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Kapitel 12

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Tom

Er saß unweit seines Hauses in den Dünen und starrte auf den Horizont. Die Abenddämmerung brach herein. Seit Stunden wartete er auf seinen Sohn, den er nirgends gefunden hatte. Tom war noch immer von jener Wut gelähmt, die seit dem Vortag einfach nicht von ihm abfallen wollte. Er umklammerte seine Knie und ballte die Hände zu Fäusten, um nicht zu explodieren. Einmal mehr mischte sich die gähnende Schwärze – das Vakuum in seinem Kopf – unter den Zorn. Schmerz erfasste seine Gedanken und Bilder zogen taub und farblos vor seinem Auge dahin. Den jahrzehntealten, blitzartigen Schmerz allein hätte er vielleicht ertragen; Tom hatte einst eine Strategie entwickelt, sich ihm zu stellen und ihn zu kontrollieren. Doch in Momenten wie dem brach seine Welt wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Die Wut in seinem Herzen beanspruchte so viel Platz, so viel Energie für sich, dass Tom kaum noch Kraft zum Atmen fand. Wieder einmal wurde ihm klar, dass seine Vergangenheit niemals aufhören würde, ihn tonnenschwer unter ihrer Last zu erdrücken. Jedenfalls nicht, solange er sie weiterhin unbearbeitet in seinem Unterbewusstsein aufbewahrte. Tom wusste, dass Sebulans Worte Weisheit in sich getragen hatten. Doch in dem Augenblick war er wie mit Blindheit geschlagen, was deren Deutung anging.

Dann verriet ihm der Wind, dass jemand sich näherte. Das Donnern in seiner Brust schwoll an. Wenig später tauchte Samuel zwischen den Dünen auf und stockte in sicherer Entfernung.

Ihre messerscharfen Blicke trafen aufeinander, glühend und blitzend wie Laser.

Tom krallte seine Fäuste ineinander, bis es schmerzte. Samuel rührte sich nicht. Er blockte jeden Gedanken ab und hielt Toms Blick stand. Dann setzte er einen Schritt in seine Richtung. Tom sprang auf. Sein Atem zischte. Für eine Sekunde lang registrierte er den weichen Schauer, der über seinen Rücken strich. Die schwebende Leichtigkeit, mit der Lynn durch den Sand schritt. Sie war gekommen, um ihn zu versöhnen, um ihn mit Güte zu überhäufen, die sich auf seiner Haut in unbändigen Zorn wandelte.

Mit jedem Schritt, den Samuel auf ihn zutat, spürte Tom, dass sein Sohn keinerlei Absicht hegte, sich auf einen Streit einzulassen. Tom sah in ihm einen Gegner, Samuel dagegen löste seinen Blick von ihm und richtete ihn auf seine Mutter. Das ließ Tom nicht zu. Als Sam auf gleicher Höhe war, sprang er auf ihn, packte ihn am Arm und riss ihn herum.

„Hast du mir nichts zu sagen, Junge?“, fauchte er.

„Nichts, was dir neu wäre, Dad.“

Noellan, lass uns bitte allein. Lynn sandte ihrem Sohn klare Worte.

Sam löste sich aus dem harten Griff und verschwand in Richtung Haus. Tom starrte ihm fassungslos hinterher. Solche Feigheit heizte seine Wut nur noch mehr an. Brüllend sprang er ihm nach, um die Sache Mann gegen Mann auszutragen, doch seine Frau hielt ihn zurück.

„Es ist genug!“, fuhr sie ihn an.

Mit voller Wucht stieß er sie weg, sodass Lynn rücklings in den Sand stürzte. Er sprang auf sie und spürte das Kribbeln in seiner Faust, die eben zum Schlag ausholte.

Lynn starrte ihn entsetzt an, bevor seine Blicke verschwammen. Heiße Tränen brannten in seinen Augen. Seine Faust sank schlaff in die Gräser hinab und er schluchzte wie ein Baby.

Hilf mir, Lehandra, hilf mir, ich ertrage es nicht mehr.

Seine Stimme hatte sich in ein flehendes Flüstern verwandelt. Tom ließ von seiner Frau ab und brach im Sand zusammen. „Warum bist du noch hier? Warum, Lehandra? Wieso hast du mich nicht längst verlassen? Hast du nicht bemerkt, zu was ich geworden bin?“

Sie streichelte mit zitternden Fingern durch seine salzigen Haare. „Du bist Elbrokas, mein Geliebter.“

„Nein! Der war ich einmal.“

Ihre Zärtlichkeiten schmerzten mehr als die Blitze und die Wut in seinem Kopf.

„Elbrokas, solange auch nur der winzigste Hauch deiner Selbst in dir verweilt, werde ich bei dir bleiben. Ich glaube an den Funken Hoffnung in dir. Denn ich trage die Flamme in meinem Herzen, die diesen Funken erneut entfachen kann, wenn du es nur zulassen würdest.“

Sie beugte sich über ihn und löschte die brennenden Tränen mit ihren Küssen. Er wehrte sie ab. Tom hatte keine Ahnung, wie er sie erwidern sollte. Vermutlich war jede Art zu Lieben in seine dunkle Vergessenheit geraten. Verlorenes hatte sich mit Erzähltem gemischt, Zusammengereimtes mit Mosaiken der Vorzeit. Nichts in seinem Kopf entsprach irgendeiner Realität.

„Samuel hat mich hintergangen“, wimmerte er. „Ihr alle habt das getan. Wie soll ich das verzeihen können? Sag es mir, Lynn. Ich erinnere mich nicht daran zurück, wie man verzeiht. Mit jedem Tag saugt dieses Vakuum einen weiteren Teil von mir auf.“

Sie schlang die Arme um seinen Hals und ihre Tränen perlten an seiner Brust ab.

„Du musst ihm verzeihen. Erinnere dich an unsere Liebe. Wenn du das schaffst, dann kannst du ihm verzeihen. Sieh dich selbst in Samuel. So, wie er liebt, haben auch wir einander geliebt. Du darfst nicht in Heralodes’ Rolle schlüpfen, hörst du? Sonst bist du nicht besser, als er es war.“

Bei dem Namen schaute er auf. Das Bild jenes Mannes erschien vor ihm; er war der Ursprung dessen, was ihn zerfraß.

Heralodes“, wiederholte er bebend.

Lynn legte ihre Stirn an seine Schläfe und ließ ihn daran teilhaben, wie alles begonnen hatte.

Er konnte nur wenige Bilder ertragen, dann schob er seine Frau weg.

„Hör auf damit, bitte!“

„Wie du willst“, sagte sie und tippte an ihren Kopf. „Sie sind hier. Wann immer du bereit dazu bist, bin ich es auch. Du bist nicht allein, gemeinsam können wir es schaffen. Aber bitte, versprich mir, dass du nicht so wirst wie er.“

Er hob ihr Kinn an und fand in ihren Augen ein glasklares Universum, das ausschließlich aus Liebe existierte.

„Fürchtest du dich nicht vor Kriemhild? Bin ich denn der Einzige, der dieser Menschenfrau nicht traut?“

„Nein, Tom, ich fürchte mich nicht vor ihr. Und du brauchst dich auch vor niemandem zu fürchten. Weder vor Kriemhild, noch vor Heralodes oder vor dir selbst. Gestatte deinem Sohn einfach, mit seiner Frau glücklich zu sein.“

Er seufzte und setzte sich auf. Die Nacht war längst hereingebrochen.

„Ich will Sam nicht sehen. Gebt mir Zeit. Ihr wisst nicht, wie es ist, jeden Tag bei null anzufangen.“

„Niemand verlangt von dir, dass du dich quälst. Mein Angebot steht, Tom, worauf wartest du noch? Nimm mich, nimm dir meine Erinnerungen und mach sie zu den deinen.“

„Ich kann nicht.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich bin sicher, dass zu viele der Lücken sich einfach nicht mehr verschließen lassen.“

„Du musst mir vertrauen. Ich habe so viele Bilder in mir, dass sie jeden noch so schwarzen Fleck in deinem Kopf ausfüllen werden.“

Das Flüstern der See

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