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Kapitel 17
ОглавлениеKriemhild
Sie hatte sich unter ihrer Bettdecke verkrochen und schluchzte herzzerreißend. In dem Augenblick bereute sie es auf heftigste Weise, niemandem von der Hochzeit erzählt zu haben. Das würde Ma ihr nie verzeihen – ihr nicht und den Gilberts erst recht nicht! Falls sie den Schock überhaupt unbeschadet überlebte. Jedes einzelne Wort des Gesprächs hallte in ihrem Kopf nach und Kriemhild fragte sich, ob sie es ihrer Mutter nicht doch auf andere Art und Weise hätte beibringen können. Ob Tante Margret sich genauso elend gefühlt hatte, als sie ihrem Vater gesagt hatte, dass sie ein Kind von John erwartete? Vielleicht war es wirklich falsch gewesen, Ma nichts von der Hochzeit zu sagen. Kriemhild wusste es nicht.
Und doch war es genau das, was sie gewollt hatte: Sam heiraten. Sie hätte jederzeit wieder so gehandelt und fühlte sich inmitten des Kummers erleichtert, es endlich ausgesprochen zu haben. Eine schwere Last war ihr vom Herzen gefallen. Sie redete sich ein, dass alles gut werden würde. In ein paar Tagen hätte Ma alles verwunden. Ja, der erste Schreck würde vergehen und dann musste sie sich damit abfinden. Worauf hätte Kriemhild warten sollen? Die Jahre, in denen Sam an der Oberfläche lebte, waren schließlich gezählt; wenn es überhaupt noch Jahre waren. Wer wusste schon, wann es dem alten Marianen in den Kopf kam und er ihn zurückholte? Allein der Gedanke daran zerriss ihr das Herz. Für eine Sekunde versuchte sie, sich ein Leben ohne Sam vorzustellen. Müsste sie dann allen Leuten vorspielen, eine Witwe zu sein? Sie könnte mit einem Boot rausfahren, um sich mit ihm zu treffen. Oder auf eine einsame Insel ziehen, auf der er sie besuchen kam. Oh Gott! Sie kroch noch tiefer unter die Bettdecke und schluchzte beim Gedanken daran.
Irgendwann warf sie die Decke zurück. Kriemhild brauchte dringend Luft zum Atmen. Wirre Haarsträhnen fielen ihr ins Gesicht, als sie nach dem Handy griff, um ihn anzurufen. Sie vermisste ihn schrecklich und musste dringend mit jemandem reden. Tante Margret über den Zustand ihrer Mutter zu informieren, war keine gute Idee; sie würde sich nur aufregen und sich in all ihren vorangegangenen Zweifeln bestätigt fühlen. Sam antwortete nicht.
Kriemhild sank enttäuscht in die Kissen zurück und ließ sich vom Schmerz überwältigen. Eine Mischung aus Schuldgefühlen, Fernweh und unbändiger Sehnsucht überkam sie. Wie sollte sie es nur einen einzigen Tag länger ohne ihn aushalten? Seine Abwesenheit erdrückte sie. Das Atmen fiel ihr schwer. Es war doch alles geklärt – die Sache mit ihrer Mutter und Sara. Am liebsten wäre sie auf der Stelle zu ihm zurückgeflogen.
Sie weinte sich in den Schlaf und hatte ganz vergessen, noch einmal nach ihrer Ma zu sehen.
Kriemhild stand am Fenster und schaute mit leerem Blick in die dunkle Nacht hinaus. Sie hatte keine Ahnung, wie spät es war; vermutlich weit nach Mitternacht. Ganz offensichtlich hatte ihr schlechtes Gewissen sie aufgeweckt.
Die Straße lag im gelben Laternenschein, sie war still und menschenleer. Irgendwo am Horizont erahnte Kriemhild die raue Nordsee. In ihrer Vorstellung hörte sie sogar die schaumigen Wellen an den Strand spülen. Das Meer war anders als der Atlantik in Falmouth. Derber, grauer und stürmischer. Ob Sam es je gesehen hatte? Sie hatte ihn gar nicht gefragt, ob er damals mit Tom in Hamburg gewesen war. Sie nahm sich vor, es irgendwann zu tun.
Sie warf sich die Haare zurück und hoffte, damit die Bilder aus dem Kopf zu bekommen; die furchtbaren Bilder, die sie vor dem Zubettgehen gesehen hatte. Etwa das, wie sie in einem Ruderboot unterwegs war – auf dem offenen Meer. Ausschau haltend nach Sam, der längst wieder in seine alte Heimat zurückgekehrt war …
Plötzlich stand jemand hinter ihr. Ein Schrecken durchfuhr sie. Ma war so leise hereingekommen, dass sie sie gar nicht bemerkt hatte. Sie war bestimmt noch sauer und wollte ihr eine Standpauke halten. Um die Uhrzeit … Kriemhild wagte kaum, sich umzudrehen. Sie war auf das Schlimmste gefasst, schloss die Augen und seufzte.
„Ma, hör zu. Es tut mir so leid. Das alles ist …“
„Scht.“
Sie erschrak. Es war nicht die Stimme ihrer Mutter. Kriemhild riss die Augen auf und drehte sich um. „Sam?“
Er stand dort in der Dunkelheit, direkt an ihrer Seite, und lächelte. Das war unmöglich! Sie hätte schwören können, dass sie hellwach war. Aber anscheinend schlief sie tief und fest.
„Hey“, flüsterte er. „Tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe.“
„Du hast mich nicht erschreckt … Doch, hast du! Ich dachte, du wärest meine Mutter.“
Er kam näher, zog sie in seine Arme und streichelte über ihren Kopf. Eine Gänsehaut überkam sie, ein warmes Kribbeln durchströmte ihre Glieder. Seine Berührungen waren so warm und so echt, dafür, dass sie eigentlich gar nicht real waren. Natürlich – es war Neumond. Wie hatte sie das vergessen können? Sie schmiegte sich noch enger an ihn.
„Nur ein Traum“, flüsterte sie. „Du bist nichts weiter als ein banaler Traum. Ich will, dass du wirklich hier bist.“
„Ich bin wirklich hier. Für den Moment jedenfalls.“
Sie legte ihren Kopf an seine Brust und atmete seinen Geruch ein, um sicherzugehen, dass er die Wahrheit gesagt hatte. Er roch nach Salz und nach dem Meer. Von seiner Haut ging eine schwache Elektrizität aus, seine tiefblauen Augen fluoreszierten in der Dunkelheit. Hatten sie das zuvor schon mal getan, oder war es ihr bislang nie aufgefallen?
„Du bist tatsächlich hier“, flüsterte sie. „Wie lange kannst du bleiben?“
„Mach dir darüber keine Sorgen. Ich bleibe hier, solange du mich brauchst.“
„Gut, dann werde ich dich nicht mehr gehen lassen. Sam, ich vermisse dich. Ich will nicht ohne dich sein! Der Tag heute war schrecklich. Der Tag und die Vorstellung, wie es sein wird, wenn du wieder zurück in den Ozean musst. Ständig sehe ich mich in einem Boot sitzen, die Oberfläche nach dir absuchend, während alle Menschen mich bemitleiden, weil sie denken, du wärest tot …“
Er schwieg, dann hob er ihr Kinn an und küsste sie. Kriemhild wollte weiterreden, doch er nahm ihr einfach den Atem. Mit seinem Kuss machte er die schmerzhaften Tage der Trennung ungeschehen. Er machte ihre Abreise ungeschehen, ihre Einsamkeit und selbst den Streit mit ihrer Ma. Eine Träne rann über ihre Wange. Sie wünschte, er würde sie nicht bemerken.
„Kriemhild, du sollst nicht weinen. Ebenso wenig, wie du dir über solche Dinge den Kopf zerbrechen sollst.“ Er wischte sanft mit dem Daumen über ihre Wange. „Es ist wegen deiner Mutter, hab ich recht? Du hast es ihr gesagt.“
„Ja, und sie war schockiert.“
„Es war gut, dass du es ihr gesagt hast.“
„Nein, war es nicht! Am liebsten würde ich alles rückgängig machen und es ihr auf ganz andere, vielleicht auf schonendere Art und Weise beibringen. Kannst du es nicht aus ihrem Kopf löschen und ich versuche es morgen nochmal?“
„Kriemhild!“ Er lachte. „Ich habe dir schon mal gesagt, dass das kein Spiel ist. Egal, wie du es auch verpacken würdest, ich denke, sie wäre immer schockiert. Und das ist auch gut so, denn nur so kann sie es verarbeiten und irgendwann akzeptieren.“
„Und was, wenn sie das nicht tut?“
„Ihr bleibt keine Wahl, genauso wie Tom. Mach dir keine Sorgen, es wird alles gut werden. Und jetzt lass uns bitte über etwas anderes reden. Ich muss mich erst mal umschauen. Hier wohnst du also? Nett.“
„Nett? Was soll das heißen? Wieso hast du mich nicht nach Falmouth geholt? An die Lagune oder an irgendeinen anderen Strand? Ich will nicht in diesem langweiligen Zimmer rumstehen.“
Er lächelte und Kriemhild bekam ganz weiche Knie. „Ich habe dich nicht nach Falmouth geholt, weil ich es dir nicht noch schwerer machen wollte, indem ich mit diesen Orten deine Erinnerungen wecke.“
„Du hättest sie nicht geweckt, Sam, denn sie sind nie eingeschlafen. So wie alles, was ich mit dir erlebt habe. Wie geht es Amy? Habt ihr etwas Neues herausgefunden?“
Ein Schatten legte sich auf seine Züge. „Nein, leider noch nicht. Aber meine Mom und ich arbeiten daran. Übrigens soll dich von Margret grüßen. Ich war heute bei ihr, nachdem Jacob bei uns aufgetaucht ist und nach dir gesucht hat. Der Arme; er versteht nicht, wieso du fort bist.“
Der Gedanke an den wunderbaren Hund ließ Kriemhilds Herz erweichen.
„Oh, mein lieber Jake! Er fehlt mir auch!“
„Aber bestimmt nicht so sehr, wie du mir fehlst“, sagte Sam, bevor er sie erneut küsste.
Sein Herzschlag klang wie die Brandung des Ozeans und seine Lippen waren so salzig wie die See. Kriemhild hatte längst vergessen, dass er nichts weiter als eine Illusion war; hervorgerufen durch die Früchte der blauen Mondmuschel. Doch keine Illusion der Welt war realer als jene.
Am nächsten Morgen erwachte sie gegen neun und stellte schmerzhaft fest, dass sie allein war. Aber was hatte sie anderes erwartet? Kriemhild schloss die Augen und spürte Samuels wärmenden Schatten, der sie noch immer umgab. Er versicherte ihr, dass er tatsächlich dagewesen war. Sie legte ihre Hand auf die Stelle des Bettes, an der er zuvor gelegen hatte und hing dem scheinbar endlosen Traum nach. Sie spürte jeden einzelnen Kuss auf ihrer Haut, der ihren Schmerz über seine Abwesenheit gelindert hatte.
Und plötzlich riss das Gespräch sie aus den Erinnerungen – das Gespräch, das sie am Vortag mit ihrer Ma geführt hatte. Kriemhild öffnete die Augen und setzte sich seufzend auf. Sie band sich die zottligen Haare zurück und wusste, dass sie an der Fortsetzung nicht vorbeikommen würde. Ma war längst nicht fertig, das ahnte sie. Kriemhild lief in die Küche hinunter, wo sie die Kaffeemaschine anstellte. Vielleicht konnte sie ihre Mutter ja irgendwie besänftigen.
„Guten Morgen“, tönte es vom Tisch herüber und sie fuhr zusammen. Diesmal war es wirklich Ma gewesen, die völlig lautlos hereingekommen war. Kriemhild wartete zu recht auf ein Gewitter.
„Hey, Mama … Hast du gut geschlafen?“
„Die Frage erübrigt sich wohl. Ich möchte mit dir reden.“ Die dunklen Augen ließen Kriemhild keine Sekunde lang unbeobachtet.
Sie nickte scheu und bemühte sich, die vergangene Nacht mit Sam für den Moment beiseite zu schieben.
„Weißt du, Kriemhild, das mit dieser Hochzeit …“
„Ja, du hast recht. Ich hätte …“
„Lass mich bitte ausreden“, fuhr Ma dazwischen. „Das gestern war ein großer Schock für mich – ist es noch immer! Ich habe kaum geschlafen. Um ehrlich zu sein, habe ich die ganze Nacht vor Sorge kein Auge zugetan.“
„Das … das tut mir leid, Ma.“
Die Miene ihrer Mutter verfinsterte sich. „Ich verstehe das einfach nicht. Wie kann man denn so mir nichts dir nichts einen wildfremden Menschen heiraten? Ich möchte, dass du mir das erklärst, und ich will wissen, was du dir bei der Sache gedacht hast! Du, und vor allem … Grete! Dass sie erst Vater und jetzt auch noch mir in den Rücken gefallen ist … Aber was sollte ich auch anderes von ihr erwarten?“ „Nein, Ma!“, rief Kriemhild energisch. „Margret und John haben nichts mit der Sache zu tun. Das habe ich dir gestern schon gesagt! Lass die beiden da raus, sie haben genauso reagiert wie du gerade. Es war allein meine Entscheidung – und die von Sam.“ „Hör auf damit!“ Ma schlug wütend auf den Tisch. „Was hast du dir nur dabei gedacht? Du bist wie ein bockiges, kleines Kind! Man heiratet nicht aus irgendeiner Laune heraus! Weißt du überhaupt, was das für ein Schritt ist? Er sollte gut überlegt sein und zwar gründlicher als bloß ein paar Tage oder Wochen. Und wie soll es nun weitergehen? Habt ihr euch darüber auch Gedanken gemacht? Zieht dein Mann etwa hierher? Oder hast du vor, in die Staaten zu gehen?“ Ma zog einen weißen Umschlag hervor, donnerte ihn auf den Tisch und tupfte sich mit ihrem Taschentuch durch die Augen. „Ich nehme mal an, Letzteres? Denn das würde jedenfalls erklären, wieso du diese Unterlagen für ein Auslandsstudium besorgt hast.“
Die Wangen ihrer Mutter glühten, vermutlich vom hohen Blutdruck. Kriemhild seufzte und setzte sich an den Tisch.
„Ma, bitte …“
„Nein! Ich bin noch nicht fertig, Kriemhild. Glaubst du allen Ernstes, man spaziert einfach so von einem Land in ein anderes? Hat Grete dir nichts davon gesagt, wie schwer es ist, auszuwandern? Alles hinter sich zu lassen und von Grund auf neu anzufangen? Sicher, du bist jung. Aber das hier ist deine Heimat. Vielleicht geht es in den ersten Jahren gut. Vielleicht würde es noch besser laufen, wenn du jemanden geheiratet hättest, den du kennen würdest. Ich meine, was kann man schon über einen Menschen in Erfahrung bringen in drei Monaten? Das ist nur eine Momentaufnahme, Kriemhild, weiter nichts!“
„Ich habe genug gehört, okay? Ich weiß sehr wohl was Samuel ist und wie er ist, Ma. Ob du dir das vorstellen kannst, oder nicht. Und woher du diesen Umschlag hast, kann ich mir auch denken. Ich hatte meine Gründe, den letzten Koffer nicht zu öffnen. Hättest du etwas abgewartet, dann hätte ich dir alles erklärt. Und wenn du jetzt fertig bist mit deiner Rede, dann würde ich es sehr gern dabei belassen, denn ändern kannst du ohnehin nichts an der Tatsache, dass ich ihn liebe und dass ich seine Frau bin.“
Sie schwiegen. Ma war wohl zu aufgeregt, um etwas zu sagen. Kriemhild hatte Tränen in den Augen; sie wollte sich nicht mit ihrer Mutter streiten. Langsam ging sie zu ihr hinüber und hockte sich vor sie hin.
„Hey, ich liebe dich doch, Mama“, flüsterte sie. „Und falls du Angst hast, dass ich dich verlassen könnte, so ist es nicht! Wir finden eine Lösung, versprochen. Ich will dich nicht alleinlassen.“eimanHei
Ihre Mutter winkte ab. „Darum geht es mir nicht, Kind. Das wäre nur der übliche Lauf des Lebens. Oder glaubst du, du kannst ewig an meinem Rock hängen?“ Sie nahm Kriemhilds Hände in ihre und schaute zu ihr hinab. „Ich mache mir große Sorgen um dich, Liebes. Ich kenne diesen Samuel nicht mal und du … du hast ihn einfach geheiratet und mir damit die Chance genommen, dir zu ihm zu gratulieren oder dich vor ihm zu warnen. Wer weiß das schon? Es geschehen so schreckliche Dinge in dieser Welt. Wie soll ich wissen, ob ich ihm trauen kann? Du bist mein einziges Kind und ich fühle mich seit Richards Tod doppelt verantwortlich für dich.“
„Das verstehe ich, Ma. Aber hast du mich nicht alles gelehrt, was dich selbst ausmacht? Deine Kriterien sind meine Kriterien, deine Zweifel sind mir in Fleisch und Blut übergegangen. Du solltest mir vertrauen und wissen, dass ich nicht irgendeinen dahergelaufenen Typen heiraten würde. Du wirst die Chance bekommen, Sam kennenzulernen, und dann wirst du beruhigt sein, glaub mir. Ma, er geht nächste Woche nach Harvard. Seine Eltern sind weltbekannt auf ihrem Gebiet. Außerdem kennen die Gilberts ihn. Ruf Tante Margret an und sie wird dir sagen, wie begeistert sie von Samuel sind.“
„Oh, das werde ich, keine Sorge“, sagte sie und zog erneut ihr Taschentuch hervor. „Und ich werde ganz sicher nicht bis Weihnachten abwarten, um ihn kennenzulernen. Du hast doch sicher eine Greencard beantragt? Ich weiß zwar nicht, wie lange sowas dauert, aber sobald sie genehmigt ist, möchte ich mit dir nach Falmouth fliegen. Es ist an der Zeit, ein Hühnchen mit meiner Schwester zu rupfen.“ Kriemhild umarmte sie und ihre Tränen rollten in den Schoß ihrer Mutter.
„Danke, Ma! Ich verspreche dir, du wirst ihn lieben.“
„Und was wird aus deinem Studium in Hamburg?“
„Ich bleibe so lange wie möglich bei dir“, schluchzte Kriemhild. „Vielleicht suche ich mir in der Zwischenzeit einen Job.“