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a) Grenze des § 228 StGB

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§ 228 StGB – der nach ganz überwiegender Auffassung für alle Körperverletzungsdelikte gilt[348] – schränkt die mögliche Reichweite der rechtfertigenden Einwilligung ein. Es handelt sich um eine gesetzlich bestimmte Ausnahme von der allgemeinen Einwilligungsregel.[349] § 228 StGB regelt also nicht die unrechtsausschließende Wirkung der Einwilligung, sondern setzt diese vielmehr voraus und normiert nur die Grenzen einer solchen Einwilligung für den Fall der Körperverletzungsdelikte. Danach wirkt eine Einwilligung dort nicht rechtfertigend, wo die Tat trotz selbiger gegen die „guten Sitten“ verstößt. Hierunter wird wie im Zivilrecht das „Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden“ verstanden. Als unbestimmter Rechtsbegriff und in autonomer strafrechtlicher Bewertung bedarf die Wendung von den guten Sitten einer verfassungskonformen Auslegung, welche insbesondere am Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG zu messen ist.[350]

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Die Rechtsprechung erkannte dies schon in den 1950er Jahren und befand, § 228 StGB müsse eng ausgelegt werden, „um im Rechtsstaat erträglich zu sein“[351]. Bis in die 1990er Jahre hinein wurde bei der Auslegung der sog. Zweckansatz verfolgt, d.h. es kam bei der Bestimmung der Sittenwidrigkeit auf den verfolgten Zweck der Beeinträchtigungen an, also auf die Beweggründe und Ziele, die mit der Verletzung verfolgt werden.[352] Seit Anfang der 2000er Jahre zeichnet sich hier eine Wende in der Rechtsprechung ab, vom Zweckansatz hin zur sog. Rechtsgutslösung.[353] Danach steht nicht mehr der angestrebte Zweck der Körperverletzung im Vordergrund, sondern die Intensität der Handlung und ihrer Folgen.[354] Maßgeblich ist laut der neueren Rechtsprechung der Umfang der hinzunehmenden Körperverletzung und der Grad der damit verbundenen Leibes- oder Lebensgefahr.[355] Dies soll durch vorausschauende objektive Betrachtung aller maßgeblichen Umstände bestimmt werden.[356] Dementsprechend soll für den Fall, dass durch die Körperverletzung eine konkrete Lebensgefahr verursacht wird, stets von einem Verstoß gegen die guten Sitten auszugehen sein.[357] Ebenso seien Eingriffe in die Dispositionsbefugnisse des*der Rechtsgutsträgers*Rechtsgutsträgerin auch dann legitim, wenn die zu erwartenden Verletzungen an die in § 226 StGB geregelten erheblichen Beeinträchtigungen heranreichen.[358] Hingegen ist die Einwilligungen von Gefangenen in durchgeführte Tätowierungen auch dann nicht wegen Sittenwidrigkeit unwirksam, wenn in der JVA ein disziplinarrechtlich abgesichertes Tätowierverbot besteht.[359]

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Dieser zu begrüßende, eher restriktive Maßstab für die Annahme eines Sittenverstoßes ist in der jüngeren Vergangenheit durch zwei maßgebliche Urteile des BGH in den Jahren 2013[360] und 2015[361] wieder etwas ausgeweitet worden. So wandte sich die Rechtsprechung vom Kriterium der „konkreten Lebensgefahr“ ab und ließ bei tätlichen Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Gruppen die typischerweise vorliegende Eskalationsgefahr genügen.[362] Für diese Fälle sei der § 231 StGB als rechtlicher Anknüpfungspunkt für den missbilligten Zweck der „eskalationsgefahrträchtigen“ Schlägerei heranzuziehen.[363]

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Die Regelung des § 228 StGB ist in mehrfacher Hinsicht umstritten. Hinsichtlich der materiellen Legitimität wird kritisiert, dass dem Allgemeininteresse am Erhalt der Gesundheit der einzelnen Person mehr Bedeutung zugemessen werde als der Autonomie der verletzten Person, wenn die Verfügungsfreiheit der betroffenen Person über ihr körperliches Wohl in dieser Weise beschränkt wird.[364] Im Hinblick auf die Auslegungspraxis der Rechtsprechung wird auch die Frage der hinreichenden Bestimmtheit des § 228 StGB problematisiert. Eine verbreitete Auffassung fordert, den Begriff der Sittenwidrigkeit auf seinen Kern zu beschränken, um dem Bestimmtheitsgebot zu genügen.[365] Vor diesem Hintergrund erscheint zum einen die Erheblichkeitsschwelle der Verletzungsintensität problematisch, die Rechtsprechung und Teile der Literatur für die Bestimmung der Sittenwidrigkeit formulieren. Schließlich werden hier neben der konkreten Lebensgefahr und der Wertung des § 216 StGB sowohl die Folgen des § 226 StGB als auch der § 225 Abs. 3 Nr. 1 und § 231 StGB zur Auslegung des § 228 StGB herangezogen. Die ursprünglich von der Rechtsprechung als Kriterium vorausgesetzte konkrete Lebensgefahr löst sich somit hin zu einer abstrakten Gefahr auf.[366] Insbesondere die Hinwendung zu der abstrakten „Eskalationsgefahr“ lässt die Grenze zwischen Sittenverstoß und einwilligungsfähiger Rechtsgutsgefährdung verschwimmen.[367] Das Heranziehen der Wertung der § 231 StGB wird angesichts dessen von Teilen der Literatur als systemwidrig eingestuft: Die Existenz der Norm mit der niedrigen Strafandrohung für abstrakte Gefahren verbiete systematisch den Rückgriff auf die §§ 223 ff. StGB bei einer abstrakten Gefahr und einer bestehenden Einwilligung. Die niedrigere Strafandrohung des § 231 StGB für bloß abstrakte Gefahren würde andernfalls umgangen.[368] Auch wird durch diese erweiterte Auslegung das geschützte Rechtsgut immer weiter mit Allgemeininteressen aufgeladen. Im Mittelpunkt steht also nicht nur das Interesse der Gesunderhaltung der Beteiligten, vielmehr geht es auch um die Frage nach potenziellen Auswirkungen auf Dritte.[369]

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Zum anderen führt insbesondere die Rechtsgutslösung dort zu Unklarheiten, wo durch die Körperverletzungshandlung anerkannte, neutrale, nicht missbilligte oder subjektiv vernünftige Zwecke verfolgt werden. Diese sollen zunächst im Sinne einer Abwägungslösung bestimmt werden und können auf diesem Weg die Intensität des Eingriffs als Kriterium für die Sittenwidrigkeit ausgleichen, z.B. im Fall von schweren ärztlichen Eingriffen oder Organspenden.[370] Wann ein Zweck allerdings als anerkannt, neutral oder nicht missbilligt eingestuft werden kann, ist nicht immer eindeutig und wird im Rahmen diverser einschlägiger Fallgruppen lebhaft diskutiert. So fehlt die klare Einordnung etwa bei Doping im Sport, bei Maßnahmen des sog. Enhancement oder auch bei Tätowierungen.[371]

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