Читать книгу Antinatalismus - Karim Akerma - Страница 133
ОглавлениеBionomischer Satz
Bionomische Sätze sind Formulierungen, die unser vorbewusstes, willens- und freiheitsfernes Weiterleben thematisieren. Sie beleuchten schlagend, warum wir auf Fragen wie „Sind Sie froh, dass Sie geboren wurden?“ mit pronatalistisch verzerrten Antworten zu rechnen haben. Aus ihnen erhellt auch, warum es zynisch ist, einem Daseinsverweigerer die Empfehlung zu geben: „Entleiben sie sich doch!“ (Suizidzynismus):
Gandhi (1869–1948)
„Our body itself is so made that it makes us work for it, even if we are unwilling.“ (GW Bd. 37, S. 329)
Valéry, Paul (1871–1945)
„Der Mensch ist ans Kreuz seines Körpers geschlagen. Sein schmerzgebeugtes Haupt ist von tiefen Dornen seiner Gedanken durchbohrt.“ (Schlimme Gedanken und andere, S. 173. Fund: GK)
Frisch, Gandhis Grundsatz
Bloch, Ernst (1885–1977)
„Keiner lebt, weil er das will. Aber nachdem er lebt, muss er es wollen.“ (Naturrecht und menschliche Würde, S. 15) Um denkbaren Missverständnissen vorzubeugen, präzisieren wir: Niemand wollte zu leben beginnen; lebt man einmal, drängen einen Bios und Psyche zum Weiterleben – ob man will oder nicht.
Blochs bionomischer Satz beleuchtet schlagend, warum wir auf Fragen wie „Sind Sie froh, dass Sie geboren wurden?“ mit verzerrten Antworten zu rechnen haben.
Angefochten wird der bionomische Satz etwa durch Überlegungen Hans Saners, für den in einem angeblichen geburtsgegebenen Anfangen-Können die Möglichkeit der Freiheit liegt (vgl. Saner, Geburt und Phantasie, S. 31). Saner verkennt die von Bloch bezeichneten freiheitsnegierenden Ansprüche des Organismus.
Niemand möchte hier sein und niemand möchte aufhören zu sein. Bionomischer Dialog (McCarthy, *1933)
In seinem Roman „The Road“ beleuchtet McCarthy den bionomischen Grundsatz auf eine an Beckett erinnernde Art dialogisch: Man möchte vielleicht nicht existieren. In diesem Fall aber möchte man das Sterben bereits hinter sich haben, nicht vor sich. Das Dilemma besteht hier darin, dass man einerseits nicht (fort)existieren möchte, zugleich aber Angst vor dem Ende hat:
“Do you wish you would die?
No. But I might wish I had died. When you’re alive you’ve always got that ahead of you.
Or you might wish you’d never been born.
Well. Beggars cant be choosers.
You think that would be asking too much.
What’s done is done. Anyway, it’s foolish to ask for luxuries in times like these.
I guess so.
Nobody wants to be here and nobody wants to leave.” (Cormac McCarthy, The Road, S. 169)
Es scheint ein nativistisches Patt vorzuliegen, das Antinatalisten wie Pronatalisten gleichermaßen bedient: Jemand der nicht existieren möchte, fürchtet sich doch vor dem sei es suizidalen sei es krankheitsbedingten Ende seiner Existenz. Aber das nativistische Patt löst sich in dem Maße auf, in dem der Existenzbeginn der bionom daseinsverhafteten Person eine freie Entscheidung von – antinatalistischen aufgeklärten – Eltern war, die nicht davor zurückschreckten ein eigenes Kind in existentielle Grenzsituationen zu stellen.
Walsers Auflösung des bionomischen Satzes
Dass aus unseren gern vom Pronatalismus geltend gemachten Fortlebenswünschen niemals nur die Vernunft spricht, sondern immer auch die biopsychische Schicht unseres Daseins, hat Martin Walser schön in Worte gekleidet:
„Man kann sich umbringen wie ein Diener einen unerträglichen Herrn.“ (Martin Walser, Meßmers Gedanken, S. 75) Wer ist hier wessen Diener? Offenbar ist in diesem Bild der Geist unfreiwilliger Diener des Organismus und der vorrationalen Psyche, deren Ansprüchen nur durch eine Revolte, einen Tyrannenmord zu entkommen ist. Das interessante Bild unterstellt den Organismus und die Psyche als heimliche Herren eines nur scheinsouveränen Geistes und evoziert Folgesätze wie: Ich existiere nur noch im Schlepptau meines Körpers und bin – in Anlehnung an Freud – nicht Herr im eigenen Haus.