Читать книгу Antinatalismus - Karim Akerma - Страница 149
ОглавлениеCazalis, Henri (1840–1909)
Sowohl ein an Cazalis geschulter Camus als auch ein mit Cazalis‘ „Livre du néant“ vertrauter Cioran wären im Hinblick auf die Notwendigkeit einer metaphysischen Revolte eines jeden Sisyphus‘ vielleicht zu radikaleren Formulierungen gelangt.
Sisyphus‘ Revolte als das Verebben der Menschheit nach Paradisentzug
In der Diagnose Cazalis’ bleibt nach dem Einsturz der paradiesischen Entschädigungsanstalten, nach dem Fall des religiösen Schleiers, nur das Verebben der Menschheit, sofern der moderne Mensch nicht als Sisyphusist sein Dasein fristen und weitergeben will: „Zweifellos wird der Tag kommen, da der Mensch sich nicht länger fortpflanzen will. Wozu auch? Um die Dauer dieser höllischen Komödie zu verlängern, um diese Sisyphus-Arbeit auf ewig weiterzuführen, um immerfort in diesem Schmutz und im Nichts zu wühlen? Einst hatte man Gott und die Hoffnung auf ein lichterfülltes Dasein nach dem Tode. Die moderne Naturwissenschaft zeigt uns indes, dass wir nichts anderes als Tiere unter Tieren sind – mit ganz tierischen Leidenschaften, die wir mit brillanten Lügen zu schmücken pflegen; unsere Geistesblitze sind nichts weiter als Neurosen; unsere Propheten sind Wahnsinnige und unsere Religionen sind nichts als Phantasiegebilde, die unserem erbärmlichen Hirn entsprungen sind. Die alten Schleier sind gelüftet. Am Ende steht nur das schändliche Grab, der namenlose Tod… Und da soll es noch Leute geben, die in aller Seelenruhe essen, trinken, schlafen und sich fortpflanzen!“{39}
Paradiese als Entschädigungsanstalten, Sisyphusmotiv
Daseinsfolter
Wer mit Cazalis genau hinschaut, erkennt, dass die Folter allerorten fortdauert, obgleich sie offiziell abgeschafft sein mag. Im Zuge der Fortpflanzung wird Leid zwar nicht gezielt zugefügt (der Tatbestand eigentlicher Folter), aber Torturen werden billigend als Konsequenz aller Fortzeugung in Kauf genommen und gern mit der Bemerkung abgetan, da müsse jeder durch. Cazalis nennt beim Namen, wo jeder „durch“ muss:
„Die Folter, die wir doch abgeschafft haben, ist nach wie vor in kraft. Männer, Frauen, Kinder, ob schuldig oder unschuldig: Bevor sie dem Nichts überantwortet werden, liefert die Folter sie ihren Knechten aus. Je nach Lust und Laune sticht sie dem einen ein Loch ins Auge, anderen nagt sie am lebendigen Fleische, zehrt an den Knochen, frisst sich durch den Schädel, Tag und Nacht, über Wochen, Monate und Jahre hinweg; den Einen macht sie wahnsinnig, verheert sein Denkvermögen und überlässt ihm das Gelächter des Wahnsinnigen; einen Anderen wiederum liefert sie lebendig den Würmern zum Fraß aus.“{40}
Auch wenn Cazalis an dieser Stelle die Daseinsfolter ausbuchstabiert, wird die elterliche Instanz nicht beim Namen genannt, die alle Menschen dem nach mancherlei Spielarten vorgehenden Henker ausliefert.