Читать книгу Der Segen der Einwanderer - Jürgen Feder - Страница 6
ОглавлениеDie punktierte Nachtkerze bietet vielen Insekten reichlich Nahrung.
AUFBRECHEN ZU NEUEN UFERN
NEOPHYTEN – PFLANZEN FÜR DIE ZUKUNFT
Wichtig für unsere Flora
Neophyten (von griech. neos = neu, phyton = Pflanze) sind neben unseren ganz ursprünglichen Pflanzenarten, den sogenannten Indigenen (Idiochorophyten), und den schon vor 1492 etablierten Alteinwanderern, den Archaeophyten (von griech. archaeo = alt, phyton = Pflanze) die dritte wichtige Säule der heimischen Flora. Archaeophyten und Neophyten werden in ihrer Gesamtheit als Agriophyten bezeichnet (von griech. agrios = einwandernd).
Zu den Indigenen zählen etwa Besenheide, Breit-Wegerich, Edelweiß, Sand-Birke, Stiel-Eiche und Sumpfdotterblume. Sie waren von Anfang an da. Archaeophyten sind z. B. zahlreiche Ackerbegleitarten (Segetalpflanzen), die vor allem aus Süd- und Südosteuropa zu uns gelangten. Hier können Acker-Hahnenfuß, Acker-Senf, Kornrade, Persischer Ehrenpreis und Saat-Mohn genannt werden.
Bei den erst ab 1492 mit der Entdeckung Amerikas übergesiedelten Gewächsen unterscheiden wir die eingebürgerten Neophyten, die sich inzwischen ohne direktes Zutun von Menschen halten, und die unbeständigen Spezies. Letzere sind die sogenannten Ephemerophyten (von griech. ephemeros = vorübergehend).
Das Thema dieses Buches sind nur die in Deutschland knapp 400 fest etablierten Wanderpflanzen ab 1492. Zum weiten Heer der unbeständigen Pflanzen zählen weitere fast 2000 Arten – etwa Bauerntabak, Dill, Koriander, Orientalischer Mohn, Persischer Klee, Sigesbeckie, Staudenblume, Wehrloser Stechapfel oder Weißer Senf.
Ehrgeizige Wanderpflanzen
Deutschland liegt bekanntermaßen in der Mitte Europas. Es grenzen hier mit neun Ländern so viele an wie an sonst kein anderes in Europa. Von Osten nach Westen, von Norden nach Süden, als Transitland sind hier die Türen und Tore sperrangelweit offen. Es kann nach Lust und Laune emigriert und immigriert werden, und das schon immer.
Selbst ausgerüstet mit Küsten, Mittel- und Hochgebirgen, bietet Deutschland im Herzen dieses Kontinents für ehrgeizige Wanderpflanzen zwischen dem sommerkühlen Schleswig im Norden und dem sommerheißen Markgräfler Land im Südwesten eine ganze Palette an Möglichkeiten der Migration, der Anpassung und der Einnischung.
Eine Daseinsberechtigung hat jede neue Pflanze, wir müssen jetzt nur das Beste daraus machen. Mit diesem Thema nun ganz konkret befasst, fielen mir auf einer Autofahrt Ende Juli 2020 von München in die Alpen und von da über Augsburg, Mannheim, Mainz, Gießen, Münster wieder zurück nach Bremen etwa 140 »Neophyten« ein, alle im Laufe dieser sieben Tage auf einem großen Zettel auf dem Beifahrersitz notiert.
Zu Hause stellte sich dann heraus, dass einige der Pflanzen doch schon vor 1500 zumindest in Teilbereichen Deutschlands fest neubeheimatet sind, wie etwa Mittleres Barbarakraut, Gewöhnliche Osterluzei, Gewöhnliches und Mauer-Glaskraut, sodass ich etwa 20 wieder streichen musste. Blieben jetzt noch 120 für die anvisierten 111 Neophyten in diesem Werk übrig. So war es nur ein kurzes Abwägen, bis ich zum endgültigen Ergebnis kam.
Maßstab bei meiner Auswahl ist eine repräsentative Abfolge quer durchs Land – von den Küsten bis zu den Alpen, von ganz im Westen bis ganz in den Osten – sowie eine möglichst große Bandbreite an Biotoptypen – genauer gesagt 20 an der Zahl. Und zusätzlich möglichst auch immer nur ein einziger Vertreter einer jeden Gattung.
Alle auch Laien bekannten, alle dominanten, alle wichtigen pflanzlichen Marschierer sind berücksichtigt – bereits ab dem 16. Jahrhundert ihrer ersten Verwilderung bis sogar noch in die 1990er-Jahre des letzten Jahrhunderts. Also bis hin zu allerletzten Turbozündern wie Klebriger Alant, Meerfenchel und Verschiedensamige Melde. Erwartungsgemäß finden sich von Äckern, Bahnrändern, Flussufern, Straßen und Wäldern mehr Neophyten als etwa von Sandgruben, Teichen oder Wiesen. Sortiert ist das Ganze für alle Lebensräume, in alphabetischer Reihenfolge der wissenschaftlichen Namen.
Unberücksichtigt bleiben demzufolge zahllose Neophyten, oft beschränkt auf auch nur einzelne Bundesländer. Maßstab für die Auswahl ist nur ein beständiges Neophytendasein in ganz Deutschland.
2021 am mittleren Main oberhalb von Würzburg vor Echtem Mädesüß und Blut-Weiderich
So haben sich vor allem in den letzten 60 Jahren viele einheimische, auch sehr seltene Pflanzenarten urplötzlich in Deutschland aufgemacht und ihr Areal erheblich erweitert – aus bis heute teilweise ungeklärten Gründen. Hier nur kurz zu erwähnen sind von Bahnanlagen Dolden-Spurre, Dreifinger-Steinbrech, Mäuseschwanz-Federschwingel und Großer Bocksbart. Von Straßenrändern Gewöhnlicher Salzschwaden, Krähenfußblättriger Wegerich, Platthalm-Binse, Salz-Schuppenmiere und Schutt-Kresse. Von Kanälen Erz-Engelwurz oder Sumpf-Gänsedistel, von Pflasterflächen Gelbweißes Ruhrkraut. Von Gärten und Rasen Behaartes Schaumkraut, Bleiche Vogelmiere und Knäuel-Hornkraut.
Alle letztendlich berücksichtigten Neulinge gelangten per Bahn, Lkw oder Schiff zu uns. Sie kamen mit Boden oder zunächst durch Ansaaten, überbrückten weite Entfernungen aus fernen Ländern als mitgebrachte und hier kultivierte Zierpflanzen, klebten als Samen und somit als extrem blinde Passagiere im Vogelgefieder oder an unseren Schuhsohlen.
Manche Neophyten wurden zunächst feldmäßig angebaut und büxten dann aus, wieder andere waren zunächst unerkannte Mitbringsel mit Forstgehölzen oder fremden Getreidesorten. Viele davon sind auffallend licht-, nährstoff-, trockenheits- und wärmeliebend, besitzen zahlreiche Samen und/oder unduldsames Wurzelwerk (Rhizome). Demzufolge letztendlich unschlagbare Kombinationen, aktuell gravierend genau unsere veränderten Lebensbedingungen widerspiegelnd.
Die Täuschende Nachtkerze zählt zu den erfolgreichsten Neophyten überhaupt.
Neophyten und ihre Pflanzenfamilien
Insgesamt verteilen sich unsere wichtigsten 111 Neophyten auf 46 Familien. Gleich 20 davon sind Korbblütler (Asteraceae), 12 zählen zu den Kreuzblütlern (Brassicaceae), je sechs Neophyten sind Süßgräser (Poaceae), Rosengewächse (Rosaceae) und Rachenblütler (Scrophulariaceae). Dem gegenüber schicken 29 Familien nur je einen Kandidaten ins Rennen. Es gibt auch besonders »neophytenaffine« Gattungen wie die Melden (Atriplex, gleich acht Neophyten) oder die Beifüße (Artemisia), nach Möglicheit werden am Ende auch noch einige weitere kurz erwähnt.
So kommen an breiten Flüssen Einjähriger und Zweijähriger Beifuß fast immer als Duo vor. In Ostdeutschland an Autobahnen und Bundesstraßen gar nicht selten findet sich gleich ein Neophyten-Quartett aus Glanz-, Langblättriger, Tataren- und Verschiedensamiger Melde. Andererseits blieben doch sonst so artenreiche Familien wie die Sauergräser (Cyperaceae), Geißblatt- (Caprifoliaceae) und Hahnenfußgewächse (Ranunculaceae) ganz ohne Quereinsteiger.
Hier zu sehen ist das einheimische Bitterkraut (gelb) und der Natternkopf (blau).
Ein spannendes Thema
Kurzum, ein extrem spannendes Thema zum wichtigen Zukunftskomplex »Artendiversität und Florenwandel«. Mich nun seit über 35 Jahren faszinierend, ständig weiter in rasanter Veränderung und sicher auch noch in Zukunft manche Überraschung bereithaltend. Für viele Gleichgesinnte schon immer das florale Salz in der Suppe – ob zu Lande, zu Wasser oder aus der Luft.
Um es hier noch einmal ganz explizit zu erwähnen: Als Folge unseres jetzt schon Jahrtausende währenden Raubbaus an der Natur, im Rahmen des menschengemachten Klimawandels, der ewigen Überdüngung – gerade auch aus der Luft – sind Hunderte unserer ureigenen Spezies voll im Vorwärtsdrang. Sie drängeln, überwuchern und geilen sich dadurch regelrecht auf!
Wer es noch immer nicht bemerkt hat: Wir verahornen nämlich gerade (so viel Jungwuchs gibt es alljährlich)! Wir verbrennnesseln und vergierschen schon länger, jetzt verbarbarakrauten, verefeuen, verfingerhirsen, vergundermannen, verkompasslattichen, verfederschwingeln, verlabkrauten, vermäusegersten, verrainkohlen und vertaubtrespen wir, was das Zeug hält. Jetzt habe ich einfach mal ein paar ganz neue deutsche Begrifflichkeiten kreiert. Wie können sie alle nur? Nein, diese Einwanderer werden regelrecht dazu angestiftet, müssen sogar, sie sollen es sogar. Wir waren und sind nur deren ewige Handlanger und Steigbügelhalter.