Читать книгу Delikatessen weltweit: 99 Spezialitäten, die Sie (lieber nicht) probieren sollten - Julia Schoon - Страница 13
10 Artischockenlikör: Die Zunge protestiert, der Magen freut sich
ОглавлениеName: Liquore carciofo
Region: Italien
Verzehr: Pur, auf Eis, als Cocktail
(c) Liza unter CC Lizenz
Fettlöser, Verteiler, Rachenputzer, Absacker. Es gibt viele Kosenamen für den Verdauungsschnaps nach dem Essen. In unserer kollektiven Vorstellung ist es total logisch, nach einer fettigen, schweren Mahlzeit mit Alkohol nachzuspülen. Was beim Hausputz hilft, Fettränder zu beseitigen, sollte doch auch im Magen funktionieren. Gerade die beliebten Obstbrände und klaren Schnäpse tun das aber nicht. Statt das Essen zu verarbeiten, hat der Körper nun erst mal damit zu tun, den Alkohol abzubauen. Es gibt allerdings Ausnahmen – nicht wegen ihrer Umdrehungen, sondern der ätherischen Beigaben: Kräuterliköre zum Beispiel. Und Artischockenlikör.
Wie bitte? Schnaps aus diesem seltsamen Gemüse, von dem kaum einer weiß, wie man es zubereitet, geschweige denn isst? In Deutschland fristet das leckere und gesunde Distelgewächs völlig zu Unrecht ein Schattendasein. Nur bei Menschen, die Gallen- und Verdauungsprobleme haben, sich nach fettem Essen schlaflos im Bett wälzen oder deren Cholesterinspiegel zu hoch ist, gelten sie als Geheimtipp. Allerdings eher in Kapselform als Nahrungsergänzungsmittel. Auch ein großer italienischer Spirituosenhersteller, der seinen Artischocken-Kräuter-Likör schon vor Jahren auf den deutschen Markt brachte, konnte die Schnapsgetreuen nicht zu seiner Wunderwaffe gegen die klassische Kopfleere nach teutonisch-schwerer Mahlzeit bekehren.
Wen wundert’s? Während selbst billiger Obstler oder Grappa zuverlässig eine Schneise bis in den Magen hinunterbrennt (und guter noch feine Aromen mitschickt), macht sich der herbe, bittere Likör unangenehm lange im Mund breit und weckt Erinnerungen an Hustensaft. Bitter, das Stiefkind der Geschmacksfamilie, das die Geschwister Sauer und Scharf und die Lieblingstochter Süß nur ungern mitspielen lassen, hat es nicht leicht bei uns. Da hilft auch nicht der gut gemeinte Rat der italienischen Exporteure, es müsse ja nicht immer la dolce vita sein. Doch, muss es! Das Leben in Deutschland ist auch ohne Artischockengesöff bitter genug! Leider trägt auch das Flaschenetikett, auf dem sich eine jener schuppigen, grün-braunen Kugeln räkelt, weder zum Sexappeal noch zur Coolness des Getränks bei.
In Italien sieht die Sache freilich ganz anders aus. Neben dem Großexporteur gibt es in Norditalien auch traditionsreiche, familienbetriebene Destillerien, die aus den Distelgewächsen Liköre und höherprozentige Spirituosen wie beispielsweise Grappa herstellen. Und wie schrieb eine italienische Frauenzeitschrift so schön? Ein halbes Glas davon, und Sie verdauen selbst Steine. Ein Barkeeper-Team gewann kürzlich sogar einen Cocktail-Wettbewerb der Region Empoli mit ihrer Artischocken-Kreation. Dass sie sich von einem typischen Produkt der Region hatten inspirieren lassen, überzeugte die Jury. Wer Artischocken mag, nur nicht ganz so bitter, kann auch seine eigene Mixtur ansetzen. Man sollte jedoch der Versuchung widerstehen, den Likör zu süß zu machen: Zucker hemmt nämlich wiederum die Verdauung.
Ein Artischocken-Mixgetränk hat es allerdings selbst in Italien nicht sehr weit gebracht – dafür wiederum unter Nachtschwärmern in Deutschland und den USA. Der Funktionsdrink mit dem seltsamen Namen Security Feel Better wirbt damit, Magen und Kopf zuverlässig aufzuräumen. Man kann also ungehemmt bechern und sich auch spät abends den Wanst vollschlagen – wenn man den Drink aus dem praktischen 3-cl-Fläschchen hinterher kippt, fühlt man sich am nächsten Tag wie neu geboren. In Italien wurde sogar damit geworben, der Zaubertrank mache Betrunkene innerhalb kürzester Zeit wieder fahrtauglich. Wenn etwas zu gut klingt, um wahr zu sein, dann ist es das meistens auch.