Читать книгу Der Segen der Einwanderer - Jürgen Feder - Страница 5
ОглавлениеAus Nordchina stammt der bis zu 30 Meter hohe Chinesische Götterbaum.
VORWORT
Unkraut nennt man Pflanzen, deren Vorzüge nur noch nicht erkannt worden sind.
Ralph Waldo Emerson (1803 – 1882)
Es geschah am 21. August 2017 – ich war gerade fünfzehn Minuten vom Nachtlager in meinem Auto vor der sehr steilen Wittenbergener Elbtalkante im Hamburger Westen erwacht. An diesem sonnendurchfluteten Morgen galt es eigentlich eine Botanik-Exkursion für etwa 20 Personen vorzubereiten. Da passierten zwei für mich bis heute unvergessliche Dinge: Erstens just in diesem Moment fuhr haushoch das 2004 in Dienst gestellte und 345 m lange Kreuzfahrtschiff Queen Mary 2 an »meinem« Elbestrand auf der Fahrt zum Hamburger Hafen an mir vorbei. Und zweitens köpfte ein ganz offensichtlich fehlgeleiteter Mit-Morgenausschwärmer vor mir einige der gerade prächtig blühenden Wald-Engelwurze! Diese Pflanzenart kannte er offensichtlich überhaupt nicht. Ich sprach ihn an – besser, ich stellte ihn zur Rede!
Besagter »Pflanzenfreund« war auf der Jagd nach neophythischen Riesen-Bärenklauen, die er »erlegen« wollte, um die einheimische Pflanzenwelt vor der Ausbreitung der fremden Einwanderer zu schützen. Ganz abgesehen davon, dass Riesen-Bärenklaue küstennah überhaupt nicht häufig sind und dass es sich bei dieser Art hier um eine alte Heil-, Salat- und Würzpflanze handelt. So ein Unsinn mal wieder gerade von denjenigen, die sich nie wirklich informieren und nur irgendwelchen Sündenböcken hinterherhechten, selbst in hiesiger Pflanzenwelt.
Was gibt es da zum Teil für ein Bohei um diese Neubürger in unserer heimischen Pflanzenwelt. Aggressiv wären sie, nur kompromisslos, konkurrenzlos, unangepasst, giftig – und ja, auf sogenannte Schwarze Listen gehörten nicht wenige! Unerklärlich negativ besetzt, mit schlechtem Ruf, ja sogar richtig gefährlich … Leute, bleibt doch mal gelassen! Alles hat seine Gründe! Der Mensch verändert(e) unsere natürlichen Lebensgrundlagen gerade in den letzten 50 Jahren noch einmal massiv. Diese Übersiedler nutzen das nur aus. Sie spielen ihre Stärken aus, setzen nach, kämpfen sich durch, fassen neu Fuß, samen sich aus, ja – sie breiten sich auch mal aus.
Wir werden die Neophyten vielleicht noch brauchen, ganz bestimmt sogar, wenn das so weitergeht mit dem Raubbau der Natur auf dieser Welt. Diese niedlichen bis robusten, bescheidenen bis auch mal brachialen, besonders angepassten bis opportunistischen, oft nützlichen bis nur scheinbar unbrauchbaren, mal kleckernden und dann auch mal klotzenden neuen Gewächse. New Wave unter Pflanzen ist schon lange das Motto, uns fiel das nur kaum auf. »Plants for Future« sind das, ich bin mir da ganz sicher. Sie werden in Siedlungen und draußen unsere Wunden heilen, sie werden verbinden, vernähen, zudecken, gleichzeitig duften, ernähren, Schönheiten zulassen. Zumindest Sauerstoff produzieren, C02 und Staub binden tun sie schon mal alle. Was alles sehr wichtig wäre …
Dieses Buch ist also eine dicke Lanze für unsere plantaren Migranten, ein Plädoyer für Artenvielfalt, wieder eins für Biodiversität, ein Aufklärer gegen manch kruden Gedanken, auch gegen unnützen Aktivismus, ja, eine Antwort auf den Klimawandel. Gut für jeden von uns und für mich, der bereits sogar von – zugegeben auch mal andere Pflanzen verdrängenden – Neophyten regelrecht gerettet wurde. Am 6. August 2016 war das zum Beispiel, auf dem Gelände des riesigen Güterbahnhofs in Leipzig –total abgeschieden, nichts zu essen und nichts zu trinken. Ich wollte dafür partout nicht extra das Gelände verlassen! Was bot sich da an? Von der großen Palette an Neophyten futterte ich dort über Stunden prallste und süßeste Beeren der Armenischen Brombeere vom Kaukasus, zum Nachtisch gab es Sprossen von Verschiedensamiger Melde aus Westasien. Obst und Gemüse sozusagen auf dem Gleisparkett. Nur das, was man kennt, kann man nutzen, gegebenenfalls dann auch schützen. Kann man ein- und zuordnen, gegebenenfalls auch gerne mal vorwarnen.
Die Graukresse ist eine hervorragende Bienenfutterpflanze, die Straßen und Böschungen säumt.
Auch ich finde, in Naturschutzgebieten muss man beispielsweise Japanische Staudenknöteriche nicht wuchern lassen (sofern noch zurückdrängbar). Erwähnter Riesen-Bärenklau muss in wenigen Jahren nicht am Klarwasserbach seelenruhig von zehn auf Hunderte Exemplare anwachsen. Inzwischen kommen wir aber bei ihm oder beim Drüsigen Springkraut vom Himalaya um Lichtjahre zu spät. Ob sich dieses doch hübsche, ja essbare Zeug nun mit Brennnesseln, Hopfen, Rohr-Glanzgras, Schilf, Weiden oder Zaun-Winde duelliert, da bin ich eher entspannt. Kinder von Traurigkeit sind sie nämlich alle nicht.
Neue Pflanzenarten wanderten ab 1492 mit der Entdeckung Amerikas und der danach einsetzenden Erkundung des Seewegs nach Ostasien ein. Unsere wichtigsten Neubürger, alle fest eingebürgert. Kräuter flach wie ein Handteller oder bis zu vier Meter hoch. Gerade schwer angesagt, groß in Mode, teils in aller Munde. Viele davon durchaus absichtlich zuerst in Haus- und Botanische Gärten geholt, weil zunächst schön anzusehen, dann aber achtlos als Abfälle in die Pampa entsorgt. Auf jeden Fall ein Grund, eingefahrene Standpunkte und alte Gewohnheiten zu überdenken, neue Naturentwicklungen und veränderte Artenzusammensetzungen zu akzeptieren. Und ja, auch wieder mal (m)eine Liebeserklärung: Dieses Buch soll Neugierde wecken, Vorurteile abbauen und Wissen erhöhen. Dahin möchte ich Sie bringen, zu neuen Ufern, zu den 111 bedeutendsten Neophyten in Deutschland – von den Küsten im Norden bis zum Alpenrand im Süden.
Ihr Jürgen Feder