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Kapitel 3

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Samuel

Währenddessen saß Sam an den Klippen und schaute auf den Ozean hinaus. Es war derselbe Platz, an dem er so oft mit Kriemhild gesessen hatte. Nicht mehr lange und die Sonne würde im Westen in die Buzzards Bay eintauchen. Irgendwo unter ihm taumelten Lummen im Wind, die schäumende Brandung am Fuß der Felsen und die salzige Gischt, die seine Sinne betörten, das leise Säuseln und Flüstern der See, die sehnsüchtig nach ihm rief; alles schien wie immer und nichts war wie zuvor.

Seitdem Kriemhild fort war, wuchs unaufhaltsam ein riesiges Loch in seinem Herzen und hatte nach nicht mal einem Tag jede Schmerzgrenze überschritten.

Dad hatte überaus zufrieden geschaut, zuvor, als er ihm über den Weg gelaufen war. Die arrogante Genugtuung in seinem Blick, die stille Gewissheit seines Vaters, einen weiteren Sieg davongetragen zu haben. Samuel lachte. Er hatte keine Ahnung, wie er Dad beibringen sollte, dass er zum ersten Mal eine Niederlage einstecken musste – eine ziemlich derbe obendrein.

Sam verspürte nicht den leisesten Drang heimzugehen und fasste stattdessen einen Entschluss. Er zog das Handy aus der Hosentasche und tippte eine Nachricht. Danach warf er es zusammen mit seinem Shirt in die Dünen, nahm Anlauf und sprang.

Der Ozean nahm sich seiner kühl und aufbäumend an. Das salzige Wasser durchströmte seine Lungen und Samuel hätte schwören können, dass alles anders schmeckte als noch vor Amys Hochzeit – bevor er für wenige Stunden seine Flosse zurückerhalten hatte. Irgendwas war anders. Wenn er es nur in Worte fassen könnte.

Trotz der Dämmerung sah er alles, was er sehen musste. Er tauchte dicht am Grund entlang, weit hinaus bis zum Graben und an die Stelle, wo der sandige Untergrund sich in den felsigen Abhang verwandelte, der in die Tiefsee abfiel. Korallen siedelten am Vulkangestein. Die bunten Fischschwärme hatten sich längst in sichere Spalten und Ritzen zurückgezogen, um Schutz vor nächtlichen Räubern zu suchen. Vor ihm öffnete sich das Riff und verwandelte sich in die Weite des Ozeans, der kaum Grenzen kannte. Die Freiheit war so verlockend! Doch er musste ihr widerstehen, was seinem Körper auf seltsame Weise Schmerzen bereitete.

Sam hatte keine Ahnung, wo Amy steckte und obwohl er mental nach ihr Ausschau hielt, bekam er keine Antwort. Er hatte seiner Schwester versprochen, sie aufzusuchen, um von den Problemen zu erfahren, von denen sie drei Tage zuvor gesprochen hatte. Sam sorgte sich um sie und wollte die Gelegenheit nutzen, mit dem alten Marianen zu sprechen. Olamanassa würde ihm sicher einen Grund nennen, wieso Tom ihm nicht den Kopf abreißen sollte, wenn er von der Hochzeit erfuhr.

Vielleicht sollte er hinabtauchen, in die Stadt. Irgendwer würde ihm schon darüber Auskunft geben, wo seine Schwester und Malahan sich aufhielten. Auch wenn sie ihm dort unten sicher kein Willkommensfest bereiten würden. Samuel hasste es, für etwas zu bezahlen, das er nicht verschuldet hatte, und dafür als etwas verstoßen worden zu sein, das er niemals freiwillig gewählt hätte zu sein: ein Mensch. Kriemhild war der einzige Grund, wieso er mit seiner momentanen Daseinsform Frieden geschlossen hatte.

Er tauchte über den Graben hinweg und sank senkrecht in die dunkle Tiefe. Vorbei an Algenwäldern und kargen Felsen. Mit jedem Meter, den er tiefer gelangte, veränderte sich die felsige Wand zu seiner Linken. Die Landschaft wurde öder und der Wasserdruck stärker – genau der machte Sams Menschenkörper deutlich mehr zu schaffen als seiner eigentlichen Gestalt. Er hatte nie zuvor versucht, ohne Flosse in die Stadt hinabzutauchen und hatte keine Ahnung, ob er es bis dort runter schaffen würde. Doch dann, weit unten am Fuß der Vulkanwand, erkannte er die Lichter der Leuchtquallen und jener seltsamen Wesen, die flirrend und blinkend ihren Lebensraum erhellten. Samuel tauchte unter Schmerzen in die Höhlen und Gewölbe, in denen sein Volk lebte – ein Volk, das ihn längst nicht mehr als einen Teil von sich ansah.

Er passierte das felsige Portal und fragte sich, wie viele Spione ihn bereits im Scan hatten.

Doch weder die Tatsache, dass er sich in gefährlichen Gewässern bewegte, noch die erdrückenden Druckverhältnisse der Tiefe hielten ihn von dem Entschluss ab, seine Schwester aufzusuchen. Die Zahl derer, die ihn als Feind betrachteten, war noch zu gering, als dass sie ihm etwas antun würden. Kaum jemand beachtete ihn, doch ihre Gedanken waren voller Ablehnung. Sam erreichte Mehalons Höhle. Er und Lephine würden ihn sicher aufnehmen, ihm erklären, was dort unten vor sich ging und Antworten auf seine Fragen haben.

Noellan? Bist du das etwa?, hörte er die Stimme von Malahans Vater in seinem Kopf. Der alte Mann mit den weißen Haaren schwebte vor ihm in den Wellen und schaute ihn ungläubig an. Seine Flosse war stumpf und fahl, was nicht gerade von starker Gesundheit zeugte. Mehalon hatte seit der Hochzeit rapide abgebaut.

Ja, ich bin es, antwortete er. Es gibt nicht viele, die so aussehen wie ich und so tief tauchen. Kann ich mit dir reden?

Der Alte schaute sich verängstigt um. Samuel spürte, dass er nicht willkommen war. Mehalon fürchtete sich davor, mit ihm gesehen zu werden.

Schnell, Junge, zu dieser Tageszeit sollte sich niemand in den Labyrinthen herumtreiben. Sie haben neuerdings Spione auf uns angesetzt.

Auf euch? Sam war erstaunt.

Ja. Lephine und ich haben seit der Verbindung unseres Sohnes mit einer Phenorenfrau einen zweifelhaften Ruf anhängen. Man traut uns nicht, verstehst du?

Das tut mir aufrichtig leid! Ich will dich nicht in Schwierigkeiten bringen, Mehalon. Ich bin auf der Suche nach den beiden. Weißt du, wo Malahan und Cassina sich aufhalten? Der Alte schob das Kinn vor und sah sich immer wieder um. Seine Gedanken klangen leise und verschüchtert.

Nein, ich habe keine Ahnung. Aufgrund der Feindseligkeit gegen sie, haben die beiden unsere Gewässer Richtung Osten verlassen. Wir haben noch nichts Neues gehört. Du solltest jetzt besser von hier verschwinden, Noellan, es ist gefährlich. Immer mehr junge Männer schließen sich den Rebellen an. Sie trauen euch nicht länger. Sie trauen keinem der Phenoren.

Sam schüttelte traurig den Kopf. Wenn das so weiterging, würde die Sache sehr bald eskalieren.

Sie sollten uns aber trauen, Mehalon! Es steht wahrlich schlecht um unser Volk, wenn es seine eigene Rasse nicht länger von der menschlichen unterscheiden kann … Trotzdem, danke für die Warnung. Kann ich etwas für euch tun? Du siehst schlecht aus.

Der Alte lächelte. Pass einfach auf dich auf und richte Elbrokas meine Grüße aus. Dein Vater war mir stets ein guter Freund. Weißt du, Junge, ich habe ihm seinerzeit leider nicht helfen können. Ebenso gibt es derzeit auch nichts, was du für mich tun könntest.

Danke, Mehalon. Gib auch auf dich acht!

Er verabschiedete sich, drehte sich um und verschwand in die Richtung, aus der er gekommen war. Draußen – im offenen Ozean – fühlte er sich deutlich wohler als dort unten in den engen Höhlen.

Aber wieso um alles in der Welt hatte Amy nicht auf ihn gewartet? Sie hatte doch gewusst, dass er sie treffen wollte. In wenigen Tagen würde der Neumond die blauen Muscheln reifen lassen und vielleicht würde er seine Schwester auf die Weise kontaktieren können. Doch zuerst musste er den Marianen finden, um die Sache mit Kriemhild zu klären. Sam hatte keine Ahnung, wo er ihn suchen sollte, aber darüber brauchte er sich keine weiteren Sorgen zu machen. Er hatte den Spion längst bemerkt, der ihm seit dem Graben gefolgt war; bewaffnet und offenbar fest entschlossen, ihn nicht entkommen zu lassen.

Das Flüstern der See

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