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Kapitel 8

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Sebulan

Er saß auf einem Felsvorsprung im Riff und ließ die silbrigen Strahlen des Mondlichts durch die Wellen auf seine Flosse rieseln. Nachdem Noellan verschwunden war, hatte die sentimentale Schwäche noch stärker Besitz von ihm ergriffen. Sebulan warf einen kurzen Scan in die umliegenden Gewässer, um sicherzugehen, dass niemand ihn in seinem Zustand zu Gesicht bekam; denn das hätte das Ende seiner Position bedeutet. Jemand wie er durfte keine Schwäche zeigen. Vermutlich war das auch der Grund, wieso er der beste aller Spione war; er hatte gelernt, seine Gefühle abzutöten. Doch in dem Moment überfielen sie ihn wie ein Dieb in der Nacht.

Irgendwas an dem Phenorenjungen erinnerte ihn an sich selbst. An seine Zeit an der Oberfläche, seine Zeit unter den Menschen. Noellans Worte hatten Sebulan wie die Klinge eines Messers getroffen.

Soll ich dir was von da oben mitbringen? Irgendwas, was du vermisst?

Er schüttelte lachend den Kopf; verzweifelt lachend. Was nun? Sebulan hockte dort und fühlte sich vollkommen leer. Worauf wartete der Mariane denn noch? Er hatte seinen Auftrag erfüllt, er hatte Noellan die Nachricht überbracht. Hatte der alte Mann keine neuen Anweisungen für ihn? Für gewöhnlich meldete Olamanassa sich stets durch Visionen oder Träume, um ihm einen Auftrag zu erteilen, sobald eine Mission erfüllt war. Doch nicht in jener Nacht. Nein, jene Nacht schien dafür bestimmt zu sein, um zu Grübeln. Über Vergangenes und Unbegreifliches. Über Noellan und das strikte Verbot, dem Jungen etwas anzutun. Warum ließ der alte Mann das zu? Wieso kam Noellan damit durch, einen Menschen dort hinab zu bringen, das Mädchen teilhaben zu lassen an ihrer Welt?

Plötzlich schoss er in die Höhe, tat einen einzigen Schwimmstoß und war wieder er selbst. Sebulan hatte etwas bemerkt. Jemand tauchte ganz in der Nähe und er war Profi genug, um im Ernstfall stark zu sein. Er hatte das Muster des Fremden längst erfasst, bevor jener Sebulan überhaupt bemerkt hatte. Lachend schwamm er den Gedankenwellen des Wesens nach. Und es waren Gedankenwellen, die es mit einem Tsunami hätten aufnehmen können: laut, wütend und unvorsichtig drangen sie durch die Wasser. Dann sah er ihn. Sebulan tauchte eine Weile unbemerkt hinter ihm her, bis er es nicht länger aushielt, seine eigenen Gedanken zu zügeln.

Elbrokas!, rief er. Du bist nicht der erste Mensch, den ich in dieser Nacht aufgabele. Und bei dir bin ich mir ziemlich sicher, dass du diese Bezeichnung nicht als Beleidigung, sondern als Kompliment auffasst. Trotzdem solltest du deine vergessene Heimat mit mehr Vorsicht genießen. Du bist so laut, dass du ungebetene Gäste anlockst.

Der Phenor hielt inne und Sebulan gab sich zu erkennen. Na, alter Freund. Willst du mit deiner Wut den Ozean aufheizen?

Sebulan! Kurze Freude in Elbrokas’ Stimme wich seinem Zorn. Wo ist er? Wo ist mein Sohn?

Du bist auf der Suche nach Noellan? Ihr solltet eure Probleme besser da oben ausdiskutieren. Stattdessen werft ihr den Rebellen neues Futter vor die Flosse. Vergiss nicht, sie haben ihre Augen überall.

Elbrokas zog ihn an sich und seine Blicke durchbohrten ihn. Wo steckt dieser Junge?

Vorsicht, oder muss ich dich daran erinnern, mit wem du es hier zu tun hast?

Hör zu, Mann, das ist kein Spiel! Noellan ist für uns alle dort oben und hier unten zu einer großen Bedrohung geworden. Olamanassa und du solltet in Erwägung ziehen, ihn unverzüglich zurückzuholen.

Scht! Das ist genau das, was hier alle hören wollen! Folge mir. Wir reden an einem Ort, an dem wir weniger Aufsehen erregen.

Er tauchte in einen schmalen Graben hinab. Der Phenor folgte ihm durch unzählige Labyrinthe, deren Gestein lästigen Mithörern das Gedankenlesen nahezu unmöglich machte.

Hier sind wir sicher, sagte er und zog Elbrokas in eine kleine Höhle. Was ist geschehen, mein Freund?

Ich weiß es nicht. Der Phenor lehnte sich an die Felswand und klang verzweifelt. Seit Monaten habe ich das Gefühl, keinen Zugang mehr zu diesem Jungen zu finden. Er geht mir aus dem Weg, sträubt sich gegen alles, was ich ihm vorschlage und jetzt … jetzt ist da dieses Menschenmädchen. Elbrokas seufzte. Ein Menschenmädchen! Kannst du dir das vorstellen? Der Junge hat sich tatsächlich von allem abgewandt, was ich ihm in all den Jahren beigebracht habe. Er benimmt sich wie einer von denen! Hat er unser Volk denn völlig vergessen? Sicher, wir fühlen uns wohl dort oben; wohler als zu jener Zeit hier unten – ich zumindest. Aber ganz gleich, wie viele Jahre wir auch dort leben mögen, nichts gibt ihm das Recht dazu, sich mit einer von ihnen zu verbinden! Er sollte seiner Schwester nachkommen und sich eine Frau aus unserem Volk erwählen!

Sebulan wurde hellhörig. Verbinden? Wovon redest du da? Wie ernst ist das zwischen ihm und ihr?

Elbrokas lachte verächtlich. Sebulan, ich sagte doch, dass der Junge zu einer Gefahr für uns alle geworden ist. Hast du vergessen, was auf Cassinas Hochzeit geschehen ist? Allein die Tatsache, dass er sie hierhergebracht hat … Sie weiß alles, Sebulan!

Ja, ich kenne die Geschichte. Und ich kann dir keine Erklärung geben für das, was Olamanassa unterlassen hat. Glaub mir, diese Geschichte ist noch nicht zu Ende. Elbrokas fuhr fort, während die Wut erneut in ihm aufflammte. Es ist etwas passiert, mein Freund. Die beiden haben hinter meinem Rücken geheiratet!

Sie haben was?, rief er und ließ sich sein Entsetzen anmerken. Sebulan durchfuhr es heiß und kalt.

Du hast richtig gehört. Ich weiß nicht, was wir tun sollen. Ich weiß überhaupt nichts mehr.

Elbrokas lehnte resigniert an der Felswand, während Sebulan außerstande war zu sprechen. Die Worte hatten ihn härter getroffen, als er offenbarte. Damit hatte der Junge alle Gesetze gebrochen, die es diesbezüglich gab. Und wieder fragte er sich, wieso der alte Mann nicht reagierte.

Nichts, flüsterte er schließlich. Wir können gar nichts tun. So leid es mir tut, aber solange der Mariane sich nicht rührt, sind uns die Hände gebunden. Wenn ich nur wüsste, wieso er das duldet. Ich verstehe das selbst nicht, glaub mir, Elbrokas. Und ich bin sicher, Olamanassa weiß längst viel mehr als wir alle zusammen … Meinst du, wir können ihr vertrauen, diesem Mädchen?

Ich weiß es nicht. Aber ich fürchte, wir haben gar keine andere Wahl. Noellan tut es jedenfalls … Ich bin so wütend auf ihn, dass ich ihn am liebsten an den Grund des Eismeeres ketten würde! Dabei ist der Junge eigentlich immer verlässlich gewesen. Er hat sehr oft in vielen Dingen richtig gelegen, wo ich noch gezögert habe. Hoffen wir, dass er sich in dieser Sache nicht von ihren weiblichen Reizen hat blenden lassen …

Sebulan ging in Gedanken unzähligen Möglichkeiten nach, wie er in die Geschichte intervenieren könnte. Doch er kam zu keinem annehmbaren Ergebnis. Plötzlich schaute Elbrokas auf. Was ist eigentlich mit dir da oben passiert? Du warst ganz allein, all die Jahre über als der Erste von uns, bis Lehandra und ich dir gefolgt sind. Du warst immer nur schweigsam in deine Arbeit vertieft. Wie hast du es geschafft, dich zu jenem Volk auf Distanz zu halten?

Die Stelle, in der Noellan zuvor gebohrt hatte, riss erneut in ihm auf.

Ich war dir dort oben nicht ganz unähnlich, alter Freund, sagte er mit leiser Stimme. Irgendwann sieht man sich als Teil jener Rasse an, um dem Zwiespalt in seiner Seele eine Richtung zu weisen. Doch ich habe meinen Zwiespalt lange Jahre unterschätzt. Der Teil meines Herzens, der dem Ozean gehörte, wurde so stark, dass ich ihm nicht länger widerstehen konnte. Er hat mich zerrissen. Ich bin hier unten nie wieder zu dem geworden, der ich vor der Zeit gewesen bin. Wenn ich dir einen Rat geben darf: Verleugne niemals vor dir selbst, was du bist, denn es wird dich umbringen. Der Tag wird kommen, an dem du zurückkehren wirst, ob du das willst, oder nicht. Bereite dich schon jetzt darauf vor, denn tust du es nicht, bist du verloren. Schau mich an, ich habe gleich zwei Leben verwirkt. Geh, und versöhne dich mit Noellan. Es gibt Dinge, die man richten sollte, solange man die Möglichkeit dazu hat.

Er wusste, dass Elbrokas die Worte nicht begriffen hatte. Wie auch? Der Phenor hatte keine Ahnung von dem, was Sebulan gebrandmarkt hatte.

Mich mit ihm versöhnen? Er war es doch, der mir in den Rücken gefallen ist. Der meine Autorität und meine Verantwortung für die Familie untergraben hat. Wo steckt Noellan? Ist er bei Olamanassa? Bring mich zu ihm! Nein. Sebulan schüttelte den Kopf. Dein Sohn ist längst wieder dort oben. Der Mariane hat diese Gewässer hinter sich gelassen – Noellan hat ihn verpasst. Geh jetzt, Elbrokas. Ich muss nachdenken. Und gib acht, dass dein Stolz dir nicht das Genick bricht.

Das Flüstern der See

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