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III.Tatbestand 1.Kasuistik der Mordmerkmale und lebenslange Freiheitsstrafe

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65Problematisch ist der Tatbestand des Mordes vor allem deshalb, weil er sich nach der gesetzgeberischen Konzeption durch eine starre Kombination von abschließender Kasuistik der Mordmerkmale mit zwingend vorgesehener lebenslanger Freiheitsstrafe auszeichnet186.

66a) Im Hinblick auf das verfassungsrechtlich verankerte Schuldprinzip (Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 3 GG) ist diese Ausgestaltung bedenklich. Denn zweifelsfrei wäre sie nur, wenn die lebenslange Freiheitsstrafe stets bei Vorliegen eines vom Gesetz genannten Mordmerkmals verhältnismäßig wäre. Dies ist aber keineswegs so. Denn auch bei Verwirklichung eines Mordmerkmals kann der Fall im Unrechts- und Schuldgehalt so gelagert sein, dass die Verhängung der lebenslangen Freiheitsstrafe unverhältnismäßig wäre. Gegenüber den §§ 212, 213 mit einer Strafrahmenspannweite von einem Jahr bis zu fünfzehn Jahren Freiheitsstrafe liegt zudem ein erheblicher „Sanktionensprung“ vor187. Auch ist in diesem Zusammenhang zu beachten, dass Mord gem. § 78 Abs. 2 – anders als Totschlag – nicht verjährt. Eine gewisse Abmilderung wird lediglich durch § 57a erreicht, indem die Korrektur der absoluten Strafe in das Strafvollstreckungsrecht verlagert wird188. Demnach setzt das Gericht die Vollstreckung des Restes einer lebenslangen Freiheitsstrafe zur Bewährung aus, wenn fünfzehn Jahre der Strafe verbüßt sind und nicht die besondere Schwere der Schuld189 des Verurteilten die weitere Vollstreckung gebietet. Die besondere Schwere der Schuld ist schon im Strafurteil durch das erkennende Gericht (und nicht erst durch das Vollstreckungsgericht) festzustellen190. Auf dieser zweifelhaften Verknüpfung der Mordmerkmale mit der lebenslangen Freiheitsstrafe beruhen fast alle im Zusammenhang mit der Auslegung der Mordmerkmale diskutierten Probleme.

Bsp:191 Der gewalttätige und trunksüchtige Ehemann E misshandelt und quält seine Frau F über Jahre hinweg. Diese ist völlig verzweifelt und hegt auch Gedanken an eine Selbsttötung. Eines Tages tötet sie E im Schlaf, um der hoffnungslosen Lage zu entkommen.

67Da der Schlafende seine Arglosigkeit mit in den Schlaf nimmt192, liegt eine heimtückische Tötung seitens der F vor. Eine Rechtfertigung nach § 32 scheidet aus, da zum Zeitpunkt der Tötung kein gegenwärtiger Angriff des E vorlag (Stichwort: keine Präventivnotwehr); auch eine analoge Anwendung des § 32 StGB („notwehrähnliche Lage“)193 ist abzulehnen194. Man muss sehen, dass die sehr weitgehenden Eingriffsbefugnisse der Notwehr nur in akut zugespitzten Situationen gerechtfertigt sind und ansonsten das Merkmal der Gegenwärtigkeit in § 32 StGB entwertet würde195. Ebenso ist eine analoge Anwendung des § 228 BGB, bei dem eine drohende Gefahr genügt, zu verneinen196, weil sich die auf Tier- und Sachgefahren zugeschnittene Spezialregelung nicht ohne Wertungswidersprüche auf Angriffe durch Menschen übertragen lässt197. § 34 erfasst zwar auch eine Dauergefahr, rechtfertigt jedoch nicht die Tötung eines anderen Menschen. F kann aber ggf. – was von den Umständen des Einzelfalls abhängt – gem. § 35 entschuldigt sein, falls keine milderen Mittel zur Gefahrenabwehr existierten. Stehen aber andere Mittel (etwa Einschalten staatlicher Behörden) zur Verfügung, ist die Tat auch schuldhaft begangen. Die Strafzumessungsregel des § 213 greift nicht ein, da diese nur bei § 212, nicht aber bei § 211 zur Anwendung gelangt. Da hier jedoch ein Fall gegeben ist, der „nahe“ an einer Rechtfertigung bzw. Entschuldigung liegt und daher der Unrechts- und Schuldgehalt der Tat deutlich vermindert ist, wäre die Verhängung der lebenslangen Freiheitsstrafe nicht mehr verhältnismäßig198. Es bedarf demnach zur Wahrung des Schuldprinzips einer Korrektur der gesetzlichen Lösung – sei es durch Verneinung des Mordmerkmals der Heimtücke, sei es durch die Gewährung einer Strafmilderung trotz Bejahung einer Strafbarkeit wegen Mordes199.

Hinweis zur Fallbearbeitung: In den sog. Haustyrannenfällen sind zunächst immer sorgfältig Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe zu prüfen, bevor Korrekturen beim Mordtatbestand diskutiert werden200.

68b) Ohne eine Reform durch den Gesetzgeber bleibt für den Rechtsanwender (und damit auch den Klausurbearbeiter) lediglich die Möglichkeit, selbst Korrekturen im Wege der Auslegung vorzunehmen, um Ergebnisse zu vermeiden, die dem verfassungsrechtlichen Schuldprinzip widersprechen. Es stellt sich dabei die Frage, ob diese Korrekturen auf Tatbestandsseite bei den Mordmerkmalen oder erst auf Rechtsfolgenseite durch eine Milderung der lebenslangen Freiheitsstrafe vorzunehmen sind201.

69aa) Teilweise wird speziell für die Heimtücke eine Tatbestandslösung dergestalt vertreten, dass das Mordmerkmal überhaupt nur verwirklicht sein soll, wenn ein verwerflicher Vertrauensbruch vorliegt202. Dem ist jedoch zu widersprechen, weil der Begriff des Vertrauens zu konturenlos ist und ansonsten besonders hinterhältige Angriffe mangels einer Vertrauensbeziehung zwischen Täter und Opfer nicht erfasst werden könnten203.

70Andere Stimmen im Schrifttum gehen hingegen davon aus, dass zwar ein Mordmerkmal verwirklicht sein könne, dies für sich genommen aber noch nicht zur Anwendung des Tatbestandes des § 211 führe. Vielmehr müsse im Einzelfall geprüft werden, ob die Tat insgesamt als besonders verwerflich zu bewerten sei. Nach einer Auffassung soll dabei dem Gericht die Möglichkeit offen stehen, trotz Verwirklichung eines Mordmerkmals ausnahmsweise die besondere Verwerflichkeit der Tat im Wege einer Gesamtwürdigung von Tat und Täter und damit den Tatbestand des § 211 zu verneinen (Lehre von der negativen Typenkorrektur)204. Nach anderer Auffassung soll stets eine Gesamtwürdigung von Tat und Täter erforderlich sein, die positiv zur Feststellung einer besonderen Verwerflichkeit der Tötung und damit zur Anwendung des Mordtatbestandes führt (Lehre von der positiven Typenkorrektur)205. Gegen derartige Lösungsansätze lässt sich jedoch anführen, dass sie zu unbestimmt sind und daher kaum noch vorhersehbar ist, in welchen Fällen der Tatbestand des § 211 verwirklicht ist. Dies begegnet im ­Hinblick auf den in Art. 103 Abs. 2 GG verankerten Bestimmtheitsgrundsatz erheblichen Bedenken206. Auch ist es dogmatisch wenig überzeugend, eine Gesamtwürdigung nach Strafzumessungsgrundsätzen bereits auf Tatbestandsseite vorzunehmen. Wer eine Berücksichtigung geringerer Schwere und Verwerflichkeit der Tat auf Tatbestandsseite befürwortet, sollte daher – worauf auch das BVerfG in seiner Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit der lebenslangen Freiheitsstrafe bei der Heimtücke hingewiesen hat207 – eine restriktive Auslegung der jeweiligen Mordmerkmale vornehmen und nicht pauschal auf das Erfordernis einer wenig konturierten Verwerflichkeit der Tat verweisen208.

71bb) Während die vorgenannten Tatbestandslösungen bei allen Mordmerkmalen zur Anwendung gelangen sollen, hat der BGH speziell für den Heimtückemord einen abweichenden Weg eingeschlagen. Auch bei Vorliegen von außergewöhnlichen Umständen, die den Unrechts- und Schuldgehalt der Tat vermindern, sei grundsätzlich an der Einstufung der Tat als Mord festzuhalten. Zur Wahrung der verfassungsrechtlichen Vorgaben soll aber im Wege einer Rechtsfolgenlösung im Einzelfall (contra legem) eine übergesetzliche Strafmilderung entsprechend § 49 Abs. 1 Nr. 1 in Betracht kommen209.

Hinweis zur Fallbearbeitung: Soweit bereits eine gesetzliche Milderungsmöglichkeit – wie etwa beim Versuch nach § 23 Abs. 2 – besteht, bedarf es der übergesetzlichen Rechtsfolgenlösung zur Verhinderung übermäßiger Härten nicht.

(1) Die übergesetzliche Milderung setzt nach Ansicht des BGH voraus, dass außergewöhnliche Umstände vorliegen, aufgrund derer die Verhängung der lebenslangen Freiheitsstrafe als unverhältnismäßig zu bewerten ist. Es muss sich demnach – wie in den sog. Haustyrannenfällen – um eine Tat handeln, die durch „eine notstandsnahe, ausweglos erscheinende Situation“ motiviert ist, die „in großer Verzweiflung“ begangen wurde oder ihren Grund „in einem vom Opfer verursachten Konflikt“ hat210. Die Voraussetzungen sind deutlich höher als bei den allgemeinen Strafmilderungsgründen211. Es reicht daher nicht jeder Entlastungsfaktor, der im Rahmen des § 213 Berücksichtigung finden würde, zur Annahme der Unverhältnismäßigkeit der lebenslangen Freiheitsstrafe aus. Vor allem darf aber auch nicht zu großzügig auf die Rechtsfolgenlösung ausgewichen werden212. Eine abschließende Definition oder Aufzählung der außergewöhnlichen Umstände, die in Fällen heimtückischer Tötung zum Abweichen von der lebenslangen Freiheitsstrafe führen, ist freilich nicht möglich213.

72 (2) Die Rechtsfolgenlösung muss sich allerdings Wertungswidersprüche entgegenhalten lassen214. Denn über die analoge Anwendung des § 49 Abs. 1 Nr. 1, die zu einem Strafrahmen von drei bis zu fünfzehn Jahren Freiheitsstrafe anstelle der lebenslangen Freiheitsstrafe führt, wird sogar die für § 212 vorgesehene Mindeststrafe von fünf Jahren Freiheitsstrafe unterschritten und damit der Täter gegenüber einem Totschlag bessergestellt. Vermeiden lassen sich diese Ungereimtheiten nur, wenn man verlangt, dass das Gericht sich bei der Bemessung der Freiheitsstrafe hinsichtlich der Strafrahmenuntergrenze von der Wertung des § 212 leiten lässt und das dort genannte Mindestmaß nicht unterschreitet. Im Übrigen ist zu kritisieren, dass unklar bleibt, weshalb die Rechtsfolgenlösung nur beim Mordmerkmal der Heimtücke in Betracht kommen soll. Für Fälle der Habgier215 sowie des Handelns zur Befriedigung des Geschlechtstriebs und der Ermöglichungsabsicht216 hat der BGH die Rechtsfolgenlösung ausdrücklich abgelehnt, da insoweit eine Kollision mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht zu befürchten sei. Andererseits tendiert der BGH aber auch bei der Heimtücke immer wieder dazu, neben der Rechtsfolgenlösung bereits den Tatbestand restriktiv auszulegen217.

73c) Zur sachgerechten Lösung der Problematik könnte man zwar de lege ferenda daran denken, die Abschichtung zwischen Mord und Totschlag anhand anderer Mordmerkmale vorzunehmen218. Eine solche Reform, die aktuell wieder diskutiert wird219, ist aber weder in der Vergangenheit noch in anderen Rechtsordnungen überzeugend gelungen. Zur Lösung stehen daher im Prinzip nur zwei Wege bereit: Entweder nimmt man eine Flexibilisierung bei den Mordmerkmalen – etwa im Wege der Regelbeispielstechnik – vor220. Oder man muss Korrekturen auf der Rechtsfolgenseite durch Auflösung der absoluten Strafandrohung vornehmen. An Stelle der lebenslangen Freiheitsstrafe müsste dann ein breiterer Strafrahmen treten, der dem unterschiedlichen Unrechts- und Schuldgehalt der in Betracht kommenden Tötungsdelikte besser gerecht wird.

Strafrecht - Besonderer Teil I

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