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Kapitel 10
ОглавлениеElisabeth
Sie saßen in der Küche vor dem Kachelofen und tranken Tee. Immer wieder musste Elisabeth sich durch die feuchten Augen wischen. Wie sie Kriemhild vermisst hatte! Erst am Nachmittag hatte sie mit Grete telefoniert. Ihrer Schwester war es offenbar schwer gefallen, das Mädchen gehen zu lassen. Aber sie hatte ja noch John, der ihr Gesellschaft leistete.
„Tante Grete lässt dich grüßen, Kriemhild. Sie will unbedingt, dass wir sie an Weihnachten besuchen kommen. Aber ich weiß nicht, ob das was für mich ist …“
„Tante Margret?“ Kriemhild schaute auf. „Oh, natürlich kommst du an Weihnachten mit, Ma! Sara übrigens auch, stimmt’s? Was mich angeht, ich kann es gar nicht erwarten zurückzufliegen …“
„Kann ich mir denken“, flüsterte Sara und erntete einen seltsamen Blick von Kriemhild. Elisabeth war nicht entgangen, dass ihre Tochter ununterbrochen auf ihr Handy starrte.
„Wo ist denn dein altes Telefon?“, fragte sie verwundert. „Hast du dir da drüben etwa ein neues gekauft?“
Kriemhild wich ihrem Blick aus und eine erfrischende Röte legte sich auf ihre Wangen.
„Das … ähm, ja … ist neu. Ein Smartphone, um genau zu sein. Mein altes ist kaputtgegangen.“
„Ha! Die Story musst du mir bei Gelegenheit mal erzählen, Süße! Ich wette, da steckt mehr dahinter.“
„Sara!“, zischte Kriemhild.
„Ich bin schon weg“, entgegnete die, leerte ihre Tasse und erhob sich. „Vielen Dank für den Tee, Frau Bergmann. Euch beiden noch einen schönen Abend!“
„Du gehst schon?“, fragte Kriemhild.
„Ja, ich bin sicher, ihr habt euch viel zu erzählen. Mach’s gut, wir telefonieren.“
„Auf Wiedersehen, Sara, viele Grüße an deine Mutter“, rief Elisabeth ihr nach.
Die Tür fiel ins Schloss und Kriemhild schaute wieder auf ihr Handy.
„Na, erzähl schon. Es ist doch ganz offensichtlich, dass du auf eine Nachricht wartest.“
„Ach, Ma …“ Ihre Tochter winkte verlegen ab. „Ich habe bloß ein schlechtes Gewissen, weil ich mich noch gar nicht bei Brooke gemeldet habe …“
„Brooke?“
„Ja, eine liebe Freundin, die ich in Falmouth kennengelernt habe. Überhaupt hab ich viele neue Leute kennengelernt. Das war der schönste Sommer meines Lebens!“
Die Worte versetzten Elisabeth einen Stich ins Herz. Doch sie ließ sich nichts anmerken und legte dem Mädchen die Hand auf. „Es freut mich, dass dir die Zeit bei Tante Grete so gutgetan hat. Was hast du denn alles erlebt?“
Sie spürte ganz deutlich, dass Kriemhild ihr etwas verschwieg. Das machte sie noch trauriger, denn in all den Jahren hatten sie sich immer vertraut.
„Ich hab ‘ne ganze Menge erlebt, Ma. Das kann ich gar nicht alles an einem Abend erzählen.“
„Dann fang klein an.“
„Hat Tante Margret dir denn noch nichts erzählt?“
„Nein. Nur ganz oberflächliche Dinge. Sie sagte, dass du wohl selbst alles berichten wollest. Es ist doch nichts passiert?“
„Passiert?“ Ihre Tochter lachte. „Naja, wie man’s nimmt. Dann weißt du also noch gar nicht, dass ich …“
„Dass du was?“
„Na, dass ich schwimmen kann.“
„Du … du kannst schwimmen? Ist das wirklich wahr?“, fragte Elisabeth und schluckte die aufkommenden Tränen hinunter. Damit hatte sie nicht gerechnet. „Wo hast du das denn gelernt? Ich meine, ich hätte nie für möglich gehalten, dass du jemals …“
Unweigerlich erschienen die Bilder von damals vor ihrem inneren Auge. Damals, als es an der Haustür geschellt hatte. Als die Küstenwache gekommen war, um ihr von dem schrecklichen Unglück zu berichten. Der Tag, der ihr die gesamte Existenz unter den Füßen weggerissen hatte. „Du hast dagestanden, triefnass, an der Seite des Polizisten und hast gebibbert. Sie hatten dich in warme Decken gewickelt, du warst völlig verstört und in Tränen aufgelöst. Und Richard … sie sagten, dass der Sturm ihn … Du hattest die ganze Nacht in dem Boot gesessen und geweint. Ich dachte, ich würde euch nie wiedersehen. Und jetzt erzählst du mir, dass du schwimmen kannst.“
„Ma, beruhige dich. Alles ist gut!“, rief Kriemhild und legte ihr die Hand auf die Schulter.
„Fang nicht wieder damit an. Das ist so lange her. Ich bin kein Kind mehr. Wieso sollte ich denn nicht schwimmen können? Glaubst du, Papa hätte gewollt, dass ich es nicht erlerne?“
Elisabeth wischte sich durch die Augen und versuchte zu lächeln.
„Doch, sicher. Er hätte es gewollt. Es ist nur … ich hätte nie für möglich gehalten, dass du jemals wieder einen Fuß ins Wasser setzt. Nach allem, was passiert ist. Das muss dich sehr viel Überwindung gekostet haben. Ist es nicht so? Bitte erzähl mir doch, Liebes, wie du es angestellt hast, deine Angst zu überwinden.“
„Naja, es war tatsächlich nicht ganz leicht für mich. Aber … aber da war jemand, der mir geholfen hat, Ma. Ich habe in Falmouth jemanden kennengelernt. Er hat mir das Schwimmen beigebracht.“
„Jemanden? Du hast jemanden kennengelernt? Einen Jungen?“ „Ja, stell dir vor, einen Jungen.“ „Oh.“
„Was heißt denn hier oh? Ich bin neunzehn, Ma!“ „Das weiß ich doch. Es heißt ja auch nicht, dass ich mich nicht freue. Ich musste gerade nur an Justus denken. Geht dir das nicht zu schnell? Ich meine, willst du deine Freiheit nicht genießen, jetzt, wo du ihn los bist?“ „Freiheit?“ Kriemhild lachte und ihre Augen strahlten. „Um ehrlich zu sein, fühle ich mich nicht gerade wie eine Gefangene. Im Gegenteil; ich habe mich nie freier gefühlt, seit ich Sam kenne.“ „Sam?“
„Ja, Samuel. Er lebt mit seiner Familie in Falmouth. Er war es, der mir das Schwimmen beigebracht hat. Es ist gar nicht so schwer, wie ich immer geglaubt habe, Ma.“
„Dann wartest du sicher nicht nur auf diese Brooke, hab ich recht?“, fragte sie und deutete auf das Handy.
„Stimmt. Er hat sich den ganzen Tag noch nicht gemeldet.“
„Das tut mir leid. Machst du dir diesbezüglich Sorgen?“
„Ja und nein. Ich weiß, dass er sich momentan nicht melden kann. Er ist unterwegs. Sobald er zurück ist, wollte er anrufen.“
Elisabeth lächelte. Das klang nicht gerade überzeugend, was Kriemhild da von sich gab. Vermutlich nur eine Liebelei, die im Begriff war, im Sand zu verlaufen.
„Komm her, Schatz, du musst müde sein. Ich habe dein Bett frisch bezogen. Soll ich dir beim Auspacken helfen? Wir reden morgen weiter.“
„Danke, Ma. Ich bin ziemlich durcheinander, vermutlich der Jetlag – alles ist so verwirrend.“
„Dann schlaf dich erst mal richtig aus. Ich bin sicher, dass es dir morgen besser geht.“