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1.Anderer Mensch

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37Tatobjekt der §§ 211 ff. ist nach ganz h. M. stets ein Anderer, auch wenn dies der Wortlaut nicht explizit zum Ausdruck bringt85. Aus diesem Grund ist zunächst die versuchte Selbsttötung nicht strafbar86. Auch kann die Teilnahme an einer (vollendeten oder versuchten) Selbsttötung mangels vorsätzlicher rechtswidriger Haupttat i. S. d. §§ 26, 27 strafrechtlich nicht erfasst werden87.


38Erforderlich ist ferner, dass sich die Tat gegen menschliches Leben richtet. Insoweit ist die Frage nach Beginn und Ende des Lebensschutzes angesprochen. Nur die Phase zwischen Geburt und Tod wird von §§ 211 ff. geschützt. Und nur in dieser Phase ist auch fahrlässiges Verhalten unter Strafe gestellt.

39a) Geschützt wird von § 212 nur das geborene menschliche Leben. Nicht erfasst werden daher Eingriffe im Wege der Gentechnik und Fortpflanzungsmedizin, wie z. B. Experimente an Embryonen oder die künstliche Veränderung von Keimbahnzellen. Strafrechtliche Regelungen über derartige Verhaltensweisen (missbräuchliche Anwendung von Fortpflanzungstechniken, missbräuchliche Verwendung menschlicher Embryonen, verbotene Geschlechtswahl, eigenmächtige Befruchtung, eigenmächtige Embryoübertragung und künstliche Befruchtung nach dem Tode, künstliche Veränderung menschlicher Keimbahnzellen, Klonen, Chimären- und Hybridbildung) sind im Embryonenschutzgesetz enthalten88.

40aa) Im Hinblick auf die Abgrenzung zum Schwangerschaftsabbruch i. S. d. § 218 ist die Frage nach dem Beginn des menschlichen Lebensschutzes angesprochen. § 212 schützt das Rechtsgut Leben erst ab der Geburt, d. h. bei gewöhnlichem Geburtsverlauf mit dem Einsetzen der Eröffnungswehen89. Bei operativer Entbindung soll dagegen auf die Vornahme des die Eröffnungsperiode ersetzenden ärztlichen Eingriffs abzustellen sein90. Bei einem – vor Beginn der Eröffnungswehen vorgenommenen – Kaiserschnitt beginnt die Geburt und somit der Anwendungsbereich der §§ 211 ff. in objektiver Hinsicht mit der Eröffnung des Uterus, sofern (subjektiv) zum Zweck der Beendigung der Schwangerschaft durch Entnahme des Kindes aus dem Mutterleib agiert wird91. Auf den vollständigen Austritt des Kindes aus dem Mutterleib und damit die „Vollendung“ der Geburt kommt es – anders als bei § 1 BGB – nicht an92. Systematisch lässt sich dies damit begründen, dass die inzwischen mit dem 6. StrRG aufgehobene Vorschrift über die Kindstötung (§ 217 a. F.) mit ihrem Wortlaut „in oder gleich nach der Geburt“ auch den Geburtsvorgang mit in das Tötungsdelikt einbezog, so dass eine Tötung zu diesem Zeitpunkt keinen Schwangerschaftsabbruch mehr darstellte93. Daran wollte der Gesetzgeber mit dem 6. StrRG nichts ändern (historische Auslegung), da er die Auffassung vertrat, dass diese Fälle nunmehr über §§ 212, 213 sachgerecht erfasst werden können94.

41bb) Das ungeborene Leben, d. h. die Leibesfrucht der Schwangeren wird (argumentum e contrario) „nur“ von § 218 und damit schwächer geschützt95. So wird etwa die fahrlässige Abtötung der Leibesfrucht nicht von § 218 erfasst, da insoweit Vorsatz erforderlich ist96. Die Straflosigkeit nur fahrlässiger Verhaltensweisen lässt sich u. a. damit begründen, dass ansonsten die Lebensführung der Schwangeren unverhältnismäßig eingeschränkt wäre, weil sie alle mit Risiken verbundenen Tätigkeiten zum Schutz der Leibesfrucht unterlassen müsste97. Da dieses Privileg nicht auf die Schwangere begrenzt ist, entstehen allerdings bei Dritten problematische Strafbarkeitslücken.

Bsp.: Die schwangere T treibt entgegen den Ratschlägen ihres Arztes exzessiv Sport. Bei einer Fahrt mit dem Mountainbike stirbt die Leibesfrucht. – T hat sich nicht strafbar gemacht, da zum Zeitpunkt der Tathandlung noch kein menschliches Leben i. S. d. § 222 gegeben war98. Das ungeborene Leben wird zwar gem. § 218 geschützt, nicht jedoch gegen fahrlässige Verhaltensweisen.

42cc) Für die Frage, ob §§ 211 ff. in Abgrenzung zu § 218 zur Anwendung gelangen, ist im Übrigen entsprechend dem in § 8 normierten Grundsatz der Zeitpunkt der schädigenden Einwirkung (Tathandlung) und nicht der Zeitpunkt des Erfolgseintritts maßgeblich99. Kommt demgemäß aufgrund eines Schwangerschaftsabbruchs ein Kind zur Welt, welches nicht überlebensfähig ist, so greifen die Tötungsdelikte nicht ein100. Nicht entscheidend ist dabei, ob der Tod „alsbald“ oder „unmittelbar“ nach der Geburt eintritt101, weil es nicht darauf ankommen kann, wie lange Ärzte das Leben des Neugeborenen verlängern können102. Auch pränatale medizinische Behandlungsfehler des Arztes mit postnatalen Folgen werden daher nicht von § 222 – und im Übrigen auch nicht von § 229 – erfasst103.

Bsp.: Auf Grund eines Behandlungsfehlers des Arztes T kommt es zu einer Frühgeburt. Das nicht überlebensfähige Kind stirbt. – Da die Tathandlung vor der Geburt lag, scheidet eine Strafbarkeit wegen Tötungsdelikten aus. § 218 greift ebenfalls nicht ein, da T lediglich fahrlässig handelte. Man könnte allenfalls daran denken, eine Strafbarkeit des T wegen fahrlässiger Körperverletzung gem. § 229 an der Mutter anzunehmen104. Dies ist jedoch abzulehnen, weil andernfalls die den Täter begünstigende Regelung des § 218, der lediglich vorsätzliche Verhaltensweisen erfassen soll, unterlaufen würde. Richtigerweise entfaltet § 218 daher Sperrwirkung hinsichtlich solcher körperlicher Beeinträchtigungen der Mutter, die mit der Abtötung der Leibesfrucht zwingend verbunden sind105. Überlebt das Kind in solchen Fällen zwar, erleidet es aufgrund des Behandlungsfehlers jedoch Gesundheitsschäden, so ist auch eine Strafbarkeit nach § 229 zu verneinen, weil diese Vorschrift ebenfalls voraussetzt, dass das Angriffsobjekt zum Zeitpunkt der Tathandlung ein anderer Mensch ist.

43Die Straflosigkeit solcher Einwirkungen mit schweren Folgen unter Verletzung von Berufspflichten der Ärzte und ihres Hilfspersonals mögen rechtspolitisch zwar bedenklich sein. Diese Strafbarkeitslücken können letztlich aber nur durch den Gesetzgeber geschlossen werden106. Eine abweichende Auslegung der Tötungsdelikte wertet das BVerfG angesichts der Wortlautgrenze als verbotene Analogie zu Lasten des Täters und damit als Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG107.

44dd) Anders liegen Fälle, bei denen zu der pränatalen Handlung eine weitere schädigende Handlung nach der Geburt hinzukommt. Weil mit der zweiten Handlung auch eine Einwirkung auf einen anderen Menschen vorgenommen wird, ist hinsichtlich dieser Handlung der Anwendungsbereich der Tötungsdelikte eröffnet. Dies gilt im Hinblick auf den absoluten Lebensschutz auch für Sachverhalte, in denen ein nicht lebensfähiges Kind geboren wird.

Bsp.:108 Die schwangere T öffnet zur Abtreibung mit einer Stricknadel die Fruchtblase. Bald darauf treten die Wehen ein und es kommt ein Kind zur Welt, das jedoch nicht lebensfähig ist. T drückt dieses auf eine Matratze, bis sie keine Regungen mehr spürt. – Der BGH vertrat hier die Ansicht, dass in Fällen, in denen ein lebendes Kind vorzeitig geboren und alsbald danach gewaltsam getötet wird, vollendeter Schwangerschaftsabbruch in Tateinheit mit einem vollendeten Tötungsdelikt vorliegt109. Dem ist aber nach den dargestellten Grundsätzen zu widersprechen: Hinsichtlich der Abtreibungshandlung (Öffnen der Fruchtblase) liegt nur ein untauglicher Versuch gem. §§ 218 Abs. 1 und 4, 22, 23 vor, da die Abtötung der Leibesfrucht nicht gelungen ist, vielmehr ein lebendes Kind geboren wurde. Der Versuch ist gem. § 218 Abs. 4 Satz 2 (häufig übersehen!) für die Schwangere aber nicht strafbar. Es verbleibt demnach eine vollendete Tötung, da die weitere Tathandlung – das Drücken des Kindes auf die Matratze – sich bereits gegen einen lebenden Menschen richtete110. Dass das Kind lebensunfähig war, ist aufgrund des absoluten Lebensschutzes unerheblich, da zum Zeitpunkt der Einwirkung ein geeignetes Tatobjekt vorlag und der Tod auf dieser Einwirkung beruhte. Insoweit ist zu beachten, dass bereits jede Verkürzung des Lebens den Tatbestand verwirklicht111. Hypothetische Erwägungen – dass das Kind lebensunfähig war und ohnehin gestorben wäre – bleiben nach allgemeinen Grundsätzen der Kausalitätslehre außer Acht112.

45b) Das Leben endet mit dem Tod. Früher hat man auf den sog. klinischen Tod abgestellt (Stillstand von Atmung und Kreislauf). Dieses Kriterium ist jedoch im Laufe der Zeit aufgrund des medizinischen Fortschritts fraglich geworden. Denn Atmung und Kreislauf können künstlich in Gang gehalten werden113. Nach überwiegender Ansicht soll der Organtod des Gehirns, d. h. das Erlöschen aller Gehirnfunktionen entscheidend sein, weil dieser Vorgang stets irreversibel ist; Einzelheiten sind freilich streitig114. Zur Begründung und Präzisierung hierfür kann die Regelung des § 3 Abs. 2 Nr. 2 Transplantationsgesetz angeführt werden. Demnach ist die Entnahme von Organen unzulässig, wenn „nicht vor der Entnahme bei dem Organ- oder Gewebespender der endgültige, nicht behebbare Ausfall der Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms nach Verfahrensregeln, die dem Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft entsprechen, festgestellt ist.“

Bsp.: Bei O, dessen Atmung und Kreislauf nach einem schweren Verkehrsunfall durch ein Beatmungsgerät künstlich in Gang gehalten werden, tritt der Organtod des Gehirns ein. – Das Abschalten des Beatmungsgeräts – ggf. nach einer Organtransplantation – durch Arzt A verwirklicht nicht mehr den Tatbestand des § 212 (§ 13).

46c) Der strafrechtliche Schutz nach Eintritt des Todes wird partiell durch § 168 (Störung der Totenruhe) sowie in Einzelfällen auch über Eigentumsdelikte (§§ 242, 246, 303) gewährleistet.

Bsp.: 1974 wurde Ulrike Meinhof wegen versuchten Mordes zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Sie nahm sich im Jahre 1976 in der Justizvollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim das Leben. Die Leiche wurde anschließend obduziert und dabei das Gehirn entnommen. Professor P an der Universitätsklinik U wurde beauftragt, das Gehirn zu begutachten, um die Todesursache festzustellen. Das Gehirn wurde P übergeben, für die Zwecke der Untersuchung in Scheiben zerteilt und zur Verwahrung in Formalinlösung eingelegt. P beschloss im Jahre 1994 zusammen mit seinem Kollegen K, eine wissenschaftliche Untersuchung durchzuführen. Dazu übergab P das in Universitätsräumen verwahrte Gehirn dem K.

47Da es sich bei dem Gehirn um Teile des Körpers eines verstorbenen Menschen handelt, kommt eine Strafbarkeit wegen Störung der Totenruhe gem. § 168 Abs. 1 Var. 1 in Betracht. Streitig ist insoweit, ob Leichenteile, die bei einer Obduktion entnommen werden und nicht zur gemeinsamen Bestattung mit der Leiche bestimmt sind, überhaupt taugliche Tatobjekte sind. Überwiegend wird dies verneint, da § 168 nicht die Leiche selbst, sondern nur die Totenruhe bzw. die Totenverehrung schützen soll115. Selbst wenn man die gegenteilige Auffassung vertritt, scheitert die Strafbarkeit aber daran, dass die Körperteile nicht aus dem Gewahrsam des Berechtigten weggenommen wurden, da die Angehörigen zu diesem Zeitpunkt kein tatsächliches Obhutsverhältnis über die Leiche besaßen116. Was eine Strafbarkeit gem. § 242 wegen Diebstahls bzw. gem. § 246 wegen Unterschlagung anbelangt, so ist zu beachten, dass nach überwiegender Ansicht Leichenteile zwar als Sachen angesehen werden117. Diese waren für P jedoch nicht fremd, da nach dem Tod eines Menschen dessen Körper grundsätzlich herrenlos ist118. An Körperteilen kann folglich kein Eigentum mehr begründet werden, es sei denn, diese sind ausnahmsweise für den Rechtsverkehr bestimmt119. Damit scheidet eine Strafbarkeit gem. § 242 bzw. § 246 aus. Aus demselben Grund kommt auch eine etwaige Strafbarkeit des K gem. § 303 nicht in Betracht, wenn bei weiteren Untersuchungshandlungen Substanzeingriffe vorgenommen werden. Je nach weiterer Ausgestaltung des Falles kommen bei P jedoch § 133 (Verwahrungsbruch) und § 136 (Verstrickungsbruch) in Betracht.

Strafrecht - Besonderer Teil I

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