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Kapitel 9

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Kriemhild

Sie hatten Amsterdam hinter sich gelassen und befanden sich auf dem Heimweg. Das Meer war ganz in der Nähe. Es lag in der Nachmittagssonne glitzernd am Horizont. Kriemhild roch die herbe Seeluft. Der Wind schmeckte salzig, Gischt und Seetang erfüllten die Luft. Durch das etwas heruntergelassene Fenster der Beifahrertür trug die Brise das Geschrei der Möwen an ihr Ohr. Ihr Herz schmerzte. Es fühlte sich an, als würde die Kette sich immer tiefer in ihre Haut bohren und sie in den Ozean hinabziehen; in jene Riffe, durch die Sam sie noch vor wenigen Tagen geführt hatte. Sie hörte das Rauschen der Wellen in ihrer Erinnerung und schmeckte die salzigen Tropfen auf den Lippen. Kriemhild sah die kristallklaren Fluten vor ihrem inneren Auge und den gewellten Meeresgrund, nach dem sie sich sehnte.

Samuel war noch immer dort unten. Jedenfalls hatte er sich noch nicht bei ihr gemeldet. Er war weit weg, irgendwo in den unergründlichen Tiefen des Atlantiks. Vermutlich wäre es einfacher gewesen, einen Kontakt zur ISS herzustellen als zu ihm.

Sara schwieg, sie hatte den Arm an die Fensterscheibe gelehnt und die andere Hand am Steuer. Plötzlich durchbrachen ihre Worte die Stille: „Hey, Kriemhild, aufwachen! Das ist ja nicht zum Aushalten mit dir!“

„Was? Wie bitte? Ich … ich war wohl kurz in Gedanken. Tut mir leid.“

Kurz in Gedanken? Dass du vorhin bei McDonald’s fast vor die Glastür gerannt wärst, das nenn ich kurz in Gedanken! Aber nicht, wenn man eine geschlagene Stunde lang auf sämtliche Fragen nur mit Ja oder Nein antwortet. Vielleicht wärst du besser mit dem Zug gekommen. Mann, du bist wie ausgewechselt! Ich will meine Freundin zurück!“ „Hey, sorry, Sara. Gib mir ein oder zwei Tage. Ich bin einfach noch nicht angekommen, verstehst du? Wie wär’s, wenn du mir was erzählst? Dann komm ich auf andere Gedanken. Was hast du in den vergangenen Monaten so getrieben?“

„Liebend gern – ich bin jedenfalls die bessere Rednerin von uns beiden. Versprichst du denn auch, mir zuzuhören?“

Kriemhild lächelte. „Ich verspreche es!“

Sie passierten Groningen. Noch etwas mehr als zwei Stunden und sie wären daheim …

„Bist du müde?“, fragte Kriemhild. „Soll ich dich beim Fahren ablösen?“

„Um Gottes willen, nein! Du hast diese Samuel-Droge geschluckt und bist auf ‘nem ziemlich miesen Trip. Ich will lebend zu Hause ankommen, wenn du verstehst, was ich meine.“

„Dann solltest du besser nach vorn schauen. Und jetzt erzähl, was hast du den ganzen Sommer über gemacht?“

„Na, dreimal darfst du raten! Ich habe mich in letzter Zeit nach ‘ner Bude in Hamburg umgesehen, oder glaubst du, ich hatte so ‘nen abgefahrenen Sommer wie du?“

Kriemhild schluckte. „Eine Bude in Hamburg?“

„Ja, klar! Wir zwei machen ‘ne WG auf, du und ich, das hab ich so beschlossen. Wie wär’s wenn wir in den nächsten Tagen mal hinfahren und uns die Wohnungen zusammen anschauen? Da waren echt ein paar coole Hütten dabei! Und in einer Woche beginnen die ersten Vorlesungen … Das hast du doch auf dem Schirm, richtig?“

Sie dachte an Lynns Umschlag. An die Bewerbungsunterlagen für das Auslandsstudium in Boston.

„Richtig, das hab ich auf dem Schirm. Lass uns nach Hamburg fahren.“

Sara schaute sie an und fuhr dem LKW vor ihnen viel zu dicht auf.

„Hey, wo hast du deine Augen?“, rief Kriemhild.

„Du hast nicht vor, ‘ne WG mit mir zu gründen, stimmt’s?“

„Stimmt. Aber ich wollte es dir später sagen. Eine schlechte Nachricht pro Tag sollte ausreichen, meinst du nicht auch?“

„Kriemhild! Du kannst doch nicht von heute auf morgen dein ganzes Leben umkrempeln! Nicht nach elf Wochen! Ich meine, was hast du vor? Deiner Ma stecken, dass du verheiratet bist, Koffer umpacken und wieder abhauen? Ohne Rückflugticket? Das geht nicht gut, glaub mir. Das gefällt mir nicht. Das bist nicht du, verstehst du?“ „Doch, das bin ich, Sara“, sagte sie und schaute aus dem Fenster. „Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich das Gefühl, dass ich genau das bin, was ich jetzt gerade bin. Die vergangenen drei Monate haben mir gezeigt, was ich sein will. Außerdem bin ich noch bis Weihnachten hier. Du wirst sehen, dass sich nichts verändern wird, dass alles so bleibt, wie es ist, was Sam und mich angeht. Ich habe meinen Entschluss gefasst, denn genau das ist es, was ich will: bei ihm sein, in seiner Nähe, und zwar für den Rest meines Lebens.“

„Tut mir leid, das ist zu hoch für mich!“, rief Sara kopfschüttelnd. „Ich raff’s nicht. Aber bitte schön, klar, wir warten ab. Nur eines sage ich dir: Komm nicht heulend angekrochen, wenn in einem Jahr alles schiefgegangen ist. Ich habe dich gewarnt!“

„Danke, ich werd’s mir merken. Hey, Sara, würdest du mir einen Gefallen tun und uns an Weihnachten nach Falmouth begleiten? Meine Ma und mich? Bitte! Wir holen die Feier nach, du lernst Sam kennen und wer weiß, vielleicht verstehst du mich dann besser?“

Sara zuckte mit der Schulter. Der LKW vor ihnen nahm die nächste Ausfahrt.

„Sicher, ich komme mit und versteh’ dich. Wir verbringen in Amiland ‘ne coole Zeit miteinander, bis ich wieder abreise. Und dann? Geh’ ich in meine Studentenbude nach Hamburg und vermisse dich für den Rest meines Lebens – aber so machen wir es.“

„Sei nicht unfair, Sara. Lass uns für den Moment einfach nicht mehr drüber sprechen, okay?“

„Schon klar. Fehlt nur noch, dass du mir damit kommst, dein Sam hätte ‘nen super schnittigen Bruder …“

„Hat er nicht“, gestand sie. „Schade eigentlich. Aber wenn es das ist … Ich kenne da wen in New York …“

Mit jedem Kilometer rückte Kriemhilds altes Leben näher. Schwermütig schaute sie in die flache norddeutsche Landschaft hinaus. Kühe, Deichschafe und grüne Felder so weit das Auge reichte. Das Meer lag noch immer am Horizont, trostspendend und leise Geheimnisse säuselnd.

Am frühen Abend erreichten sie Bremerhaven und die Ortschaft, in der sie lebten. Saras schlumpfblauer Ford Ka bog in die verschlafene Straße ein, an deren Ende das kleine Backsteinhaus stand. Kriemhilds Augen überflogen das Altvertraute mit neuen Blicken: die weiße Holzbank hinter dem Gartentor aus Messing, die eingravierten Blumenranken in den Glasscheiben der blauweißen Haustür. Kriemhild seufzte leise.

„Alles ist wie immer. Meine Ma hat Pflanzkübel auf der Treppe stehen und ihre heißgeliebten, alljährlichen Geranien am Küchenfenster …“

„Ja.“ Sara lächelte. „Erst neulich erzählte sie mir, wie sehr dein Vater die roten Geranien geliebt hat.“

„Tatsächlich? Um ehrlich zu sein, bricht es mir das Herz, wenn ich nur daran denke, dass ich sie auch … verlasse.“

„Tja, wie gesagt, ich bin dagegen.“ Sara zog den Schlüssel aus der Zündung. Kriemhild fiel ihr in Arme und versuchte zu lächeln.

„Danke fürs Abholen! Und dafür, dass du meine Launen ertragen hast. Du bist einfach die Beste!“

„Ich weiß. Komm, ich helf dir noch mit dem Gepäck.“

Sie stiegen aus und Kriemhild wartete darauf, dass ihre Ma aus dem Haus gelaufen kam. Sicher hatte sie den ganzen Tag über hinter dem Fenster verbracht und Ausschau nach ihr gehalten. Eine plötzliche Sehnsucht überkam Kriemhild und sie konnte es kaum mehr erwarten, ihre Mutter endlich in die Arme zu schließen.

Sara öffnete den Kofferraum, der bis zum Anschlag mit Gepäck gefüllt war. Ein Wunder, dass es dort überhaupt hineingepasst hatte.

„Hey!“, rief es plötzlich über die Straße. „Wenn das kein guter Abend ist! Dann bist du also aus den Staaten zurück, Kriemhild?“

Im Licht der Abendsonne wirkte die herannahende Gestalt bläulich. Sara erkannte ihn zuerst und stieß Kriemhild lachend an. „Dass dieser Kerl hier aufkreuzt, war ja irgendwie zu erwarten gewesen. Darf ich ihm stecken, dass du vom Markt bist? Bitte!“

„Scht! Halt bloß den Mund! Ausgerechnet der hat mir heute noch gefehlt …“ Als der Typ aus dem Nachbarhaus – ihr ehemaliger Mitschüler – den Wagen erreicht hatte, begrüßte sie ihn. „Hey, Frank. Ja, wie du siehst, war Sara so gut, mich vom Flughafen abzuholen.“

Er erstarrte. Sein Blick haftete an ihr, als hätte jemand ihn dort festgenäht. Frank schaute so aufdringlich, dass Kriemhild sich verlegen wegdrehte.

„Hey, Frankie!“, rief Sara. „Mach den Mund zu und hilf uns mal mit dem Gepäck, du Held!“

Sie wuchtete die Koffer aus dem Wagen und stellte sie direkt vor seinen Füßen auf dem Gehweg ab.

„Klar, sag mal, Kriemhild … Du siehst irgendwie … ich meine … Wo warst du genau?“

„Was ist das denn für ‘ne erbärmliche Anmache?“, spottete Sara. „Du kriegst die Klappe doch sonst weiter auf! Lass mich raten, eigentlich wolltest du sagen: ‚Was auch immer sie hinterm Teich mit dir gemacht haben, du siehst schärfer aus als je zuvor!‘ Hab ich recht? Und jetzt verzieh dich, wenn du schon nicht mit anpacken willst.“

Er kratzte sich verlegen am Hinterkopf. „Nein, geh mal zur Seite, ich mach das schon.“

Endlich schwang die Haustür auf und Ma kam herausgelaufen, die Hand vor Aufregung an den Mund gepresst. Freudentränen glänzten in ihren Augen.

„Kriemhild! Du bist wieder da! Komm her, mein Schatz, lass dich ansehen!“

„Ma!“ Das Gartentor quietschte und sie fiel ihr in die Arme.

„Endlich! Wie geht es dir? Wie waren dein Flug und eure Zeit in Amsterdam?“

Ihre Mutter konnte sich kaum halten. Sie schluchzte und streichelte ununterbrochen über Kriemhilds Kopf.

„Danke, gut, alles ist gut, Mama. Hör doch auf zu weinen!“

„Ähm … Entschuldigung …“ Frank räusperte sich. „Wohin soll ich die Koffer …?“

„Mann! Siehst du nicht, dass die beiden beschäftigt sind?“ Sara rempelte gegen seine Schulter. „Los, komm mit, ich kenn’ den Weg.“

Die zwei verschwanden über die Stufen im Haus. Ma hielt Kriemhild an den Händen und musterte sie von oben bis unten. Kopfschüttelnd wischte sie sich die Tränen fort.

„Du bist bildhübsch, mein Schatz! Du wirst deinem Vater immer ähnlicher. Diese blasse Haut, deine Augen. Sie sind mehr als nur grün – es sind Smaragde, genau wie die von Richard!“

Kriemhild lachte. „Hör auf mit dem Quatsch! Es sind stinknormale Augen, Ma. Komm, lass uns reingehen. Ich könnte einen Tee vertragen.“

Sie nahm ihren Rucksack und folgte ihrer Mutter ins Haus. Frank kam die Treppe hinunter. Kriemhild nickte ihm zu. „Danke, echt nett von dir, das mit dem Gepäck.“

„Gern geschehen. Ich verschwinde dann mal. Wir sehen uns wohl …“

„Sicher. Mach’s gut, Frank.“

Sara lehnte im Türrahmen und hatte die Szene grinsend beobachtet.

„Oh, Mann! Du bist noch keine zehn Minuten daheim und hast dem Erstbesten schon ‘ne schlaflose Nacht verpasst. Ich denke, du gehörst eingesperrt!“

„Hör auf damit! Das mit Frank ist nicht mein Problem! Er hätte ja nicht helfen müssen.“

„Doch“, Sara hatte ihr Dauergrinsen drauf, „musste er. Und lass mich raten: Gegen Sam hat er sowieso keine Chance.“

„Trinkst du noch einen Tee mit uns?“

„Na klar. Ich schließ nur schnell das Auto ab und rauch mir eine.“

Das Flüstern der See

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