Читать книгу Delikatessen weltweit: 99 Spezialitäten, die Sie (lieber nicht) probieren sollten - Julia Schoon - Страница 7
4 Marmite: Geteerter Toast zum Frühstück
ОглавлениеName: Marmite, Vegemite
Region: England, Neuseeland, Australien
Verzehr: Auf Toast gestrichen
(c) Jäger des verlorenen Schmatzes
Typischer Anfängerfehler: Beim Frühstück in England, Neuseeland oder Australien nach dem Glas mit dem fröhlichen gelben Etikett greifen und die zähe, schwarzbraune Paste darin allzu üppig aufs Toast schmieren – das hier ist schließlich keine Marmelade und kein Nutella! Und dann auch noch enthusiastisch hineinbeißen, schließlich will man den freundlichen Briten, sympathischen Neuseeländer oder lässigen Australier nicht enttäuschen, der hier gerade seine Kindheitserinnerungen und seinen allerliebsten Frühstücksaufstrich mit einem teilt. Ein bis zwei Sekunden später, wenn der unerwartete, intensive Geschmack nach Brühwürfeln sich auf der Zunge breit macht, rutscht den meisten Marmite-Neulingen das Gesicht aus und nur die Tapfersten schaffen es, den Bissen höflich herunterzuschlucken. Der sympathische Kiwi oder lässige Aussie schaut derweil mitfühlend. Oder prustet los – auch die millionste Live-Wiederholung von »ahnungsloser Tourist probiert Marmite« scheint brüllend komisch zu sein.
Beleidigt ist er hingegen selten, denn an Marmite oder Vegemite scheiden sich schon immer die Geister – sogar unter den eigenen Landsleuten. In England, dem Land des schrägen Humors, in dem der Aufstrich aus Hefeextrakt 1902 erfunden wurde, wird Marmite sogar mit »Love it or hate it«-Kampagnen beworben. Ein Werbeclip zeigt beispielsweise eine Mutter, die beim Stillen genüsslich in ein Marmite-Sandwich beißt, woraufhin das Baby im Strahl kotzt. Dank Youtube verpasst man auch solche Perlen nicht mehr.
Fans schwärmen von der zart-cremigen Konsistenz der Paste und ihrem unvergleichlichen Geschmack (immerhin darin sind sie sich mit den Hassern einig), loben ihren hohen Vitamin-B-Gehalt und ihre Wirksamkeit gegen Kater, ein vor allem in England nicht zu unterschätzender Pluspunkt. Begeistert kaufen die Briten auch Sondereditionen wie etwa Marmite Gold, dem anlässlich der Olympischen Spiele 2012 in London echte Goldflocken untergerührt wurden, oder jene Lippenpomade, die aus einem Joint Venture zwischen Marmite und Vaseline entstand. Noch Fragen?
Wer gerade seinen ersten (und womöglich letzten) Marmite-Happen heruntergewürgt hat, findet den Vergleich mit Schmieröl oder den Kosenamen »tar in the jar« (Teer im Glas) vermutlich passender. Die Hasser-Fraktion weist auch gerne darauf hin, dass es sich um ein Abfallprodukt handelt, denn die Hefe, Grundzutat für den köstlichen Frühstücksaufstrich, bleibt bei der Herstellung von Bier übrig. Für manche ist es auch einfach ein Konzentrat der ältesten Vorurteile, die über die britische Küche in Umlauf sind.
Garantiert tödlich beleidigt sind sowohl Marmite- als auch Vegemite-Liebhaber allerdings, wenn man behauptet, das sei doch beides dasselbe. Gleiches gilt für die jeweiligen Ländereditionen: auch wenn der Aufstrich in England und Neuseeland den gleichen Namen trägt, liegen selbstverständlich Welten zwischen beiden. Der Beweis lässt sich natürlich nie führen: Alle Rezepturen sind streng geheim. Fest steht: Das Original aus dem Mutterland wurde 1910 erst in der einstigen britischen Kolonie Neuseeland kopiert (Kennern zufolge schmeckt es dort süßer) und 1923 dann in Australien auf den Markt gebracht, wo es Vegemite heißt und die Rezeptur viel schwächer sein soll (was natürlich, je nach Standpunkt, auch von Vorteil sein kann). Trotzdem ist letzteres das wohl berühmteste der drei, seit die Men at Work es in ihrem 80er-Jahre-Hit Down Under besangen.
Als die Marmite-Fabrik in Christchurch durch das schwere Erdbeben Anfang 2011 beschädigt wurde und die Produktion monatelang einstellen musste, war den Kiwis trotzdem das Mitleid der Konkurrenz sicher. »Flippt nicht aus«, flehten die neuseeländischen Zeitungen ihre Leser an, während die britische BBC die Marmite-Knappheit schlicht als »Marmageddon« bezeichnete.