stellt viele der »großen Ideen« der Mathematik von den frühesten Entdeckungen bis zur Gegenwart vor und erklärt in verständlicher Sprache, wo sie herkommen, wer sie entdeckte und warum sie wichtig sind. Einige sind wohl vielen Lesern bekannt, andere nicht. Mit dem Verständnis dieser Ideen und der Menschen und Gesellschaften, die sie entdeckten, können wir nicht nur die Allgegenwart und Nützlichkeit der Mathematik würdigen, sondern auch die Eleganz und Schönheit, die Mathematiker in ihr sehen.
»Richtig betrachtet besitzt die Mathematik nicht nur Wahrheit, sondern erhabene Schönheit.«
Bertrand Russell Britischer Philosoph und Mathematiker The Study of Mathematics, 1919