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Kapitel 16

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Elisabeth

Die ersten Septembertage vergingen wie im Flug. Elisabeth saß im Garten unter dem Rosenbogen und besah sich die letzten frischen Blüten. Unzählige Rosen ließen ihre welken, braunen Köpfe hängen. Einzelne Blätter segelten still ins Gras hinab.

In einer guten Stunde würde es dunkel sein und Kriemhild war noch immer nicht aus Hamburg zurück. Elisabeth seufzte. Nicht mehr lange und das Mädchen würde zum Studieren in eine andere Stadt ziehen. Sicher, Hamburg war nicht Falmouth, aber immerhin.

Sie zog das silbergerahmte Bild aus ihrer Tasche hervor und fuhr mit dem Finger über die Glasscheibe, hinter der ihr ein markantes Gesicht zulächelte.

„Richard“, flüsterte sie. „Unsere Kriemhild ist erwachsen geworden, ohne dass ich es bemerkt habe. Du würdest sie lieben. Sie wird dir immer ähnlicher …“ Eine Träne tropfte auf das Glas hinab. „Wieso musstest du auch so früh gehen? Sie hätte dich so oft gebraucht – und ich auch.“

Plötzlich schaute sie auf, als das Mädchen durch die Terrassentür in den Garten trat. Kriemhilds blasse Haut strahlte im Dämmerlicht und ließ sie noch hübscher erscheinen.

„Ma? Ich habe drinnen nach dir gesucht.“

„Komm her, Liebes. Schön, dass du zurück bist.“

Elisabeth wischte sich schnell die Tränen aus den Augen und wollte das Bild wieder in ihrer Tasche verschwinden lassen, als Kriemhild auf der Bank neben ihr Platz nahm. Ihre Tochter griff nach dem Foto und nahm es an sich.

„Papa“, sagte sie wehmütig lächelnd.

„Ja, Schatz. Wusstest du, dass heute sein Todestag ist?“

„Nein. Vermutlich habe ich es verdrängt.“ Kriemhild schaute lange Zeit still auf das Bild in ihren Händen hinab. „Genau so habe ich ihn in Erinnerung, Ma.“

„Das ist schön. Dieses Foto ist in der Tat sehr gut getroffen. Es birgt so viele Charaktereigenschaften in sich.“

Ihre Tochter nickte gedankenverloren. Dann schaute sie auf.

„Ma, wieso hast du mir nie von Tante Margrets Baby erzählt? Sie war schwanger, als Großvater sie rausgeschmissen hat. Wieso hast du mir das nie gesagt?“

„Was? Margrets Baby?“ Elisabeth stutzte. Mit der Frage hatte sie nicht gerechnet; die Worte erweckten einen vergessenen Schmerz zu neuem Leben.

„Ja, Margrets Baby. Es hat Sue geheißen. Erzählst du es mir?“

„Naja, weißt du, Liebes, du warst klein und wir hatten kaum Kontakt zu Grete und John. Es hat nie einen Anlass gegeben, es dir zu erzählen …“ Ihre Hände sanken in ihren Schoss hinab. „Was damals geschehen ist, Kriemhild, war für uns alle furchtbar. Ich habe die Vergangenheit, so gut es ging, zu verdrängen versucht. Vater hat es lange nicht überwunden, dass Grete ihn hintergangen hat. Und als er es schließlich überwunden hatte, konnte er sich selbst nicht mehr verzeihen, was er ihr angetan hat. Ihr, John und dem Kind. Und ich? Ich war zu jung, um das alles zu begreifen.“

Elisabeth atmete schwer. Wie sehr hatte sie sich immer gewünscht, ihre Schwester bei sich zu haben. Sie litt noch immer im Stillen unter dem Verlust. „Grete muss schwere Zeiten durchgemacht haben. So fern der Heimat, ganz in der Fremde. Wir waren nicht für sie da, als sie das Kind verloren hat. Niemand von uns. Das war falsch. Ich vermisse sie schrecklich. Vielleicht ist es wirklich an der Zeit, sie endlich einmal zu besuchen.“

Kriemhild lauschte schweigend. Dabei betrachtete sie noch immer das Bild ihres Vaters. Elisabeth fragte sich, ob die Geschichte von Gretes Kind alles war, was das Mädchen beschäftigte. Sie war sich sicher, dass ihr noch etwas anderes auf dem Herzen lag. Irgendwann durchbrach Kriemhilds Stimme die Stille.

„Ma, da ist etwas, worüber ich mit dir reden muss.“

„Das habe ich mir schon gedacht. Geht es um Hamburg? Dann habt ihr sicher eine Wohnung gefunden.“

„Nein, mit Hamburg hat es nichts zu tun.“ Kriemhild legte den Bilderrahmen beiseite und zog etwas unter ihrem Shirt hervor. „Ma, um ehrlich zu sein, geht es um die Kette.“

„Oh, es freut mich, dass du von selbst damit herausrückst. Ich hätte meine Schwester nur ungern übers Telefon danach befragt.“

„Die Sache ist mir ernst, okay?“

Was auch immer es mit der Kette auf sich hatte, bereitete Kriemhild große Angst, es auszusprechen.

„Hör zu, Liebes, du kannst mir alles sagen, das weißt du doch, oder?“

„Ja, das weiß ich. Trotzdem fürchte ich, dass du ausrasten wirst, was das angeht.“

Ihr fuhr es eiskalt durch die Glieder. „Du … du hast sie doch wohl nicht gestohlen?“

„Um Gottes willen, Ma! Wie kommst du denn darauf? Ich sagte doch, dass Sam sie mir geschenkt hat.“

„Und weiter? Stimmt etwas nicht mit dem Jungen?“

„Hör mir doch einfach zu! Ich will, dass du mir genau zuhörst. Ich möchte dir von ihm erzählen, damit du nachvollziehen kannst, was es mit dieser Kette auf sich hat.“

„Gut, das interessiert mich wirklich.“

„Was auch immer ich dir jetzt sagen werde, es hat weder mit Tante Margret noch mit Onkel John zu tun. Sie sind ganz außen vor, hörst du?“ Kriemhild atmete tief durch. Sie war nervös und spielte mit den Korallenperlen. „Das mit Sam … Ich bin ihm gleich am ersten Tag begegnet, als ich mir den Strand angeschaut habe. Er saß dort in den Dünen, weißt du? Wir haben uns nur kurz angesehen und als ich weiterging, kam so ein Protzauto mit zwei Typen angerast. Sie haben mich blöd angemacht. Es war schrecklich – alle Erinnerungen an Justus kamen wieder hoch. Wie auch immer, Ma, Samuel hat mir aus der Sache rausgeholfen. Außerdem hat er mich aus dem Wasser gezogen, als ich dumm gefallen und im Meer gelandet bin. Keine Panik, ich habe es überlebt, wie du siehst.“

Elisabeth hielt die Luft an. Das mit dem Meer hatte Grete ihr nicht erzählt! Das würde sicher noch ein Nachspiel haben.

„Gut“, sagte sie. „Dann ist dieser Junge anscheinend ein besonders aufmerksamer Mensch. Das freut mich. Aber es erklärt noch immer nicht, wieso er dir teuren Schmuck schenkt.“

„Ich bin auch noch nicht fertig, Ma!“, rief Kriemhild. „Er … er hat mir das Schwimmen beigebracht. Wir haben viel zusammen unternommen und ich war sogar auf der Hochzeit seiner Schwester. Seine Familie ist sehr interessant.“

„Einen Augenblick mal.“ Elisabeth wollte sichergehen, dass sie der ganzen Sache auch richtig folgte. „Du warst auf der Hochzeit seiner Schwester?“

Das gefiel ihr nicht. Das klang so … verbindlich.

„Ja, war ich. Was stört dich daran?“

„Ich weiß nicht. Vielleicht finde ich es seltsam, weil man für gewöhnlich nur sehr enge Freunde mit auf eine Hochzeit nimmt. Ich meine, wie ernst ist die Sache mit diesem Jungen denn? Als du ihn beim ersten Mal in einem Atemzug mit dieser Brooke erwähntest, da hatte es sich nur nach einer netten Bekanntschaft angehört.“

„Nein, Ma“, flüsterte ihre Tochter. „Es ist mehr als das. Die Sache ist sehr ernst.“

Kriemhild schaute auf den Rasen und drehte ihre Haarspitzen zwischen den Fingern umher. Elisabeth hätte schwören können, dass dort eine Träne in den meergrünen Augen war.

Sehr ernst? Was … was soll das heißen? Was sind das überhaupt für Leute? Kennt Grete sie? Wieso habt ihr am Telefon nichts davon erwähnt?“

„Weil ich es nicht wollte, Ma. Nicht, bevor ich mir selbst im Klaren darüber war, wie sich das Ganze weiterentwickeln würde. Ich wollte nicht, dass du dir unnötige Sorgen machst. Übrigens, seine Eltern sind ziemlich bekannte Meeresbiologen. Und ja, die Gilberts kennen sie.“

„Biologen also? Na, das passt ja wie die Faust aufs Auge …“, sagte Elisabeth und dachte dabei an Richard, der Professor der Naturwissenschaften an der Universität gewesen war. „Und weiter? Wie genau hat sich das Ganze zwischen euch beiden entwickelt?“

Kriemhild schwieg. Offensichtlich wusste sie nicht, was sie darauf antworten sollte. Oder sie fürchtete sich – was Elisabeth noch mehr beunruhigte.

„Na los, raus damit.“

„Ach, Ma. Weißt du, es wurde so schlimm, dass ich mir keinen Tag mehr ohne ihn vorstellen konnte. Es hat mich so zerrissen, dass ich nicht mehr ein noch aus wusste. Ich wollte nicht mal mehr zurückkommen … hierher … verstehst du? Ich liebe Sam, und ich will für den Rest meines Lebens mit ihm zusammen sein.“ „Du willst was?“ Die Worte trafen sie völlig unvorbereitet.

„Das ist noch nicht alles, Ma. Kurz vor meiner Abreise bat Sam mich um etwas, das ich ihm nicht abschlagen konnte.“

„Er bat dich um etwas?“

„Ja. Er … er hat mich darum gebeten, seine Frau zu werden.“

Elisabeth erstarrte. Die Worte hallten in ihr nach und nur ganz langsam erschloss sich ihr das Ausmaß. Ihr Blutdruck stieg an, während Kriemhild mit zittriger Stimme fortfuhr.

„Weißt du, Ma, in seiner Familie ist es Tradition, eine Kette zu schenken, anstelle eines Eherings. Wir haben am vergangenen Freitag geheiratet. Nur ganz klein, ohne Aufsehen. Margret hat mir ihr Kleid geliehen … Es tut mir leid, Ma! Ich wünschte, du wärest dabei gewesen. Aber an Weihnachten holen wir alles nach, versprochen! Wir feiern ein großes Fest mit dir, und ihnen, und Margret, und Sara …“

„Du hast was getan? Sag das nochmal!“ „Ich bin verheiratet.“ Verheiratet? Nein! Das … das hätte Grete niemals zugelassen …

„Sei mir nicht böse, Ma, bitte, ich will doch nur, dass du es verstehst …“

Elisabeth erhob sich. Ihr war auf einmal ganz schwindelig. Das musste ein schlechter Scherz gewesen sein. Kriemhild hielt sie fest, doch sie wehrte sie ab.

„Ma? Wohin … bitte bleib hier! Bitte, Mama, geh nicht weg! Bitte!“

„Lass mich … ich muss … Ich muss nachdenken, ob ich das eben nur geträumt habe …“ Sie lief mit wackligen Knien auf die Terrassentür zu, als eine plötzliche Schwäche sie überkam. Kriemhild hatte geheiratet. Einen Wildfremden, in den Staaten. Und Grete hatte ihr Kleid verliehen … Elisabeth stolperte die Stufe ins Wohnzimmer hinauf und wäre um ein Haar gestürzt. Alles verschwamm vor ihrem Blick. Sie schaffte es gerade noch rechtzeitig in ihr Schlafzimmer, wo sie auf das Bett hinabsank. Dort nahm sie zwei Beruhigungstabletten aus dem Blister heraus und schluckte sie hinunter. Kriemhild stürmte ihr nach.

„Ma, ist alles in Ordnung mit dir?“, rief sie unter Tränen.

„Bitte, lass mich allein. Wir reden morgen. Dass du … einfach … ohne mich … Bitte, lass mich jetzt allein.“

Das Flüstern der See

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