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1. Rechtfertigungsgründe, erlaubte Verletzungen

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Körperliche Misshandlungen bzw. tatbestandsmäßige Gesundheitsschädigungen indizieren die Rechtswidrigkeit der Körperverletzungshandlung, da der Schutz des verletzten Rechtsguts einziger Zweck der Norm ist. Bei Vorliegen eines die Norm einschränkenden, selbstständigen Rechts der handelnden Person zur zulässigen tatbestandlichen Beeinträchtigung des Tatopfers kann deren Handeln jedoch gerechtfertigt sein. Dem kommt im Kontext der Körperverletzungsdelikte im Vergleich zu anderen Tatbeständen eine besonders herausragende Bedeutung zu. Zum einen handelt es sich häufig um interaktive Geschehensabläufe zwischen mehreren Personen, in denen verschiedene Parteien einschlägige Handlungen vornehmen, die es anschließend rechtlich zu bewerten gilt. Zum anderen kann der*die Rechtsgutsinhaber*in angesichts der Dispositionsbefugnis (Rn. 28) recht weitgehend Beeinträchtigungen in Form von Körperverletzungen gestatten.

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Ein solches Recht zur Körperverletzung kann zum einen aufgrund gesetzlicher Rechtsfertigungsgründe bestehen. Hier ist insbesondere an die Notwehr (§ 32 StGB, § 227 BGB) und das Festnahmerecht (§ 127 Abs. 1 StPO) zu denken. Weiterhin kann eine Körperverletzung bei Handeln durch Amtsträger*innen durch öffentlich-rechtliche Eingriffs- und Befugnisnormen gerechtfertigt sein (Rn. 115 ff.). Zum anderen können ungeschriebene (durch Gewohnheitsrecht anerkannte) Rechtfertigungsgründe das Handeln rechtfertigen. Dies ist der Fall, wenn eine rechtfertigende Einwilligung oder eine Pflichtenkollision vorliegen. Der Einwilligung kommt im Rahmen der Körperverletzungsdelikte eine besondere Bedeutung zu (Rn. 92 ff.).

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Besondere Relevanz entfaltet bei den Körperverletzungsdelikten der Rechtfertigungsgrund der Notwehr (§ 32 StGB, § 227 BGB). Diese Erlaubnisnorm enthält das Recht der einzelnen Person, sich oder einen*eine Dritte*n gegen einen rechtswidrigen Angriff in einer an sich verbotenen Weise zu verteidigen, indem die Individualrechtsgüter der angreifenden Person verletzt werden.[328] Als Sinn und Zweck der Norm wird überwiegend der Schutz von Rechtsgütern sowie das allgemeine Rechtsbewährungsprinzip genannt.[329] Eine Handlung ist dann durch Notwehr gerechtfertigt, wenn ein gegenwärtiger, rechtswidriger Angriff vorliegt (sog. Notwehrlage) und die angegriffene Person sich auf erforderliche und gebotene Art und Weise dagegen verteidigt (sog. Notwehrhandlung). Ein Angriff gilt auch dann als rechtswidrig, wenn die angreifende Person von einem vermeintlichen Festnahmerecht nach § 127 Abs. 1 StPO ausgeht, tatsächlich aber kein dringender Tatverdacht besteht.[330] Die Verteidigungshandlung muss von einem Verteidigungswillen getragen sein und sich gegen Rechtsgüter der angreifenden Person richten (ansonsten evtl. § 34 StGB). Dabei ist die Person, die rechtswidrig angegriffen wird, grundsätzlich berechtigt, dasjenige Abwehrmittel zu wählen, das eine endgültige Beseitigung der Gefahr gewährleistet. Demnach kann auch die sofortige, das Leben der angreifenden Person gefährdende Notwehrhandlung gerechtfertigt sein. Die Notwehr als Rechtsfertigungsgrund kommt selbst bei der schweren Körperverletzung nach § 226 StGB und bei Tötungsdelikten in Betracht, wenn zur Abwehr massiver Angriffe ähnlich massive Verteidigungshandlungen notwendig waren, und im Grundsatz unabhängig davon, ob der*die sich Verteidigende die Folge fahrlässig oder vorsätzlich herbeigeführt hat.[331] Einschränkungen des Notwehrrechts ergeben sich jedoch bei Absichtsprovokationen, den Angriffen von erkennbar schuldlos Handelnden, ggf. auch bei völlig unerheblichen Angriffen und bei Angriffen in engen persönlichen Beziehungen.[332] Die Notwehrhandlung kann nach den Umständen des Einzelfalles hier sozialethisch („gebotene Notwehrhandlung“) soweit eingeschränkt werden, dass zunächst aus den genannten Billigkeitsgründen, insbesondere bei schuldhaft provozierter Notwehrlage, zunächst ausgewichen werden muss oder nur Schutzwehr geleistet werden darf, bevor es legitim ist, final zur Trutzwehr überzugehen.[333] Doch auch hier müssen substanzielle Einbußen, wie oftmals bei Körperverletzungsdelikten, im Zweifel nicht hingenommen werden.[334]

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Ein eigenständiger Rechtfertigungsgrund in Form des sog. Züchtigungsrechts der Eltern kann heutzutage nicht mehr angenommen werden.[335] Nach früher h.M. war das Handeln der Erziehungsberechtigten, die ihren minderjährigen Kindern von einem bestimmten Erziehungszweck getragene körperliche Misshandlungen zufügten, nicht rechtswidrig.[336] Das Züchtigungsrecht war aufgrund landesrechtlicher Bestimmungen oder als Gewohnheitsrecht auch für Lehrer*innen anerkannt.[337] Der Rechtfertigungsgrund entfiel endgültig mit Inkrafttreten des Gesetzes zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung im Jahr 2000.[338] Durch das Gesetz wurde der § 1631 Abs. 2 BGB grundlegend geändert.[339] Der Wortlaut lässt für Zweifel keinen Raum mehr: „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“ Daran ändert auch das Erziehungsrecht aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG nichts.[340] Jede die Bagatellgrenze überschreitende Handlung bedeutet daher, dass der Tatbestand erfüllt ist. Die körperliche Züchtigung von Kindern ist heute kein sozialadäquates Verhalten mehr.[341]

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Besonderheiten bestehen bei der Rechtfertigung für den Tatbestand des § 231 StGB, der nicht nur das Leben und die Gesundheit der durch die Schlägerei oder den Angriff tatsächlich verletzten Person schützt, sondern auch aller solcher Personen, die unmittelbar oder mittelbar durch die Schlägerei oder den Angriff gefährdet werden. Angesichts dessen sind die von § 231 StGB geschützten Rechtsgüter nicht umfassend disponibel,[342] weshalb eine rechtfertigende Einwilligung eines oder aller Beteiligten regelmäßig nicht in Betracht kommt.[343] Die durch die Verwirklichung des § 231 StGB nicht kalkulierbare Gefährdung für mehrere Personen dürfte außerdem regelmäßig gegen die guten Sitten i.S.v. § 228 StGB verstoßen.[344] Eine Rechtfertigung wegen Notwehr scheidet bei § 231 StGB ebenso regelmäßig aus, da § 32 StGB Verteidigungshandlungen nur gegenüber einer angreifenden Person legimitiert, nicht jedoch die Verletzung von Körper und Gesundheit anderer beteiligter Personen.[345] Daher kann zwar ein konkretes Körperverletzungs- oder Tötungsdelikt im Rahmen einer Schlägerei ggf. wegen Notwehr gerechtfertigt sein. § 231 StGB als abstraktes Gefährdungsdelikt pönalisiert jedoch die gesamte Beteiligung an dem Geschehen. Eine Rechtfertigung dessen kann nur in Betracht kommen, wenn die Beteiligung insgesamt durch einen Rechtfertigungsgrund gedeckt ist und nicht nur eine Teilhandlung im Rahmen dessen.[346]

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