Читать книгу Der Tod lauert im Internet - Jutta Pietryga - Страница 18
ОглавлениеKapitel 9 Nele
Hedwig Schumann ist heute früher auf als sonst. Lange schlafen klappt nicht mehr so recht. Sie leide unter der sogenannten senilen Bettflucht, spottet so mancher, wenn sie über ihre Schlaflosigkeit klagt. Das hört sie nicht gern. Als sklerotisch betrachtet sie sich nun wirklich nicht! Alt ja, aber nicht vergreist!
Die letzte Nacht war mal wieder schlimm. Ihre Knochen schmerzten. Sie wusste nicht, wie sie sich hinlegen sollte. Mal zwickte die Hüfte, dann der Arm und manchmal lag ihr Rücken nicht richtig. Seit fast drei Uhr wälzte sie sich von einer Seite auf die andere. Die unerträgliche Hitze im Schlafzimmer tat ein Übriges.
Um 5.30 Uhr beschließt Hedwig, dass es spät genug ist und sie aufstehen darf. Sofort hebt ihr Langhaardackel Lasse den Kopf. Der Hund liegt in seinem Körbchen am Fußende des Bettes. Er springt auf, als hätte er nur darauf gewartet, bis sein Frauchen endlich das Bett verlässt. Als Morgengruß wedelt er freudig mit dem Schwanz. Auch er leidet unter den extremen Temperaturen. Pflichtschuldig krault Hedwig kurz seinen Bauch. Lasse wiept unglücklich, weil sie zu schnell damit aufhört. Aber Hedwig muss erst einem dringenden, morgendlichen Geschäft nachgehen.
Ergeben trottelt der Hund in die Küche. Auffordernd hockt er neben seinen Fressnapf. Wieder enttäuscht ihn sein Frauchen. Hedwig unterzieht sich rasch einer Katzenwäsche. Bewaffnet sich anschließend mit der Hundeleine und schließt die Korridortür auf.
An der Haustür, fällt ihr ein, den Küchenmüll mitzunehmen. Sie versucht, nach Möglichkeit mehrere Sachen gleichzeitig auf einem Gang zu erledigen. Für Ende siebzig ist sie zwar sehr rüstig, jedoch bestrebt, zusätzliche Wege zu vermeiden. Die Knie wollen nicht mehr so, wie sie möchte.
In der einen Hand das Halsband, in der anderen die Mülltüte startet sie einen erneuten Versuch Richtung Wohnungstür. Wieder wird sie aufgehalten. Ihr Blick fällt in den Flurspiegel. Natürlich muss sie hineinschauen. Hmm,hmm, brummelt sie, zieht den Kopf Richtung Kinn. Kritisch begutachtet sie ihren Haarscheitel. Muss dringend nachgefärbt werden! Hedwig färbt ihr Haar stets kastanienbraun, obwohl sie längst in dem Alter ist, grau tragen zu dürfen. Ein letztes Mal schaut sie in den Spiegel, nimmt das zittrige Wackeln des Kopfes zur Kenntnis, ebenfalls ein Ergebnis ihrer Jahre. Schließlich schlappt sie die Treppe hinunter. Lasse immer drei Stufen voraus. Ein penetranter Geruch von Fäulnis, nach Vergammelten lässt Hedwig angewidert die Nase kräuseln und die Mundwinkel herabziehen. Sie schluckt. Aus der Mülltüte riecht es schon sehr unangenehm. Die Haustür ist abgeschlossen. Dies ist nämlich ein ordentliches Haus, wo um 22.00 Uhr die Haustür zugeriegelt wird. Bis 6.00 Uhr soll sie geschlossen sein. Auch das ist stets der Fall. Hedwig Schumann öffnet die Tür des Mülleimers. Dessen Geruch schlägt dem aus ihrer Tüte um ein Vielfaches. Beim Öffnen der Mülltonne muss sie die Hundeleine loslassen. Lasse nutzt die Gunst der Stunde und büxt aus. Ärgerlich ruft sie ihm hinterher. „Lasse, Lasse, komm sofort zurück!“ Tut er natürlich nicht. Ruck zuck verschwindet der Hund hinter den Abfallbehältern. Gleich darauf fängt er an zu knurren, dann bellt er. Das Bellen wird immer lauter, dazwischen winselt er kläglich. Hedwig wird ungeduldig. Sie ärgert sich, weil sie ihn holen muss, ist jedoch beunruhigt als sie sein Winseln hört. „Du verflixter ...“ mehr sagt sie nicht, kann sie nicht sagen. Stocksteif steht sie da. Die Augen aufgerissen, schaut sie auf das, was ihr Hund anbellt. Hedwig fasst nicht, was sie sieht. Ihr Herz rast in der Brust, als will es herausspringen. Sie presst eine Hand dagegen, als wollte sie es hindern, sich selbständig zu machen. Mit Grauen registriert sie, was Lasse so in Aufregung versetzt. In einer großen Blutlache liegt ein junges Mädchen. Hedwig denkt jedenfalls, dass es ein junges Mädchen ist, schließt es aus der Kleidung und den langen Haaren. Das Gesicht ist wegen des Blutes nicht zu erkennen. Sie steht da, starrt auf das viele Blut. Die Hände zu Fäusten geballt zittert jetzt nicht nur ihr Kopf. Sie versucht zu denken, zu überlegen, ist jedoch wie versteinert. Langsam öffnet sich ihr Mund zu einem „O“. Ihre Brust hebt sich und sie tut das Einzige was sie tun kann. Hedwig schreit, schreit und schreit! Sie schreit so lange, bis sich die ersten Fenster öffnen. Wütende Stimmen dringen an ihr Ohr. Aber sie schreit weiter. Bis sie endlich kommen.
Viele Nachbarn stehen um sie herum. Sie hört eine männliche Stimme fragen.
„Hat einer sein Handy dabei? Wir müssen die Polizei rufen.“
Hedwig spürt, wie jemand sie um die Schultern fasst und beiseite zieht. Es ist Frau Krüger, die Nachbarin. Zitternd lehnt Hedwig an der Mauerwand des Hauses. Jemand hat Lasse am Gitter der Pforte festgebunden.
Aus der Ferne hört sie Martinshörner. Ihr schrilles Geräusch wird lauter, kommt näher. Polizeiautos sowie ein Rettungswagen stoppen in der Straße. Ein Nachbar, Herr Wagner, der immer das große Wort führt, wenn es etwas zu regeln gibt, läuft geflissentlich auf den Krankenwagen zu.
Jemand in orangefarbener Kleidung kommt auf sie zu, ein anderer mit einem silbernen Koffer folgt. Die Männer nehmen sie in die Mitte und geleiten sie zum Notarztwagen. Einer spricht mit sanfter Stimme unentwegt auf sie ein. Das soll beruhigend sein, nervt Hedwig jedoch. Sie wundert sich, nach dem schrecklichen Geschehen, das alles so klar wahrzunehmen.
Sie soll sich auf die Trage in dem Krankenwagen legen. Es tut gut, zu liegen. Der eine Mann, der sich als Arzt vorstellt, nimmt ihren Puls, misst den Blutdruck. Anschließend gibt er ihr eine Spritze, die ihr gut tun wird, sagt er. Und das stimmt, wie sie bald merkt, entspannt döst Hedwig weg. Ihr letzter Gedanke gilt Lasse, ob er wohl zu Fressen bekommen hat.