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c) Hypothetische Einwilligung

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Von der mutmaßlichen Einwilligung ist die hypothetische Einwilligung zu unterscheiden. Anders als bei der mutmaßlichen ist bei der hypothetischen Einwilligung die Einholung einer wirksamen – d.h. insbesondere einer auf einer hinreichenden Aufklärung beruhenden – Einwilligung durchaus möglich gewesen, aber gleichwohl ausgeblieben. Die Rechtsfigur der hypothetischen Einwilligung soll vor allem dazu dienen, die Folgen einer nicht ordnungsgemäßen Aufklärung zu mildern,[419] und stammt als „Haftungskorrektiv“ ursprünglich aus der Zivilrechtsprechung zur Arzthaftung für Aufklärungsfehler.[420] Sie kommt in den Fällen zum Tragen, in denen das ärztliche Personal zwar unvollständig aufgeklärt hat, sodass die Einwilligung nicht wirksam ist, aber davon auszugehen ist, dass der*die Patient*in auch bei Kenntnis aller Umstände in den Eingriff eingewilligt hätte.[421] Maßgeblich soll dabei der*die „vernünftige Patient*in“ sein, Indizien für den wirklichen Willen sollen allerdings auch berücksichtigt werden.[422] Dem ärztlichen Personal muss im Rahmen dessen nachgewiesen werden, dass die Einwilligung bei ausreichender Aufklärung nicht erfolgt wäre. Bei Zweifeln an der hypothetischen Erteilung der Einwilligung liegt die Beweislast insofern nicht beim ärztlichen Personal, sondern bei der anderen Partei bzw. bei der Staatsanwaltschaft. Zivilrechtlich ist diese Regelung in § 630h Abs. 2 BGB festgelegt, im Strafrecht kommt der Grundsatz in dubio pro reo zu Gunsten des ärztlichen Personals zur Anwendung.[423]

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Die hypothetische Einwilligung wird von vielen Seiten nicht nur wegen der Einordnung als weiterer Rechtsfertigungsgrund durch die Rechtsprechung kritisiert, sondern auch als strafrechtliche Rechtsfigur an sich. Durch die Einordnung der hypothetischen Einwilligung als Rechtfertigungsgrund würden die Grundprinzipien der geltenden Rechtfertigungsdogmatik untergraben. Bei den bisherigen Rechtfertigungsgründen müssen die Voraussetzungen für eine Rechtfertigung objektiv vorliegen, es reicht eben nicht aus, dass die Voraussetzungen hätten vorliegen können, so wie bei der hypothetischen Einwilligung.[424] Auch ist das Verhältnis zur mutmaßlichen Einwilligung problematisch; für diese scheint neben der hypothetischen kein Anwendungsbereich mehr. Wird die hypothetische Einwilligung als Rechtfertigungsgrund anerkannt, so sei es nicht mehr notwendig, die Einwilligung des Opfers vorab einzuholen.[425] Die Voraussetzung der mutmaßlichen Einwilligung, dass eine Zustimmung des Patienten vor dem Eingriff nicht (rechtzeitig) eingeholt werden konnte, wird insofern durch die hypothetische Einwilligung ausgehöhlt. Weiterhin erweist sich als problematisch und wird kritisiert, dass bei der hypothetischen Einwilligung der hypothetische Wille des*der Betroffenen rückblickend konstruiert werden muss, was einer dem Strafrecht fremden (nachträglichen) Genehmigung entspricht.[426] Der*die Patient*in muss im Nachhinein entscheiden, ob er*sie bei ordnungsgemäßer Aufklärung im Vorfeld in die Behandlung eingewilligt hätte oder nicht. Die Strafbarkeit hängt somit wesentlich von der späteren Aussage des*der Patienten*Patientin ab.[427]

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Wenngleich die hypothetische Einwilligung als Rechtsfigur von der Literatur weithin abgelehnt wird, ist doch anerkannt, dass die Unwirksamkeit der Einwilligung in einen medizinisch sinnvollen Eingriff alleine wegen mangelhafter Aufklärung eine praktisch problematische Fallgruppe darstellt. Daher bemühen sich verschiedene Autoren*Autorinnen um eine andere Lösung bzw. eine alternative Einordnung der Rechtsfigur anstelle der Konstruktion als Rechtfertigungsgrund.[428] Manche Stimmen wollen die hypothetische Einwilligung etwa als Strafausschließungs- oder Strafaufhebungsgrund einstufen,[429] andere das Problem auf der Ebene des Tatbestands behandeln. Kuhlen hat hingegen ein Zurechnungsmodell entwickelt.[430] Er sieht in der hypothetischen Einwilligung keinen Rechtfertigungsgrund, sondern überträgt zur Lösung der Problematik die Figur der objektiven Zurechnung von der Tatbestandsebene auf die Ebene der Rechtswidrigkeit. Demnach sei bei einem Rechtfertigungsmangel gesondert zu prüfen, ob der Taterfolg objektiv zurechenbar auf diesem Mangel beruht, zwischen beiden also ein Schutzzweck- und Pflichtwidrigkeitszusammenhang besteht. So soll es beim ärztlichen Heileingriff darauf ankommen, ob ein Zusammenhang zwischen dem Aufklärungsmangel und dem tatbestandlichen Erfolg besteht. Fehlt es daran, so soll das objektive Erfolgsunrecht entfallen und lediglich noch eine Strafbarkeit des*der Arztes*Ärztin wegen Versuchs in Betracht kommen. Das Zurechnungsmodell von Kuhlen und andere durch die Literatur entwickelte Modelle[431] wurden von der Rechtsprechung indes bislang nicht übernommen.

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