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Kapitel 18
ОглавлениеSamuel
Er saß auf seinem Bett, mit dem Rücken an die Wand gelehnt und hielt das kleine Säckchen aus Muschelseide in Händen. Die Perlen knirschten leise und während er sie hin und her drehte, hüllten sie seine Finger in bläulichen Glanz.
Sam war noch nicht wirklich zurück. Er hing den vergangenen Stunden nach, in denen er bei Kriemhild gewesen war. Ihre Nähe hatte ihm Kraft gegeben, die kommenden Tage, Wochen und Monate ohne sie durchzustehen. Erneut überkamen ihn Zweifel, was seine Zukunft anging. Er sah noch immer keinen Sinn in dem Studium, in den Forschungen, deren Ergebnisse und Ziele die Menschen ohnehin nicht interessierten; jenes Volk war und blieb eines voller Theoretiker. Es würde vermutlich ein ganzes Dutzend an aufeinanderfolgenden Naturkatastrophen benötigen, ehe sie aufwachen würden – und dann wäre es bereits zu spät zum Handeln.
Sam fuhr sich durch die Haare. Wenn es nur das gewesen wäre. Aber es kam noch etwas anderes hinzu, was ihm Sorgen bereitete: ein stetig wachsender Zwiespalt in seiner Brust. In letzter Zeit brannte sich das Flüstern der See immer tiefer in sein Herz hinein, in all seine Sinne. Es wurde so unerträglich, dass er Mühe hatte, dem kribbelnden Verlangen zu widerstehen. Wann immer er das Meer auch nur betrachtete – oder daran dachte – verzehrte ihn die Begierde, hinabzutauchen und sich einzufügen in das Element, für das er geschaffen war. Es schnürte ihm die Luft ab; jede Lebensader.
In Kriemhilds Nähe war es erträglich. Sie gab ihm nicht nur die Kraft, es auszuhalten, sondern sie gab seinem Dasein an Land auch einen Sinn, für den er bereit war, das Opfer zu bringen.
Doch nun – ohne sie … Mit jeder Sekunde ihrer Abwesenheit nahm das verlockende Säuseln in ihm zu. Der Ozean war eifersüchtig, er duldete niemanden jener Rasse an seiner Seite. Eine plötzliche Schwäche überkam ihn und drückte tonnenschwer auf sein Gemüt hinab. Im nächsten Moment blickte er auf und entdeckte seine Mom am Ende des Bettes stehen. Er hatte sie gar nicht bemerkt. Sam erschrak.
„Mom? Wie lange stehst du da schon?“
„Lang genug, um deinen Schmerz nicht zu überhören.“ Sie setzte sich an seine Seite und lächelte mitleidig. „Noellan, mein dummer Junge. Amy war nicht der einzige Grund, wieso du die Früchte ernten wolltest, habe ich recht?“ Sie deutete auf das Säckchen in seinen Händen und bemühte sich, es nicht zu berühren, um die Perlen nicht zu verunreinigen. „Warst du bei ihr? Bei Kriemhild?“
Er nickte stumm.
„Du weißt schon, dass du mit diesen Perlen vorsichtig sein musst, Sam? Sie können eine Abhängigkeit auslösen und du wärest nicht der Erste, der in eine Welt der Illusion abdriftet.“
„Das weiß ich, Mom. Sag mir, hast du eine bessere Idee?“
„Ach, komm schon. Kriemhild ist nicht mal eine Woche fort. Ihr werdet es schon überleben, schließlich haben andere Menschen auch nicht das Privileg eines mentalen Dates.“
„Das ist es nicht“, sagte er und seine Stimme klang geschwächt. Mom schaute besorgt.
„Was ist es dann?“
Er schwieg.
„Sam?“
„Hast du jemals dieses Gefühl verspürt, wahnsinnig zu werden, wenn du … wenn du nicht dort unten bist?“
„Was?“ Sie hob seinen Kopf an und schaute ihm in die Augen. „Seit wann hast du dieses Gefühl?“
„Kann ich nicht genau sagen. Es ist ganz schleichend gekommen. Manchmal glaube ich, dass es seit Amys Hochzeit viel schlimmer geworden ist.“
„Amys Hochzeit“, wiederholte sie leise. „Die Flosse.“
„Die Flosse? Ich verstehe nicht ganz.“
„Ja, Sam, ich denke, sie ist schuld daran“, sagte Mom und in ihrem Blick lag tiefe Sorge. „Vermutlich war die Flosse der Auslöser für dein Problem.“
„Dann spürst du es also auch?“
„Nein, tue ich nicht. Nicht mehr, um genau zu sein. Erinnerst du dich noch an die Zeit, Sam, als Dad damals in Deutschland gearbeitet hat?“ „In Hamburg? Ja, flüchtig. Es war ein paar Jahre nachdem wir den Ozean verlassen hatten, richtig?“
„Richtig. Der Grund, wieso ich damals nicht mit ihm gegangen und stattdessen landeinwärts geflüchtet bin – ich hatte mich für dieses Solarprojekt in Colorado beworben und allen erzählt, dass ich damit meinen Horizont erweitern wolle – es entsprach nicht der Wahrheit.“
Er spürte die aufkommende Last in ihrem Herzen.
„Was war der wahre Grund, Mom?“
„Der Grund dafür war: Ich wollte so weit weg vom Ozean sein wie nur irgend möglich. Ich wollte nichts mehr von ihm hören, nichts mehr riechen und wollte der Verlockung entkommen, mich einfach hineinzuschmeißen; diesem Gefühl, wahnsinnig zu werden, wenn ich es nicht tat. Keine Ahnung, wie ich die Zeit in der Wüste überstanden habe. Jedenfalls ist es seither einfacher geworden, ich habe das in den Griff bekommen.“
„Was ist mit Dad und Amy? Hatten die ähnliche Symptome?“
Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Und weil wir hier oben nur so wenige sind, wird es auch niemanden weiter interessieren. Ich persönlich hätte es auf meine allgemein sensiblen Sinneswahrnehmungen geschoben, wenn … Samuel, warum fragst du mich all das?“
„Weil es mich beherrscht, Mom, oder es zumindest versucht. Vielleicht hat es lange vor dem Sommer begonnen, doch ich habe erst jetzt erkannt, was es ist.“ Sein Blick fiel aus dem Fenster und wanderte hinüber an den Horizont, irgendwo dorthin, wo die Klippe lag.
„Hörst du das?“, fragte er. Mom lauschte. „Dieses stetige, unterschwellige Flüstern. Das leise Rufen und den Gesang der Wale. Meine Sinne spielen völlig verrückt. Ich schmecke Salz wo keines ist, ich höre die Stimmen des Meeres und träume von lichtdurchfluteten Riffen. Seit Kriemhild fort ist, ist es schlimmer geworden. Mom, in ihrer Nähe verschwinden diese Symptome. Wenn ich bei ihr bin, kann ich es ertragen. Sie hat etwas an sich, das mir die Kraft gibt, dem Ozean zu widerstehen.“
Er spürte, dass seine Mutter mit den Tränen kämpfte und hasste sich dafür, sie mit seinem Kummer zu belasten. Wie gern hätte er sich Amy in der Sache anvertraut. Sie schlang die Arme um seinen Kopf und streichelte ihm über die Haare.
„Rede mit Dad. Bitte, wenn du Tom davon erzählst, dann …“
„Nein. Er würde es nicht verstehen. Ich weiß nicht mal mehr, ob er ein Herz hat, wie wir es haben. Seines ist dem der Menschen viel ähnlicher geworden als dem unseres Volkes. Ich denke nicht, dass er diesen Zwiespalt kennt.“
„Und wenn genau das der Grund ist?“, flüsterte sie und eine Träne rann über ihre Wange. „Wenn Tom sein Herz aus diesem Grund verhärtet hat? Er hatte keine Wahl, Samuel! Du weißt doch, was dort unten passiert ist, was Heralodes getan hat. Wir sind hier, weil es uns sonst nicht mehr geben würde! Uns alle nicht. Dad hatte keine Wahl, er wollte nur unser Bestes, weil er dich liebt, und Amy, und mich. Er musste sich mit der Welt hier oben arrangieren und stark sein für seine Familie. Du hast keine Ahnung von dem, was er durchmacht! Und bei Gott, ich schwöre dir, ich werde ihn wieder zu dem machen, der er einmal war. Es tut mir so leid, Sam, dass diese Sache dich unseretwegen erwischt hat. Wir finden einen Weg, glaub mir. Wenn allein Kriemhild dir helfen kann, dann müssen wir dafür sorgen, dass Tom sie akzeptiert.“ Sie stand auf und wischte sich durch die Augen. Dann lachte sie leise. „Eigentlich war ich gekommen, um mit dir Amy aufzusuchen. Aber wenn du gerade erst von Kriemhild zurückgekehrt bist, dann sollten wir noch einen Tag lang abwarten. Der Tiefenrausch wird für deine momentane Verfassung nicht gerade von Vorteil sein.“ „Nein, warte“, rief er und hielt sie zurück. „Wir haben keine Zeit zu verlieren, was Amy angeht. Ich schaffe das schon, Mom, bitte, komm.“ Sie zögerte einen Moment lang. Er öffnete die Kordel des Säckchens und reichte ihr zwei Früchte. Widerwillig nahm sie sie an. „Bist du dir sicher, Sam? Ich will nicht, dass du …“ „Ich bin sicher, Mom. Ich werde schon nicht abhängig, keine Sorge. Das ist eines der wenigen Dinge, die ich im Moment genau im Griff habe.“ Sie versuchte zu lächeln und er bemühte sich, seine Gedanken vor ihr zu verbergen. Etwas anderes bereitete ihm viel größere Angst, als in eine Abhängigkeit zu verfallen: dort hinunter zu müssen. Er hatte sich vorgenommen, dem Verlangen zu trotzen und ihm nicht nachzugeben, um der See nicht zu gestatten, seine Sinne zu betören. Wenn er die Früchte benutzte, um in den Ozean zu gelangen, würde die Wirkung zusätzlich verstärkt werden. Sam schob den Gedanken beiseite.
Für Amy, dachte er, schluckte zwei Perlen und ließ sich von ihnen aufsaugen. Die kleinen Diener des Meeres trugen ihn liebkosend in ferne Tiefen und suchten ihn von dem zu überzeugen, was längst sein war.
Schwärzeste Finsternis umhüllte ihn. Doch keine Finsternis war schwarz genug, um seine Sinne daran zu hindern, jeden Schatten zu identifizieren. Ein Riesenkalmar stieß gespenstisch aus der Tiefe empor und verschwand in den Lavafelsen. Flirrende Wesen ließen elektrische Signale aufflackern. In Sekundenabständen lichtete sich die Dunkelheit. Einen Moment lang schloss Sam die Augen, um jede Sinneswahrnehmung zu verinnerlichen. Der Ort hatte etwas Magisches an sich. Sam fühlte sich frei, daheim und endlich einmal nicht gehetzt. Das leise Rauschen und Murmeln der Wellen beruhigte ihn und lullte ihn ein. Die Melodien seiner Welt entspannten jedes seiner schmerzenden Gelenke und jeden Muskel seines Körpers. Beinahe hätte er vergessen, wozu er gekommen war. Wäre dort nicht seine Mom gewesen; in seinem Kopf.
Wo genau sind wir? Hast du eine Ahnung?, fragte er sie.
Sie schaute sich um. Ihre Sinne nahmen alles auf, was ihr als Reisende längst in Fleisch und Blut übergegangen war. Seine Mom verfügte über einen von Natur aus eingebauten Kompass, das hatte er schon immer an ihr bewundert.
Auf jeden Fall in den Ausläufern des Golfstroms. Vermutlich irgendwo in den New England Seamounts, östlich der Canyons.
Gosnold Seamount, um genau zu sein.
Sam und Lynn schauten auf, als ein vertrauter Gedanke sie erreichte. Amy tauchte näher und fiel ihnen um den Hals. Mom! Sam! Was tut ihr denn hier? Ihr solltet dort oben an der Sonne sein, statt in dieser unwirklichen Welt!
Amy! Mom brach in Tränen aus, ihre Erleichterung löste die angespannten Gedanken in Sams Kopf. Wir haben uns so schreckliche Sorgen um euch gemacht! Geht es dir gut, Kind? Wo ist Malahan?
Seine Schwester deutete auf eine Felsenhöhle. Er schläft. Wir mussten die Gegend leider verlassen und haben kaum Pausen eingelegt, um niemanden Ungebetenes zur Mitreise einzuladen, wenn ihr versteht …
Sam nickte. Ich hatte nicht gedacht, dass die Lage so ernst ist. Du hättest es mir sagen sollen.
Was hätte ich dir sagen sollen? Kriemhild war bei dir, ihr standet kurz vor der Hochzeit, da wollte ich dir keine unnötigen Sorgen bereiten. Wie du siehst, sind wir wohlauf, Bruderherz. Wie geht es dir? Vermisst du sie?
Was ist das für eine Frage?
Mom mischte sich ein: Amy, Schatz, er vermisst dich ebenso und ich fürchte, mit deinem Kommentar machst du ihm die Sache nicht gerade leichter. Wie sehen eure Pläne aus? Wisst ihr schon, wohin ihr reisen wollt? Oder wer die Rebellen anführt? Ihr könnt euch doch nicht ewig in diesem Gebirge verstecken.
Das haben wir auch nicht vor. Seine Schwester schaute traurig in die Tiefe hinab. Dies ist auch nicht der Ort, an dem man sich gern aufhalten möchte. Malahan und ich werden den Strom nehmen und sehen, wohin es uns verschlägt. Ich hätte euch auch aufgesucht, wäret ihr mir nicht zuvorgekommen. Bloß, hier unten wachsen keine Mondmuscheln. Ihr hättet euch noch eine Weile gedulden müssen.
Sam wechselte einen Blick mit seiner Mom. In ihren Augen las er große Sorge.
Hör zu, Amy. Es ist nicht gut, dass ihr allein reist, sagte er. Das ist viel zu gefährlich. Ihr solltet euch einer Gruppe anschließen.
Reisenden? Nein, Sam. Ich denke, nach allem, was geschehen ist … Uns ist niemand gefolgt. Wir schaffen das schon.
Mom wartete noch immer auf eine Antwort. Ihr wisst nicht, wer die Rebellen anführt? Was ist mit Mehalon und Lephine?
Ich weiß es nicht, Mom. Wenn sie etwas wissen, dann haben sie es erfolgreich verschwiegen. Vermutlich, um uns zu schützen.
Ein Schwindel erfasste Sams Gedanken und deutete an, dass die Verbindung nicht mehr allzu lange bestehen würde. Auch seiner Mutter war es nicht entgangen. Sie schloss Amy in die Arme und küsste ihre Stirn. Melde dich, Kind. Bitte, haltet uns auf dem Laufenden, ich werde wahnsinnig vor Sorge. Und grüße Malahan von uns. Er soll sich gut um dich kümmern, hörst du?
Das tut er, Mom, wirklich. Ich weiß gar nicht, was ich ohne ihn anfangen würde. Es ist kein einziger Tag vergangen, an dem ich bereut hätte, hier bei ihm zu sein!
Das ist gut. Ich denke, wir müssen nun. Sam? Seine Mutter nickte ihm zu, er zog Amy in seine Arme und verabschiedete sich.
Pass auf dich auf, Schwester! Und weck diese Penntüte da drinnen. So, wie du aussiehst, könntest du auch eine Ladung Schlaf vertragen.
Sicher. Und anstatt die ganzen Früchte für mich zu opfern, solltest du sie dir für Kriemhild aufsparen. Amy lachte und stieß ihn fort. Wenn seine Schwester doch nur gewusst hätte, wie sehr sie ihm fehlte. Ihr Lachen und ihre Ratschläge.
Das weiß ich, Sam, flüsterte sie. Du fehlst mir auch! Irgendwann sehen wir uns wieder und du glaubst nicht, wie sehr ich mich schon jetzt darauf freue!
Als er aufwachte, lehnte Mom an seiner Schulter. Sie hatte Tränen in den Augen und er musste nicht fragen, um den Grund dafür zu kennen. Er legte seinen Arm um sie.
„Hey, alles ist gut, das hast du doch gesehen“, sagte er.
„Ich habe vor allem gesehen, wie mager sie geworden ist. Und wieso sollte Malahan wohl schlafen, während seine Frau allein in diesen Gewässern umhertaucht? Ich will gar nicht wissen, wie erschöpft er sein muss.“
Der Zustand seiner Schwester war Sam nicht entgangen. Doch die Sorge, die ihm die Tatsache bereitete, verbarg er vor seiner Mutter.
„Mom, die beiden haben in wenigen Tagen eine Strecke von mehreren hundert Meilen zurückgelegt. Was erwartest du? Die Kalmare da unten sind sehr nahrhaft. Das wird ihnen schon wieder auf die Beine helfen – auf die Flosse wollte ich sagen.“
Sie zuckte mit der Schulter. „Wenn sie erst den Strom genommen haben, werden sie sehr bald das Doppelte dieser Strecke in viel weniger Zeit zurückgelegt haben.“
„Und das ist gut so. Hör auf dich zu quälen, das hilft ihnen auch nicht weiter. Wir sollten besser herausfinden, wer dort unten gegen uns hetzt. Wo steckt Dad überhaupt? Er könnte sich endlich einmal nützlich machen, was das angeht!“