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Kapitel 11

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Kriemhild

Wenig später lag sie in ihrem Bett und ließ den Blick über die vertrauten Schatten ihrer Zimmermöbel huschen. Das alles kam ihr wie ein Traum vor. Sie wollte nicht dort sein. Sicher, zuerst hatte sie sich gefreut, ihre Ma wiederzusehen. Doch mit jeder Minute, die in Samuels Abwesenheit verstrich, wurde es ihr unerträglicher zumute. Ihr Kopf schmerzte. Einmal mehr betäubte ein unsichtbares Brennen ihre Glieder und an Schlaf war nicht zu denken. Ma war sicher längst zu Bett gegangen, es war weit nach Mitternacht.

Sam hatte sich noch immer nicht gemeldet. Ob dort unten alles gutgegangen war?

Kriemhild setzte sich auf und knipste das kleine Licht an. Sie nahm das Telefon und wählte Brookes Nummer. Mit irgendwem musste sie reden, um nicht nachzudenken. Sie wollte sich nicht ausmalen, was in den Tiefen alles passieren konnte. Oder mit dem Marianen und seinen Spionen …

Schon verrückt, aber das Geplapper ihrer neuen Freundin hatte immer etwas Beruhigendes auf sie gehabt. Und genau das erhoffte sie sich von dem Gespräch.

„Hey, Kate! Bist du das wirklich?“, kreischte es an ihr Ohr. „Oh mein Gott! Du lebst! Ich hatte den ganzen Tag über schreckliche Angst gehabt, die News zu hören, weil du dich ja nach der Landung melden wolltest, was du nicht getan hast. Daraus habe ich geschlossen, dass deine Maschine abgestürzt sein muss. Bin ich erleichtert, dass du gut angekommen bist!“

„Hallo, Brooke!“ Kriemhild lächelte. Sie hatte die Melodramatik ihrer Freundin vermisst. „Es geht mir gut – was auch immer das heißen mag. Schön, dich zu hören. Was machst du so? Party am Pier?“

Party? Ha, du wirst nicht glauben, wer hier neben mir steht! Moment, ich reiche mal kurz weiter.“

In der Leitung ertönte ein Rascheln. Kurz darauf meldete sich eine andere altbekannte Stimme zu Wort.

„Hey, Katie, alles easy in Europa?“

„Jason?“

„Ja, ich bin’s. Du hattest wohl Sehnsucht nach mir, daher rufst du an, hab ich recht?“

Sie lachte. Unglaublich! Wie gern wäre sie dort bei ihren Freunden gewesen.

„Natürlich hatte ich Sehnsucht nach dir. Das weißt du doch. Was um alles in der Welt macht ihr da? Hast du dich etwa in meiner Abwesenheit an Brooke geschmissen?“

„Was? Soll das ‘n Scherz sein? Für dich gibt es keinen Ersatz, Katie. Hey, sorry, dass ich mich auf der Abschiedsparty so volllaufen lassen hab. Ich … ich hab mich doch ordentlich von dir verabschiedet, oder?“

„Hm, lass mich mal nachdenken … Meinst du, vor oder nachdem James dich rausgetragen hat?“

Jason schwieg.

„Okay, keine Panik! Natürlich hast du dich verabschiedet – auf deine Art.“

„Dann ist ja gut.“

Es folgte ein Streit in der Telefonleitung, offenbar versuchte Brooke, ihr Handy zurückzuerobern.

„Hey, Süße, ich bin’s wieder – bevor der Kerl dir noch ‘n Knopf ans Ohr labert. Übrigens: Kelly und Joyce sind auch hier. Ach, und James. Wir machen so ‘ne Art Abschiedsrunde. Die Jungs fahren schon übermorgen zurück nach New York. Oh Gott, ich werde vor Einsamkeit sterben! Wie soll ich das nur ohne euch alle aushalten? In der Pension tut sich auch nicht mehr viel. Ach, Kriemhild, bevor ich es vergesse: Ich hab da was Irres erlebt! Das muss ich dir erzählen!“

„Ja? Was denn?“

„Also, pass auf! Ich war mit den Mädels in der Stadt unterwegs. Da seh’ ich doch den schnittigen Wagen von Sams Dad. Er stand da an der Promenade. Wie auch immer, wir – Kelly, Joyce und ich – hatten uns schon die ganze Zeit über gefragt, was dieser superwichtige Weltretter wohl für einen Termin gehabt haben mochte, um die Hochzeit seines Sohnes zu versäumen. Nun, du kennst mich ja. Mein Mundwerk eilte mir einmal mehr voraus, als ich beschloss, ihn einfach drauf anzusprechen. Du hättest sein Gesicht sehen sollen!“

Ein lautes Gackern folgte und alles Blut verließ Kriemhilds Wangen. Das war ein schlechter Witz! Mit zitternden Fingern fuhr sie sich über die Stirn.

„Moment mal … Lass mich das mal eben auf die Reihe bekommen … Du hast was getan?“

„Na, das sagte ich doch! Ich habe Mister Dawson auf die Hochzeit angesprochen. Ob du’s glaubst, oder nicht … Im ersten Moment hat er geschaut, als wüsste er gar nicht, worum es geht! Ha! Ganz anders als mein Dad, wenn du mich fragst! Der würde den schönsten Tag meines Lebens jedenfalls nicht so achtlos linksliegenlassen. Sicher, er kann auch streng sein, was das Arbeiten in der Pension angeht, aber …“ „Brooke, es tut mir leid, aber … aber ich muss Schluss machen. Ich bin auf einmal wahnsinnig müde … Einen netten Abend noch. Ich … ich melde mich wieder! Versprochen!“

Sie beendete das Gespräch und sank benommen in die Kissen. Das durfte nicht wahr sein! Die Quasselstrippe hatte sich verplappert! Kriemhild wurde ganz schlecht. Tom wusste Bescheid. Sie hatte ihm tatsächlich von der Hochzeit erzählt! Vermutlich warf er in dem Moment vor Zorn irgendwelche Unterwasseraufnahmen gegen das Haifischmaul über der Wohnzimmertür. Oder die arme Lynn wurde Opfer eines Tobsuchtanfalls. Kriemhild wollte gar nicht darüber nachdenken und war plötzlich heilfroh, dass sie sehr weit weg war.

Im nächsten Moment griff sie erneut nach dem Telefon. Hoffentlich war es noch nicht zu spät, um Sam zu benachrichtigen …

Wo auch immer du gerade steckst. Bitte ruf mich an, bevor du heimgehst, ganz gleich, wie spät es dann ist. Es gibt da etwas, das du unbedingt wissen solltest. Kriemhild

Eine Zeitlang schaute sie gebannt auf das Display. Er antwortete nicht. Sie dachte ununterbrochen an Tom und malte sich die furchtbarsten Szenarien aus, die sich bei ihnen daheim abspielen könnten. Was, wenn Sam längst zu Hause war? Kriemhilds Augen wurden immer schwerer. Der Schreck hatte sie viel Energie gekostet. Aber sie durfte nicht einschlafen! Noch nicht. Nicht, bevor er sie zurückgerufen hatte.

Irgendwann schrak sie aus einem schrecklichen Albtraum hoch. Eine sich ständig wiederholende Melodie dudelte vor sich hin. Kriemhild brauchte einen Moment, um ihr Handy zu finden. Jemand rief an.

„Hallo?“, fragte sie verschlafen in die Muschel und ordnete ihre Gedanken.

„Hey, ich bin’s, Sam. Tut mir leid … Ich hab dich wohl geweckt, hm?“

Sam? Oh … ich habe … egal.“ Sie blinzelte zur Uhr hinüber. Es war vier Uhr morgens. „Schön, deine Stimme zu hören“, flüsterte sie.

„Aber das ist doch sicher nicht der Grund, wieso ich dich um diese Zeit zurückrufen sollte, oder?“

Mit einem Schlag war sie hellwach. „Oh Shit!“

„Alles in Ordnung bei dir?“

„Sam! Es ist … Etwas Schreckliches ist geschehen!“

„Tatsächlich? Das kommt mir ganz recht. Aller guten Dinge sind drei …“

„Wovon redest du?“

„Nein, Kriemhild. Du zuerst.

„Wo bist du gerade? Etwa zu Hause?“

„Nein, an den Klippen“, sagte er. „Ich war bis eben dort unten. Ich musste einfach mal allein sein. Um ehrlich zu sein, habe ich gar nicht bemerkt, dass es eine ganze Nacht und ein kompletter Tag lang war … aber … Schieß los.“

Irgendwas an dem, was er sagte hatte, ließ sie aufhorchen. Sie konnte nicht einordnen, was daran so merkwürdig klang und sie war zu müde, um dem nachzugehen.

„Gut. Also vorhin war Brooke am Telefon. Sie hat … sie hat Mist gebaut, Sam.“

„Ja, das hört sich nach Brooke an.“

„Nein, diesmal ist es nicht witzig! Sie hat mir erzählt, dass sie Tom getroffen hat. Und sie …“ Kriemhild konnte nicht weiterreden. Es auszusprechen war viel übler, als nur daran zu denken.

„Was hat sie angestellt?“, fragte Sam.

„Sie hat es ihm gesagt. Er weiß es. Tom weiß, dass wir geheiratet haben.“

Am anderen Ende der Leitung blieb es still. Vermutlich fuhr er sich durch die Haare – wie üblich, wenn es schlechte Neuigkeiten gab.

„Oh“, sagte er dann.

„Was? Oh? Mehr hast du dazu nicht zu sagen? Er wird dich umbringen! Oder hat der Mariane eine Idee gehabt, wie wir deinen Dad besänftigen können?“

„Nein, hat er nicht“, sagte Sam. Im Hintergrund kreischten die Lummen. „Olamanassa ist längst abgereist. Ich habe ihn gar nicht erst angetroffen. Hör zu, Kriemhild. Was ist da mit Brooke gewesen? Wieso hat sie es ihm gesagt? Sie hat noch nie mit meinem Dad gesprochen! Was ist denn da bloß in sie gefahren?“ „Tja, im Grunde genommen ist es unsere eigene Schuld. Wir hätten es ihm nicht verheimlichen dürfen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er es erfahren hätte. Brooke hat ihn gefragt, für welch wichtigen Termin er die Hochzeit seines Sohnes verpasst habe … Du weißt ja, wie sie ist. Was hast du jetzt vor? Ihn weiterhin meiden? Ich denke, ihr solltet endlich mal miteinander reden und zwar vernünftig.“

Er lachte. „Vernünftig? Wem sagst du das?“

„Meinst du, es wird sehr schlimm werden?“

„Keine Ahnung. Das wird sich zeigen. Ach, diese dämliche Quasselstrippe!“

„Ja, ich wünschte, ich könnte dir beistehen. Hast du wenigstens gute Nachrichten von Amy erhalten?“

Er schwieg. Kriemhild wusste, dass sein Schweigen nie etwas Gutes verhieß. Das war dann wohl die zweite der drei Sachen, von denen er gesprochen hatte.

„Samuel?“

„Malahan und sie haben die Gewässer Richtung Osten verlassen. Es ist für sie zu gefährlich geworden. Sie lassen sich woanders nieder.“

„Was? Warum das denn? Was hat das zu bedeuten?“

„Ich weiß es nicht“, gestand er mit sorgenvoller Stimme. „Auch das wollte ich den Marianen fragen. Irgendjemand hetzt da unten gegen die Phenoren. In den Augen der Rebellen sind wir Feinde. Amy ist nicht länger Teil ihres Volkes. Vielleicht ist es ganz gut, dass sie vorerst verschwunden ist, bis die Lage sich entspannt.“

„Es tut mir leid, Sam – das mit Amy. Bitte sag mir Bescheid, sobald du etwas Neues erfährst. Und auch, was die Sache mit Tom angeht.“

„Ja, das tu ich. Ach, und danke für die Warnung.“

Das Flüstern der See

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