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a) Einordnung und rechtliche Behandlung

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Beim ärztlichen Heileingriff ist nach wie vor umstritten, ob lege artis durchgeführte Behandlungen überhaupt tatbestandsmäßig sind.[397] Einigkeit über die Tatbestandsmäßigkeit besteht zwar in den Fällen, in denen der ärztliche Eingriff nicht im Eigeninteresse des*der Patienten*Patientin, sondern im Fremdinteresse liegt. Darunter fallen beispielsweise die unfreiwillige Blutspende oder die Organspende, die immer eine Einwilligung des*der Patienten*Patientin voraussetzen.[398] Gleiches gilt für diagnostische und prophylaktische Eingriffe, soweit sie nicht unmittelbar zur Besserung des Gesundheitszustandes beitragen.[399] In allen anderen Konstellationen bestehen jedoch grundlegend divergierende Auffassungen.

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Die herrschende Lehre[400] verneint die Tatbestandsmäßigkeit in diesen Fällen mit dem Argument, dass der ärztliche Heileingriff als Ganzes zu betrachten sei, nicht die Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit durch die Behandlung als notwendige Zwischenschritte.[401] Diese Beeinträchtigung erfolge nur zu dem Zweck, einen Heilungserfolg zu erreichen. Daher liege keine Körperverletzung vor, sondern eine Behandlung, die ihrem sozialen Sinngehalt nach genau das Gegenteil erreichen wolle.[402] Zudem wird vertreten, dass der Kern des Rechtsguts im Interesse der betroffenen Person an körperlicher Integrität bestehe, die beim Heileingriff nicht verletzt, sondern gefördert werde.[403]

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Uneinigkeit besteht dabei darüber, welche Anforderungen an eine Heilbehandlung zu stellen sind. Eine Strömung in der Literatur (sog. „Erfolgstheorie“) will dahingehend unterscheiden, ob der Eingriff gelungen oder nicht gelungen ist.[404] Nur bei einem misslungenen Eingriff sei der Tatbestand der Körperverletzung erfüllt. Zur Beurteilung dessen sei nicht auf die einzelnen Teilakte abzustellen, es komme vielmehr auf den Gesamterfolg an. Sobald im Ergebnis das körperliche Wohl im Ganzen erhöht oder bewahrt werde, sei der Tatbestand zu verneinen.[405] Problematisch erscheint an dieser Lösung allerdings das erhebliche Erfolgsrisiko, das dem ärztlichen Fachpersonal damit auferlegt wird, und die im Strafrecht nicht tolerierbare Rechtsunsicherheit, da erst im Nachgang der vorgenommenen Handlungen die Strafwürdigkeit des Verhaltens bestimmt werden kann. Eine andere Ansicht stellt darauf ab, ob der Eingriff kunstgerecht vorgenommen wurde.[406] Der Tatbestand der Körperverletzung sei schon dann nicht gegeben, wenn der Eingriff von einer Heilungstendenz getragen ist und kunstgerecht durchgeführt wird. Auch diese Lösung führt zu bedenklichen Folgen und zu einer nicht ungefährlichen Schutzlücke: Bei kunstgerechten, aber durch das ärztliche Fachpersonal eigenmächtig durchgeführten Heileingriffen läge ebenfalls keine Körperverletzung vor. Dies missachtet das Selbstbestimmungsrecht des*der Patienten*Patientin.

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Die ständige Rechtsprechung sowie Teile der Literatur lassen hingegen die Strafbarkeit auch beim ärztlichen Heileingriff erst auf der Ebene der Rechtswidrigkeit im Wege der Einwilligung entfallen.[407] Als strafrechtsrelevante Handlung wird dabei auf die jeweilige Einzelmaßnahme (Stich, Schnitt etc.) abgestellt und nicht auf das Behandlungsgeschehen in seiner Gesamtheit. Diese Sichtweise birgt erhebliche Strafbarkeitsrisiken für das behandelnde ärztliche Personal. Aus diesem Grund ist die Dogmatik bemüht, Figuren zu entwickeln, die die Strafbarkeit jedenfalls in gewissen Fällen entfallen lassen. Die Diskussion konzentriert sich hier auf die Einwilligung und Möglichkeiten, diese Rechtsfigur auszuweiten, um in den problematischen Fällen, die als nicht strafwürdig erscheinen, einen Ausschluss der Rechtswidrigkeit zu erreichen.[408]

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Grundsätzlich wird davon ausgegangen, dass auch bei ärztlichen Eingriffen stets eine wirksame Einwilligung (siehe hierfür Rn. 92 ff.) vorliegen muss. Diese Einwilligung ist nach allgemeiner Auffassung allerdings nur dann wirksam, wenn sie frei von Willensmängeln ist. Ärztliche Heilbehandlungen sind häufig sehr komplex und mit vielen Risiken behaftet, sodass eine von Willensmängeln freie Einwilligung nur dann vorliegen kann, wenn der*die Patient*in zuvor ordnungsgemäß über Eingriff, Verlauf, Erfolgsaussichten, Risiken und Behandlungsmöglichkeiten aufgeklärt worden ist.[409] Der notwendige Umfang der ärztlichen Aufklärung wird seit 2013 durch den § 630e BGB ausdrücklich festgelegt, was im Sinne der Einheit der Rechtsordnung grundsätzlich auch das Strafrecht bindet.[410] In einer früheren Entscheidung stellte der BGH indes einschränkend fest, dass der Umfang der Aufklärung mit der Dringlichkeit des Eingriffs im Zusammenhang steht.[411] Bei einem Notfalleingriff kann die Aufklärung weniger ausführlich sein als bei einem elektiven Eingriff, bei dem kein oder kaum Zeitdruck besteht.[412] Es gibt insofern verschiedene Faktoren, die beim notwendigen Aufklärungsumfang eine Rolle spielen, neben der Dringlichkeit sind auch Häufigkeit und Schwere der eingriffsspezifischen Risiken sowie der Anerkennungsgrad der geplanten Behandlung zu beachten.[413]

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