Читать книгу Schneeflöckchen Weißröckchen - K. Spitschka - Страница 8
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Die Wohnung ist verwüstet. Es riecht nach Kotze. Und Pisse. Das Bett ist nass. Ich bin 25 Jahre alt und total kaputt! Ich bedauere mich zutiefst!
HEUL DOCH!
Ich weiß nicht welcher Tag heute ist.
ZUR HÖLLE! Zur Hölle? Ha, ha, ha! Zur Hölle! Lachkrampf … Hustenanfall…
Ich ziehe mein Minigewicht von etwa 45 Kilo hinaus über den Flur in mein Büro. Ein Blick auf meine Füße sagt mir, dass ein Pflegeprogramm dringend nötig wäre. Ein Pflaster auf der Schnittwunde am Oberschenkel wäre auch nicht schlecht! Hier sollte eigentlich ein Kalender liegen? Ich finde ihn neben einem Berg feuchter Kleenex Tücher. 25. Woche! So, so! Aber haben wir die noch? Es muss längst Winter sein, so kalt wie mir ist! Ich könnte einen Blick in meinen Briefkasten werfen! Nachsehen, wo meine Eltern geblieben sind! ….Okay! Mein Gehirn entwickelt einen Plan …
Im Bad finde ich eine schmutzige Jeans. Angezogen ist sie viel zu weit … Aus der Toilette wabert penetranter Gestank von Kot und Kotze. Ich spüle mehrmals und gebe Reiniger hinein. Ein nach Schweiß riechendes T-Shirt krönt mich zum Freak.
Draußen ist es angenehm warm! Ich wanke zum Briefkasten und kämpfe mit plötzlich auftretendem Herzrasen und mit Übelkeit. Mein Kopf ist ein Kreisel! Ich muss ernsthaft krank sein?!
Im Blickwinkel sehe ich, dass mich Frau Horn neugierig beobachtet. „Kommt nichts im Fernsehen?“ krächze ich zu ihr hinüber. Achtung Gehirn: Steuernetzwerk aktivieren, Fuckfinger ausfahren! Zack! Schon ist die Töle in ihrem Haus verschwunden!
Bei meinen Eltern ist alles verriegelt und verrammelt! Scheiße! Wo sind die denn? Der Briefkasten quillt beinahe über! Ich trage den Krempel hinauf in meine Wohnung und komme erneut komisch drauf. Ist das der Blutdruck? In der Küche sieht’s aus, als hätten viele Leute mehrere Tage gefeiert. Ich staune wie viel Geschirr ich besitze! Und alles ist schmutzig! Auf dem Tisch steht eine halbleere Flasche Campari. Ich spüle eine Kaffeetasse aus und gieße mir was davon ein. Das schmeckt beschissen; verdünnt mit Leitungswasser geht aber klar!
Ich checke die Post und finde Werbung ohne Ende. Eine Ansichtskarte kommt zum Vorschein. Wie nett! Die glückliche Familie aus Lilienthal macht Ferien am Gardasee. „Hallo Lisa! Wir sind wieder einmal in unserem Paradies! Und wo bist du? Wir lieben dich! Tina, Peter und die Kids!“ Scheiß Text! Abgeschickt am 9. Juni.
Kontoauszüge. Ein handgeschriebener Zettel: ‚Erbitte dringend Anruf! Gerne auch privat! Werner‘ Magenschmerzen.
Kolik!
Ich kotzte in meine Spüle.
Danach setze ich mich in einen meiner schicken Leopardensessel im Wohnzimmer und stinke vor mich hin. Meine Haare riechen säuerlich. Ich muss mich beruhigen. Versuche langsam zu atmen.
Ein und aus. Ein … und …aus.
Das mache ich so lange, bis ich mich traue das Telefon in die Hand zu nehmen und die Werner anzurufen. Ich wähle die Nummer und warte. Sie meldet sich atemlos und zwitschert laut ihren Namen. Ich bekomme aus dem Stand Migräne. „Hallo, hier ist Lisa. Lisa Bäumel“, flüstere ich in den Hörer. „Lisa! Gott sei Dank melden sie sich. Wie geht es ihnen?“, schreit sie mich an. „Es geht mir besser“, log ich. „Prima! Morgen ist Montag. Sie fangen mit Spätschicht an. 14Uhr bis 21Uhr. Ist das okay für sie? Oder wäre ihnen ein Tagesdienst lieber? Mir wäre allerdings mit einem Spätdienst mehr geholfen!“ AHA! MORGEN IST MONTAG!
„Also, ehrlich gesagt, wollte ich noch zu Hause bleiben. Ich war ziemlich mies drauf. Eine schwere Grippe. Hier sieht‘s furchtbar aus! Ich müsste dringend putzen, Wäsche waschen, einkaufen gehen, ich …“ Was ist denn jetzt? Rege ich mich so auf, dass ich … Mein Kreislauf! Ich rutsche hilflos aus dem Sessel auf den Boden. Schweiß dringt aus all meinen Poren. Meine Haare sind sofort klitschnass. Ich kriege keine Luft.
„Lisa! Jetzt passen sie mal auf. Sie hatten ein Attest für drei Tage. Zwei Tage fehlen sie bereits unentschuldigt! Heute ist Sonntag. Ich kann das für sie rückwirkend geradebiegen. Nur frage ich mich inzwischen, wie es mit ihnen weitergehen soll? Letztes Jahr hatten sie 72 Krankheitstage! Zweiundsiebzig!!! Dieses Jahr sind es bereits 29! Das geht nicht auf Dauer! Ist ihnen das eigentlich klar? Wollen sie ihre Arbeit verlieren? Hören sie, morgen ist der 23. Juni. Übermorgen möchten ihre Kolleginnen und Kollegen wissen, ob ich ihnen ihre gewünschten Urlaubstage genehmigen kann oder nicht. Sie waren mir in der Ferienzeit immer eine verlässliche Stütze! Sind sie das dieses Jahr auch? Irgendwas stimmt mit ihnen nicht! Sie waren doch früher nicht so. Lisa! Was ist passiert? Hallo?
Wissen sie was? Mein Mann spielt heute Golf und ist sicher nicht vor 18Uhr zurück. Sie bringen Kuchen mit, ich mache uns Kaffee und dann reden wir mal wie zwei Freundinnen. Wir kennen uns inzwischen ein paar Jahre und ich schätze sie sehr. Ich vertraue ihnen und sie können mir vertrauen. Lisa? Ich würde mich wirklich freuen, wenn wir mal vernünftig miteinander reden würden. Sie kommen doch?“
Mein Kopf … gleich platzen meine Augen aus ihren Höhlen! Ich drücke auf die ‚Ende‘ Taste. Freundinnen! Ha, ha, ha, ha! Ich lach‘ mich tot!
Wie bin ich nur zu diesem ominösen Attest gekommen? Ich kann schlecht bei meinem Arzt anrufen und fragen ob ich vor kurzem da war. ‚Hallo, hier ist Lisa Bäumel. War ich von ein paar Tagen in ihrer Praxis?‘ Ich bin tatsächlich reif für die Klapse!
Ich knalle meinen Kopf an die Wand. Einmal… Zweimal… Dreimal. Ich hasse mich. ICH HASSE MICH!
Ich spüle drei Valium mit Campari hinunter und lege ein Bettlaken auf die feuchte Matratze. Das Messer lege ich neben mich.
Das Telefon läutet. Der AB ist abgeschaltet. Klingeling. Klingeling. Draußen stimmen die Kirchenglocken mit ein. Hört sich schön an. Bim, bam, bim, bam. Heute ist Sonntag der 22. Juni!