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b) Einzelne Fallgruppen

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Neben der Problematik des ärztlichen Heileingriffs (Rn. 104 ff.) gibt es weitere Fallgruppen, in denen die Reichweite der Einwilligung bzw. die Anwendung des § 228 StGB problematisch ist. Eine große Bedeutung hat die Einwilligung zunächst im Sport, insbesondere bei Kampfsportarten (Boxen, MMA, Ringen o.Ä.) sowie Kontaktsportarten (Fußball, Handball, American Football etc.). Hier wird grundsätzlich von einer konkludenten Einwilligung in alle verletzungsträchtigen Handlungen ausgegangen, welche bei regelkonformer Ausübung der Sportart eintreten können.[372] Von dieser Einwilligung als umfasst anzusehen sind weiterhin auch diejenigen spielregelwidrigen Handlungen, die aus Übereifer, Erregung oder infolge von Benommenheit geschehen können und für die es bereits spieladäquate Sanktionen gibt (z.B. „gelbe Karte“ bei einem Foulspiel im Fußball oder die „Verwarnung“ beim Boxen). Dies gilt unabhängig von den schweren Folgen bzw. Verletzungen, die sich aus solchen Verhaltensweisen ergeben können. Nicht umfasst sind indes solche Verstöße, welche nach objektivem Fachurteil die Disqualifikation des*der Spielers*Spielerin nach sich ziehen.[373]

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Bei Doping im Sport ist neben dem Grundtatbestand des § 223 Abs. 1 StGB auch an das Vorliegen einer gefährlichen Körperverletzung nach § 224 Abs. 1 Nr. 1 StGB sowie die schwere Körperverletzung nach § 226 StGB zu denken.[374] Dabei sind verschiedene Fragestellungen und Fallkonstellationen zu unterscheiden. Beim Selbstdoping scheidet eine Strafbarkeit regelmäßig aus, da Selbstschädigungen grundsätzlich straflos sind (siehe Rn. 31).[375] Anderes gilt nur, wenn eine mitwirkende Person – etwa Lieferanten oder der*die Arzt*Ärztin – wegen mittelbarer Täterschaft kraft überlegenen Wissens strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden kann, etwa wenn die einnehmende Person nicht weiß, welche Mittel sie zu sich nimmt.[376] Anders sieht es aus, wenn der*die Sportler*in sich das Mittel nicht selbst verabreicht, sodass eine andere Person die Tatherrschaft hat (siehe Rn. 76). Bei diesen Fällen der Fremdinjektion kommt es für die Frage der Strafbarkeit darauf an, ob eine wirksame Einwilligung des*der Sportlers*Sportlerin vorliegt. Daran fehlt es in jedem Fall, wenn diese*r nicht um die Dopingeigenschaft weiß.[377] Umstritten ist hingegen die Beurteilung derjenigen Fälle, in denen der*die Sportler*in hinreichend aufgeklärt wurde und trotzdem einwilligt, sodass die Einwilligung an den „guten Sitten“ des § 228 StGB zu messen ist. Kern des Streits ist dabei wiederum die Frage, wie der Begriff der Sittenwidrigkeit auszulegen ist (vgl. hierfür Rn. 93 ff.). Wird der früheren Rechtsprechung folgend auf den Zweck der Körperverletzung abgestellt, so ist der Zweck des Dopings zu prüfen. Einige Stimmen in der Literatur votieren angesichts dessen für die Sittenwidrigkeit, da schon der Zweck der medikamentösen Leistungssteigerung sittenwidrig sei, wie sich aus den einschlägigen speziellen Gesetzen ergebe, vgl. § 2 AntiDopG sowie § 6a AMG.[378] Danach ist die Einwilligung stets sittenwidrig und die Strafbarkeit der verabreichenden Person gegeben.[379] Anders verhält es sich hingegen, wenn man für die Bestimmung der Sittenwidrigkeit an die Gefährlichkeit bzw. die Intensität der Körperverletzung anknüpft. In diesem Fall ist das Verabreichen von Doping-Mitteln nur dann als sittenwidrig anzusehen, wenn damit zumindest die Gefahr einer schweren Gesundheitsschädigung einhergeht.[380]

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Ähnlich zu beurteilen sind die sog. Neuroenhancements, jedenfalls soweit sie mit der Verabreichung von Medikamenten verbunden sind. Darunter werden „Verbesserungen“ der kognitiven, emotionalen oder motivationalen Fähigkeiten des Gehirns verstanden, wie beispielsweise das sog. „Lerndoping“ oder „Minddoping“[381] durch Ritalin und weitere pharmakologische Maßnahmen (aufmerksamkeitssteigernde Amphetamine, Antidepressiva und Antidementiva) sowie Hirnstimulationen[382] oder Manipulationen des Gedächtnisses.[383] Bereits nicht von § 223 StGB erfasst sind dabei solche Eingriffe, die rein seelische Einwirkungen ohne Krankheitswert bedeuten (Rn. 27, 35 f.).

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Bei neuartigen gestalt- oder funktionsverändernden Eingriffen wie kosmetischen Operationen wird weitgehend von der Tatbestandmäßigkeit der Handlungen ausgegangen, auf Ebene der Rechtswidrigkeit ist aber eine rechtfertigende Einwilligung unter Beachtung von § 228 StGB möglich. An die Wirksamkeit der Einwilligung sind dabei umso höhere Anforderungen zu stellen, je weniger der Eingriff von Heilungszwecken getragen wird.[384] So muss bei bloßen „Luxuseingriffen“ (beispielsweise das sog. „Lifting“ oder das Entfernen von Identitätsmerkmalen) der*die Arzt*Ärztin auf alle möglichen Folgen und Unannehmlichkeiten hinweisen.[385] Für die Frage, ob § 228 StGB eine Einwilligung ausschließt, kommt es auch auf die Beweggründe an, die sich wandelnden gesellschaftlichen Bewertungen unterliegen, was stets erhebliche Probleme bereitet.[386] Bei Geschlechtsumwandlungen hat im Rahmen von § 228 StGB die gesetzgeberische Wertentscheidung des TSG einzufließen, sodass eine Rechtfertigung nicht ausgeschlossen sein darf.[387] Schwierige Fragen stellen sich auch bei feuilletonistisch rezipierten Konstellationen, etwa bei „Wunschamputationen“ und dem überspitzten „Recht auf vorsätzliche Behinderung“.[388] Insgesamt werden bei im streng medizinischen Sinne nicht indizierten Operationen vielfältige Meinungen vertreten, die sowohl die ärztliche Ethik und Berufsausübungsfreiheit als auch die Selbstbestimmungsfreiheit der Patienten*Patientinnen erheblich betreffen. Grundsätzlich sollte angesichts des sehr weichen und undurchsichtigen Maßstabs der guten Sitten Zurückhaltung geübt werden. Anders mag dies in Fällen sein, in denen die Selbstbestimmungsfreiheit des*der Patienten*Patientin fraglich ist, etwa bei gezielter Hormongabe an Minderjährige zur bewussten Entwicklungshemmung.[389]

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Fraglich ist ferner, wie der ungeschützte Geschlechtsverkehr mit möglicherweise AIDS-Infizierten zu bewerten ist. Manche sehen bei einer wissentlichen Einwilligung in den Geschlechtsverkehr bereits nur eine eigenverantwortliche Selbstgefährdung, bei der das Fördern oder Ermöglichen somit straflos bliebe,[390] und keine einverständliche Fremdgefährdung (siehe hierfür Rn. 75 ff.). Hält man hingegen eine Einwilligung zur Rechtfertigung für erforderlich, so ist diese an § 228 StGB zu messen. Wird dabei von einer konkreten Lebensgefährdung durch die Infektion ausgegangen, so ist mit Hinblick auf die neuere Auslegungspraxis des § 228 StGB durch die Gerichte (Rn. 94 f.) sowie im Hinblick auf § 216 StGB eine Sittenwidrigkeit der Einwilligung anzunehmen.[391] Deutlich praxisrelevanter sind indes die Fälle, in denen keine (wirksame) Einwilligung vorliegt, da nicht über die Infizierung aufgeklärt wurde (siehe Rn. 92). Bei sexuellen Handlungen im Übrigen geht mittlerweile auch die Rechtsprechung davon aus, dass sadomasochistische Praktiken, die zu Körperverletzungen führen, nicht gegen die guten Sitten im Sinne des § 228 StGB verstoßen.[392]

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Für einige Diskussionen sorgte in der jüngeren Vergangenheit die (religiös motivierte) Beschneidung von Jungen und die Frage, inwieweit dabei eine Einwilligung durch die Eltern möglich ist. Befürworter*innen einer Strafbarkeit führten dabei an, in der durchzuführenden Abwägung überwiege das Grundrecht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit und das allgemeine Persönlichkeitsrecht gegenüber dem Erziehungsrecht der Eltern sowie dem Recht auf Religionsausübung.[393] Das LG Köln entschied im Jahr 2012 in einem solchen Fall dementsprechend und entgegen einer langjährigen Praxis, dass der Tatbestand sowie die Rechtswidrigkeit der Körperverletzung erfüllt seien.[394] Darauf reagierte der Gesetzgeber und machte von seiner gesetzgeberischen Prärogative Gebrauch. Er schuf den § 1631d Abs. 1 S. 1 BGB, der die entsprechende Einwilligung zivilrechtlich, aber auch mit Wirkung für das Strafrecht gesondert regelt.[395] Danach umfasst die Personensorge der Eltern auch das Recht, in eine medizinisch nicht erforderliche Beschneidung des nicht einsichts- und urteilsfähigen männlichen Kindes einzuwilligen, wenn diese nach den Regeln der ärztlichen Kunst durchgeführt wird. Damit ist die Debatte um die Beschneidung von Jungen vorerst beendet.

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