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Fallbeispiel 2: Julius C., Poker in der Spielbank

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»Ich bin ein Held«, das ist der Gedanke, der Julius C. begleitet, als er die Spielbank verlässt. Es ist spät geworden, kaum noch Leute auf den Straßen. Wie lange hatten sie Texas Hold’em im Cash Game Format gespielt? Das mussten gute sieben Stunden gewesen sein. Er hatte heute eigentlich gar nicht die Spielbank betreten wollen, war zuletzt eher im Spiel glücklos gewesen, an fast jedem Tag in der letzten Woche. Viel zu oft dort gewesen, dachte er sich, man durfte das nicht erzwingen wollen, dann klappte das ja nicht mit dem Glück. Aber nach Feierabend und allein in seiner Wohnung hatte er dann die Überzeugung gewonnen, dass ein oder zwei Stündchen am Pokertisch nicht schaden können.

Seine Rechte tastet nach der Geldklammer in der Innentasche seines Sakkos. Prall fühlt sich das an, nach Erfolg fühlt sich das an, denkt er. »Wenn Poker nichts mit Glück zu tun hätte, würde ich jedes Mal gewinnen«, denkt er sich weiter, den Pokerprofi Phil Hellmuth zitierend, ein Held seiner Jugend. Ja, er hätte mehr herausholen können, wären nicht diese Dilettanten am Tisch gewesen. Am Anfang hatten die immer Glück, das war einfach so, das berüchtigte Anfängerglück. Seine Gedanken kreisen um die eine oder andere Hand, die zu seinen Ungunsten ausgefallen war, Ärger macht sich breit, leise, aber hartnäckig Wellen schlagend. Wenn alle vernünftig spielen würden, wie Erwachsene eben, wäre die Ausbeute praller, müsste er sich jetzt nicht ärgern. Der Gedanke treibt ihn um. Er atmet tief durch. Geregnet musste es auch haben, während sie spielten. Gespielt um die hohen Summen, die einigermaßen hohen zumindest, stets begleitet von den aufmerksamen Fragen nach neuen Getränken der Spielbankangestellten, stets auch begleitet von den bewundernden Blicken der Gelegenheitsgäste, die ihre 50 Euro stumpf am Roulette verprassten (das war ja mal wirklich ein Glücksspiel) und die einige begehrliche Blicke auf die High Society der Pokerkunst erhaschen wollten. Ihm gefiel das, diese Bewunderung, gefiel es, wenn er andere ausspielte, völlig unerwartet, ihr Ärger, ihr Neid, ihre Niederlage waren eine Art Zugabe zu dem Geld, das er gewann, das er jetzt seit fast fünf Jahren gewann, seitdem er angefangen hatte, Poker im großen Rahmen zu spielen.

Sein Smartphone vibrierte, eine Textnachricht von einem von seinem Tisch eben, den es heute eher übel erwischt hatte. Natürlich wollte der jetzt noch weiterspielen. Sie hatten eine private Runde organisiert, nach langem Hin- und Her, trafen sich seither im Hinterzimmer eines Clubs hier in der Gegend, der einem anderen Mitspieler gehörte. Heute hatten sie wohl eine ganz anständige Runde dafür zusammen. Egal, denkt er sich, mir reicht das für heute, ich habe ja gewonnen.

Hatte er gewonnen? Schwer zu sagen beim Cash Game. Ein paar andere, vor allem diese Anfänger, hatten ganz gut abgeräumt. War das mehr gewesen als sein Gewinn? Er lief die fast menschenleere Chaussee entlang. Vielleicht würde er noch auf einen Absacker in die Lounge weiter vorne gehen, bevor er nach Hause ging. Er war noch nicht müde, noch viel zu überschwemmt vom Adrenalin des harten Kampfes, den er nun seit Stunden geführt, erfolgreich geführt hatte. Erfolgreich ja, aber sehr erfolgreich, ausreichend erfolgreich, befriedigend erfolgreich? War er ehrlich zu sich selbst, hätte es erfolgreicher laufen können, nein, müssen.

Er wollte sich das Hochgefühl von vorhin nicht kaputt denken, er brauchte Hochgefühle dieser Art so dringend. Im Poker fühlte er sich sicher, überlegen, viel anderes gab es momentan nicht in seinem Leben. Eine Art Durststrecke. Und schon rein pragmatisch gesehen, waren die Geldgewinne inzwischen schlicht nötig. Sein Beruf machte ihn nicht glücklich. Als Bankkaufmann war er bei jeder eigentlich längst fälligen Beförderung bislang stets übergangen worden. Die Vorgesetzten mochten ihn einfach nicht, erkannten nicht sein Talent. Ihr Pech, schon lange strengte er sich nicht mehr auf der Arbeit an. Dienst nach Vorschrift, mehr gestand der denen, die ihn so demütigten, nicht mehr zu.

Er hatte seinen Drink geleert. Was machte er jetzt? Zu Hause wartete niemand mehr auf ihn, seit seiner Trennung vor einigen Jahren. Seine Spielleidenschaft, die hatte sie nie verstanden, sein innig geliebtes Hobby nie akzeptiert; erst hatte es deswegen kleinere Scharmützel gegeben, dann immer mehr offenen Streit, Anfeindungen. Das hatte er nicht länger ertragen können und sich von ihr getrennt. Oder war es umgekehrt gewesen? Er wusste es nicht mehr.

Er sollte jetzt nach Hause gehen, morgen wartete die Arbeit, diese stumpfsinnige Arbeit und es war schon spät. Noch eine Abmahnung wollte er nicht riskieren, allein schon, um seinem missgünstigen Chef die Genugtuung zu versagen. Andererseits, was half es, wenn er sich doch nur im Bett wälzen würde? Das eine oder andere Blatt von vorhin ging ihm nicht aus dem Kopf. Als er Dame Fünf Suited gehalten hatte und schon drei Mitspieler nach seinem Raise direkt ausgestiegen waren, da hätte er mutiger spielen sollen, so wie früher.

Früher, da hatte er nicht diese Blockade im Kopf gehabt, da hatte er mit seinen Kumpels auf den WG-Parties mit ihrem schäbigen Koffer-Pokerset ganz frei von der Leber weg gespielt. Naja, damals war der Hauptgewinn so maximal 20 Euro gewesen, ein Witz, wenn man bedachte, dass er mittlerweile um 150 Euro spielte – pro Runde, versteht sich. Ein teures Hobby, zugegeben. Und es gab Monate, da musste er wirklich zusehen, wie er über die Runden kam. Rechnungen bezahlen, das ging immer vor, da kannte er nichts, Schulden machen wegen unbezahlter Rechnungen, das ging gar nicht. Dann sparte er lieber am Essen, man konnte sich da durchaus reduzieren und Geld einsparen. Man wollte ja nicht enden wie einer dieser armen Teufel, denen man am Tisch schon von weitem die nackte Panik ansah, die ihnen im Nacken saß. Typen, die komplett abgerutscht waren, Job weg, Frau weg, Ersparnisse weg, Selbstachtung weg. Nicht mit ihm.

Noch ein Blick auf die Uhr, das ging ja eigentlich noch, noch gar nicht so spät. Nochmal der Griff zur Geldklammer im Sakko, das hätte schon mehr sein können, fühlte sich irgendwie dünn an. Noch ein Gedanke an die Nachricht von vorhin. Noch ein Gedanke an die Leere des Abends. Noch ein Gedanke an die Langeweile morgen. Man könnte sein Glück heute ja noch einmal versuchen, nur kurz, nur für ein oder zwei Stündchen.

Glücksspielstörung

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