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Kapitel 13
ОглавлениеKriemhild
Sie stand an ihrem Fenster und schaute auf das graue Kopfsteinpflaster der schmalen Sackgasse hinab. Seit etwa zehn Minuten holperte ihr Blick bereits von einem Stein zum nächsten. Kein Strand, keine Dünen, kein Jacob, der die Möwen anbellte. Kein John im grünen Overall mit Rechen in der Hand – kein Samuel.
Kriemhild drehte sich vom Fenster weg, ehe das Fernweh sie noch stärker überkommen konnte und lief im Nachthemd in die Küche hinunter. Ma saß am Tisch und las in der Zeitung. Sie nahm die Lesebrille herunter und lächelte ihr zu.
„Guten Morgen, Schatz. Es ist erst zehn. Ich hatte gedacht, du genießt die erste Nacht in deinem eigenen Bett etwas länger.“
„Nein. Um ehrlich zu sein, habe ich es dort oben nicht mehr ausgehalten. Gibt es Kaffee?“
Ma musterte sie mit sorgenvollem Blick. „Nicht mehr ausgehalten? Was meinst du denn damit?“
„Ach, vor … Hunger! Ich bin ziemlich hungrig und deshalb so früh heruntergekommen.“
„Das trifft sich gut“, sagte Ma. „Ich habe frische Brötchen besorgt. Hast du denn gut geschlafen?“
„Ja, danke. Ich hab sogar mit Brooke telefoniert. Du erinnerst dich? Meine Freundin aus Falmouth.“
Ma legte die Zeitung ineinander. „Das freut mich für dich. Sicher vermisst du die vielen neuen Leute, die du kennengelernt hast.“
„Ja, sehr sogar.“
„Und was ist mit diesem Sam? Du hast gestern auf eine Nachricht von ihm gewartet. Hat er sich gemeldet?“
Sam. Instinktiv glitt Kriemhilds Hand über die Kette, die sich unter dem Nachthemd an ihren Hals schmiegte. Sie hatte keine Ahnung, wie sie es ihrer Mutter sagen sollte …
„Ja, mit ihm habe ich auch telefoniert.“
„Tatsächlich?“
Eines war ihr sonnenklar: Je länger sie das Gespräch führte, desto eher würde ihre Mutter ihrem Geheimnis auf die Schliche kommen. Kriemhild wusste, dass sie Ma auf Dauer nichts vormachen konnte – genau wie Tante Margret. Sie hielt krampfhaft ihr Shirt zusammen und umklammerte die Kette.
„Ich … ähm … wollte schnell Sara anrufen“, sagte sie, um sich herauszureden. „Sie will mit mir nach Hamburg fahren, weißt du? Wegen einer Wohnung.“
Bevor sie verschwinden konnte, hielt Ma sie zurück. „Ist alles in Ordnung mit dir? Du wirkst irgendwie durcheinander. Was hast du denn da, Liebes? Ist das eine Kette?“
Kriemhilds Hand begann zu zittern. Wieso hatte sie sich auch nichts übergezogen? Durch ihr dummes Verhalten hatte sie ihre Mutter erst darauf aufmerksam gemacht.
„Ja, … eine Kette.“
„Sie sieht sehr hübsch aus, darf ich mal sehen?“
Kriemhild ließ die Begutachtung nur widerwillig zu. Ihre Mutter unterzog Perle für Perle einem prüfenden Blick. Kriemhild wusste, dass Ma vor vielen Jahren – lange vor ihrer Heirat – in einem Juweliergeschäft gearbeitet hatte. Zu dumm nur, dass sie nicht mehr daran gedacht hatte. Schließlich zog Ma skeptisch eine Braue hoch.
„Nun, das ist kein Modeschmuck“, sagte sie. „Bist du dir darüber im Klaren, Liebes, dass diese Kette echt ist?“
„Echt? Ähm … ja, ich denke, das ist sie wohl.“ „Das sind Korallen und wertvolle Perlen. Woher hast du sie? Du … du hast sie doch beim Zoll vorgezeigt?“ Bei dem Gedanken wurde Kriemhild ganz schlecht. Zoll?
„Naja, weißt du, Ma, hätte ich das etwa tun müssen?“
„Sag nicht, du hast sie nicht vorgezeigt! Kriemhild!“
„Ma! Ich hatte keine Ahnung! Die Kette war ein Geschenk. Ich habe nicht darüber nachgedacht, dass man sie verzollen muss.“
„Ein Geschenk?“ Das ließ ihre Mutter noch hellhöriger werden. „Etwa von Grete und Onkel John? Der hätte es jedenfalls wissen müssen! Es gibt Korallen, die unter Artenschutz stehen und erst gar nicht in die EU eingeführt werden dürfen. Wer hat sie dir geschenkt? Sie muss ziemlich teuer gewesen sein. Ich werde sofort deine Tante anrufen und sie zur Rede stellen! Wie können die beiden dir ein so teures Geschenk machen?“ „Warte!“ Kriemhild biss sich auf die Lippen. Sie war ungeheuer wütend auf sich selbst, doch das spielte im Moment keine Rolle. „Die Kette … ist nicht von den Gilberts.“ „Was? Wovon redest du? Wer hat sie dir dann geschenkt?“ Kriemhild schwieg. Sie hatte nicht vor, ihrer Ma während des Gespräches von der Hochzeit zu erzählen. Das war unmöglich! Sie musste sich erst darauf vorbereiten. „Kriemhild? Von wem ist diese Kette?“
Sie zuckte mit der Schulter und weigerte sich noch immer.
„Kriemhild!“
„Sam hat sie mir geschenkt“, nuschelte sie.
Ma sank auf ihren Stuhl hinab. In ihrem Blick lag blankes Entsetzen.
„Dieser … Junge hat sie dir geschenkt? Und sowas Kostbares hast du einfach angenommen? Was … was waren denn seine Absichten?“
„Seine Absichten? Komm schon, Ma! Du redest, als würdest du aus dem vorletzten Jahrhundert stammen. Hast du nie etwas von einem Jungen geschenkt bekommen, als du jung warst?“
War sie das überhaupt je gewesen? Jung? So weit Kriemhilds Erinnerungen zurückreichten, war ihre Mutter immer alt gewesen.
„Einen so wertvollen Schmuck hätte ich jedenfalls abgelehnt. Du sagst mir jetzt sofort, was es mit dieser Kette auf sich hat!“
Im selben Moment schellte das Telefon. Kriemhild rannte auf den Flur und nahm das Gespräch entgegen. Dabei sandte sie ihrer Mutter einen erlösten Blick zu. „Oh, Sara! Ich wollte dich auch gerade anrufen – entschuldige, Ma, lass uns nachher weiterreden, okay?“
Die Versetzte grummelte etwas vor sich hin und Kriemhild zog die Tür hinter sich zu. Ihre Stimme flüsterte in die Muschel: „Mann! Du hast mir gerade das Leben gerettet!“
„Echt? Was ist passiert?“ Sara lachte.
„Ma hat mich wegen der Kette ausgefragt. Wusstest du, dass man sie hätte verzollen müssen?“
„Was? Du hast sie hier einfach so rein geschmuggelt? Spinnst du? Mann, du hast echt Nerven, Kriemhild. Ich erkenn dich nicht wieder, so kriminell … Wo hast du denn den braven Engel gelassen?“
„Ist doch jetzt auch egal! Was hätte ich dem Beamten wohl sagen sollen?“
Den Rest dachte sie sich: Entschuldigen Sie bitte, die Kette ist handgeknüpft – von meinen angeheirateten Verwandten, den Meerjungfrauen. „Tja, dein Sam hätte ja euer Datum und seinen Namen in die Korallen eingravieren lassen können“, spottete Sara. „Wer weiß, vielleicht hätten sie dir am Flughafen dann die Nummer mit dem Ehering abgekauft?“ „Sehr witzig! Na, sag schon, was willst du?“
„Rate doch mal! In zehn Minuten bin ich bei dir, wir fahren nach Hamburg. Wenn du die Wohnungen erst gesehen hast, dann wirst du schon mit einziehen. Glaub mir!“